Herbert Masslau

Alg II – neue Qualität im Bestrafungssystem

(13. September 2004)

 

 

Schon die „alten“ Sozialgesetze kannten die Bestrafung von Sozialleistungsempfängerinnen und -empfängern bei unbotmäßigem Verhalten. Mit dem SGB II wird aber eine neue Qualität eingezogen. Erstmals wird der Willkür gesetzlich Vorschub geleistet, der Rechtsstaat quasi ausgehebelt.

Während im SGB III die strafauslösenden Tatbestände einigermaßen genau und abschließend beschrieben sind, während im BSHG Detailfragen zur „Arbeitsverweigerung“ gerichtlich geklärt sind, etwa die Strittigkeit zwischen Betroffenen und Behörden über die monatliche Anzahl von Bewerbungen, so öffnet beim SGB II die vorrangige Bestimmung, daß die Sanktionen insbesondere bei der Weigerung, die nach § 15 SGB II vorgesehene „Eingliederungsvereinbarung“ abzuschließen, greifen, der Willkür Tür und Tor. Angesichts der völlig ungenauen inhaltlichen Bestimmungen des § 15 SGB II zur „Eingliederungsvereinbarung“ tritt an die Stelle des Gesetzes die Willkür des „Fallmanagers“ der Arbeitsagentur. Hinzu kommt, daß die Bestrafung gemäß § 31 SGB II eintritt, obwohl die nicht freiwillig zu Stande gekommene „Eingliederungsvereinbarung“ als Verwaltungsakt gegen den Willen des oder der Hilfebedürftigen erlassen werden kann (§ 15 Abs. 1 SGB II).

An dieser Stelle wird deutlich, daß es um die reine Bestrafung der Arbeitslosen geht, die es wagen, sich einer freiwilligen Verschlechterung ihrer Rechtslage zu entziehen. Nicht der mündige Bürger, der den Staat verklagt, sondern der Untertan, der die Gnade des Herrn oder dessen Peitsche ohne Murren in Empfang nimmt, ist gefordert.

Es ist bezeichnend für den momentanen Zustand unserer Gesellschaft, daß an die Stelle des Sozialstaates, der die Menschen (über)leben läßt, zunehmend der reine Machtstaat tritt, der im Sinne der herrschenden Interessen (Kapital) die Lebensbedingungen wieder in Richtung Manchester-Kapitalismus und Polizeistaat des 19. Jahrhunderts zurückschraubt, wenn auch auf einem gesamtgesellschaftlich höheren ökonomischen Niveau.

Der anschließende Vergleich, gezogen hinsichtlich der Bestrafung nach dem SGB III, dem BSHG (Sozialhilfe alt), dem SGB XII (Sozialhilfe neu) und dem SGB II (Arbeitslosengeld II), soll diese neue Qualität verdeutlichen.

 

SGB III

Das SGB III, welches bis zum 31. Dezember 2004 für die Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe, ab dem 1. Januar 2005 für die Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld I gilt, kennt zwei unterschiedliche Bestrafungsarten für unbotmäßiges Verhalten: § 144 SGB III (Sperrzeitregelung) und § 145 SGB III (Säumniszeitregelung). Die Säumniszeit soll uns im Weiteren nur insoweit interessieren als sie vom Inhalt her in anderen Gesetzen Parallelen findet.

§ 144 SGB III ermöglicht das Aussprechen einer Sperrzeit, während der der Leistungsbezug vollends entfällt. Die Sperrzeit wird ausgesprochen wegen 1. Arbeitsaufgabe, 2. Ablehnung eines Arbeitsangebots, 3. Ablehnung einer Eingliederungsmaßnahme (Ausbildung, Weiterbildung, Training etc.), 4. Abbruch einer Eingliederungsmaßnahme. Die Regelsperrzeit beträgt 12 Wochen, reduziert sich auf 6 bzw. 3 Wochen in Abhängigkeit von der Dauer der Eingliederungsmaßnahme bzw. des Arbeitsverhältnisses, wenn diese sonst innerhalb der Sperrzeit enden würden.

Dabei hat es ebenfalls mit „Hartz I“ zum 1. Januar 2003 einen Wandel im Bestrafungssystem gegeben, nämlich hinsichtlich der Härtefallregelung im Rahmen des § 144 SGB III.

„Härte“ im Rahmen des SGB III meinte ohnehin nie Härte im sozialen Sinne, etwa weil Kinder mitbetroffen wären. Gleichwohl ist mit der Änderung „Hartz I“ (hier: BGBl. I, Nr. 87, 30.12.2003, S. 4612/4613, Nr. 20 zu § 144 SGB III) die zeitliche Differenzierung der Sperrzeit-Strafe aus Gründen von „Härte“ verdrängt worden zu Gunsten der schon beschriebenen formalen Differenzierung (12/6/3 Wochen), die sich ausschließlich an der Dauer der Arbeit/Eingliederungsmaßnahme orientiert.

§ 145 SGB III regelt dann noch das Aussprechen einer Säumniszeit, in der Regel 2 Wochen, bei Meldeversäumnissen, insbesondere auch hinsichtlich ärztlicher Untersuchungen (allgemeine Meldepflicht nach § 309 SGB III).

Bei den Sanktionen im Rahmen des SGB III handelt es sich eindeutig um ein Bestrafungssystem, weil zum Teil die Verhaltensweisen der Betroffenen irreversibel sind (Arbeitsplatzaufgabe) und kein Abbruch der Sanktionen bei nachträglichem Wohlverhalten der Betroffenen vorgesehen ist.

 

BSHG

Auch das bis zum 31. Dezember 2004 geltende alte Sozialhilferecht (BSHG) kennt Zwangsmittel bei Arbeitsverweigerung. Diese reichen von der Verweigerung eine konkrete Arbeitsstelle anzunehmen bis hin zur Verweigerung Bewerbungen zu schreiben. Auf einzelne Details und die hierzu ergangene Rechtsprechung soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden, weil es für die Intention dieses Artikels ohne Belang ist, beispielsweise wie viele Bewerbungen im Monat zumutbar sind.

Die Sanktionen des BSHG finden sich in dessen § 25. Weigern sich Betroffene eine zumutbare Arbeit, eine Arbeitsgelegenheit oder gemeinnützige Arbeit gemäß § 19 BSHG oder diesbezügliche Hinführungsmaßnahmen nach §§ 19, 20 BSHG anzunehmen, so greift § 25 BSHG als Zwangsmittel.

Dabei soll in einem ersten Schritt der Regelsatz um 25 Prozent (sogenannter sozio-kultureller Anteil) gekürzt werden. Auf das „Unerläßliche“ soll gekürzt werden, wenn 1. der oder die Betroffene der eigenen Verarmung willentlich Vorschub geleistet hat, 2. wegen unwirtschaftlichen Verhaltens, 3. (bis zu 12 Wochen) bei den von Sperrzeiten gemäß § 144 SGB III Betroffenen. Durch die Sanktionen mitbetroffene Haushaltsmitglieder, insbesondere Kinder und Ehegatten, sollen von den Sanktionen, genauer: deren Auswirkungen, weitestgehend verschont bleiben (§ 25 Abs. 3 BSHG).

Es gibt keine zeitliche Begrenzung für die Sanktionen, sie sollten aber im Hinblick auf die Regelung für von Sperrzeiten nach § 144 SGB III Betroffene (§ 25 Abs. 2 Nr. 3 BSHG) entsprechend auf 3 Monate begrenzt sein. Zwar gibt es auch Fälle völliger Leistungseinstellung, allerdings tendiert die Rechtsprechung dagegen. Auch können die Sanktionen mehrfach (zeitlich) hinter einander ausgesprochen werden. Führen die Sanktionen nicht zum Erfolg (Verhaltensänderung), muß die Sozialhilfe wieder in vollem Umfang einsetzen, da die Norm aufgrund der Bestimmung der Sozialhilfe als Hilfe zur Selbsthilfe (§ 1 BSHG) eine Hilfefunktion und keine Straffunktion hat, mithin ein Zwangsmittel und kein Mittel zur Bestrafung ist. Gleichwohl ist die Trennung zwischen Hilfe und Strafe nicht wirklich gegeben. Allerdings sind die Sanktionen sofort einzustellen, sobald der oder die Betroffene sein oder ihr Verhalten ändert. Hiervon ausgenommen kann eigentlich nur die willentliche Verarmung durch Vermögensverschwendung sein, aber auch dies führt nicht zur andauernden Versagung der Sozialhilfe.

Weil die Sanktionen des BSHG, bis auf den Fall der willentlichen Verarmung, in Abhängigkeit zum Verhalten der Betroffenen stehen und die Betroffenen durch entsprechendes (Wohl-)Verhalten die Sanktionen stoppen können, kann hier im Gegensatz zum SGB III nicht von einem reinen Bestrafungssystem gesprochen werden, sondern muß von einem Zwangsmittel gesprochen werden.

 

SGB XII

Das ab 1. Januar 2005 geltende neue Sozialhilferecht verfügt mit § 26 Abs. 1 SGB XII über eine Resteregelung hinsichtlich Sanktionen. Da „arbeitsfähige“ Sozialhilfe beziehende Personen dem SGB II unterliegen, entfallen mithin die Sanktionsregelungen hinsichtlich der Arbeitsverweigerung, so daß sich aus dem § 25 BSHG hier nur noch die Regelungen des Absatzes 2 wiederfinden, soweit es um willentliche Verarmung oder um unwirtschaftliches Verhalten geht. Der bis 31. Dezember 2004 gültige § 25 Abs. 2 BSHG hinsichtlich mitbetroffener Haushaltsmitglieder (s.o.) findet sich hier ebenfalls wieder.

Wie in § 25 Abs. 2 BSHG soll die Leistung in den genannten Fällen auf das „Unerläßliche“ reduziert werden. Auch hier ist keine zeitliche Befristung vorgesehen. Allerdings dürfte die ab 1. Januar 2005 auch für das Sozialhilferecht zuständige Sozialgerichtsbarkeit die bisher von der Verwaltungsgerichtsbarkeit hierzu entwickelte Rechtsprechung übernehmen.

Beim SGB XII dürfte durch Übernahme der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung durch die zuständige Sozialgerichtsbarkeit der Sanktionscharakter wie schon beim BSHG nicht reiner Strafcharakter sein, allerdings mit einer Verschiebung Richtung Bestrafung, weil aufgrund des Restcharakters des § 26 Abs. 1 SGB XII dieser nur noch die Sanktionierung von willentlicher Verarmung und unwirtschaftlichem Verhalten kennt, wobei hinsichtlich der willentlichen Verarmung der Sanktionscharakter zwangsläufig wegen der Irreversibilität der Vermögensverschwendung Strafcharakter hat, während der Zwangsmittel bewehrte Hilfscharakter nur noch bei unwirtschaftlichem Verhalten gegeben ist, weil nur dies noch durch das individuelle Verhalten der Betroffenen geändert werden kann. Dabei gehe ich, wie gesagt, davon aus, daß die Gerichte einer dauerhaften Kürzung auf das „Unerläßliche“ als Bestrafungsmaßnahme einen Riegel vorschieben werden.

 

SGB II

Das SGB II regelt für die „arbeitsfähigen“ Hilfebedürftigen und die mit ihnen in „Bedarfsgemeinschaft“ lebenden Abhängigen in den §§ 31, 32 SGB II die Absenkung und den Wegfall der Leistungen. Dabei ergibt sich so etwas wie eine Kombination aus der Bestrafung des § 144 SGB III und den Zwangsmitteln des § 25 BSHG.

(Abs. 1) Unter Wegfall des befristeten Zuschlags nach Alg-Bezug (§ 24 SGB II) Kürzung der Regelleistung um 30 Prozent in einem ersten Schritt bei 1. Ablehnung einer Eingliederungsvereinbarung [! obwohl diese gemäß § 15 Abs. 1 SGB II in einem solchen Fall als Verwaltungsakt erlassen werden kann], 2. mangelnden Eigenbemühungen, 3. Ablehnung oder Abbruch einer Arbeit, Ausbildung, Arbeitsgelegenheit, 4. Ablehnung einer gemeinnützigen Arbeitsgelegenheit und 5. Abbruch einer Eingliederungsmaßnahme.

(Abs. 2) Unter Wegfall des befristeten Zuschlags nach Alg-Bezug (§ 24 SGB II) Kürzung um 10 Prozent bei Meldeversäumnissen, insbesondere hinsichtlich ärztlicher Untersuchungen.

(Abs. 3) In Wiederholungsfällen Kürzung um jeweils weitere 30 Prozent bzw. 10 Prozent, theoretisch bis auf Null, unter Einbezug des Mehrbedarfszuschlags (§ 21 SGB II), der Kosten für Unterkunft und Heizung (§ 22 SGB II) und der Einmalleistungen (§ 23 SGB II). Es können Sachleistungen erbracht werden, bei Familien müssen diese erbracht werden.

(Abs. 4) Die Sanktionen gelten auch in Fällen willentlicher Verarmung, unwirtschaftlichen Verhaltens und bei Sperrzeiten gemäß SGB III (Überleitung bei Alg I - Empfängern).

(Abs. 5) Bei 15- bis 24-Jährigen wird unter den Voraussetzungen der Absätze 1 bis 4 das Arbeitslosengeld II auf die Leistungen nach § 22 SGB II (Unterkunft und Heizung) beschränkt, wobei die Miete direkt an den Vermieter bzw. die Energiekosten direkt an die Versorgungsunternehmen gezahlt werden. Sachleistungen nach Absatz 3 sind an den Hilfebedürftigen zu erbringen.

(Abs. 6) „Absenkung und Wegfall dauern drei Monate. Während der Absenkung oder des Wegfalls der Leistung besteht kein Anspruch auf ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt nach den Vorschriften des Zwölften Buches.“

§ 32 SGB II überträgt die Absätze 1, 2, 3 und 6 von § 31 SGB II in Fällen der Meldepflichtversäumnis oder willentlicher Verarmung oder des unwirtschaftlichen Verhaltens auch auf die Empfängerinnen und Empfänger von Sozialgeld (§ 28 SGB II).

Obwohl vom Rechtscharakter her Sozialhilfe [*], erfolgen die Sanktionen zwar nicht unbefristet, aber die Sanktionen enden nicht mit der botmäßigen Verhaltensänderung der Leistungsbezieher. Da dem die Notlage der Betroffenen gegenüber steht, geht es hier nicht mehr um ein Zwangsmittel, sondern um ein Strafmittel. Dies umso mehr als § 31 Abs. 1 Nr. 1a SGB II die Sanktionen schon in Gang setzt, wenn die Betroffenen sich weigern, die „Eingliederungsvereinbarung“ nach § 15 SGB II abzuschließen, obwohl diese nach § 15 Abs. 1 SGB II hinsichtlich der Pflichten des oder der Hilfebedürftigen auch als Verwaltungsakt seitens der Arbeitsagentur erlassen werden kann. Da § 15 SGB II derart unbestimmt ist, was die inhaltliche Konkretisierung der Pflichten des oder der Hilfebedürftigen anlangt, gibt es einen guten Rechtsgrund für die Betroffenen, sich nicht freiwillig durch einen Vertrag die eigenen Rechte zu beschneiden. Da eine „Eingliederungsvereinbarung“ zudem bei Weigerung als Verwaltungsakt erlassen werden kann, besteht überhaupt keine rechtliche Notwendigkeit, schon die verweigerte Unterschrift als Grund für das Inkrafttreten von Sanktionen zu nehmen – es sei denn der Herr will die Peitsche knallen lassen. Und genau dies ist die neue Qualität: Bestrafung um jeden Preis und Willkür bei der die Bestrafung auslösenden Tatbestände.

Da die Regelung des § 31 Abs. 1 Nr. 1a SGB II in jedem Fall zu Sanktionen führt, ist eine echte Vertragsfreiheit auch trotz der Alternative Verwaltungsakt nicht gegeben. Der oder die Hilfebedürftige würde einen Vertrag, der nach bürgerlichem Recht den freien Willen der Vertragsparteien voraussetzt, mit der Pistole auf der Brust unterzeichnen. Damit wäre ein solcher Vertrag entsprechend § 138 Abs. 2 BGB sittenwidrig und damit nichtig.

 

 

[*] Erklärend sei angefügt, daß es juristisch nicht auf die Bezeichnung, sondern auf den Regelungsgehalt einer Rechtsnorm ankommt. So ist denn auch das Arbeitslosengeld II, welches vom Namen her wie die frühere Arbeitslosenhilfe einen Bezug zur Sozialleistung wegen Arbeitslosigkeit suggeriert, vom Regelungstatbestand her Sozialhilfe, weil es sich nicht wie die am 31. Dezember 2004 auslaufende Arbeitslosenhilfe an früherem Arbeitseinkommen orientiert, also keine Lohnersatzleistung ist, sondern absolut nachrangig ist und sich mit der weiterhin Sozialhilfe genannten Sozialhilfe gesetzlich gegenseitig ausschließt (§ 5 Abs. 2 SGB II; § 21 SGB XII). Statt Arbeitslosengeld I, Arbeitslosengeld II und Sozialhilfe müßte es juristisch korrekt Arbeitslosengeld (SGB III), Sozialhilfe I (SGB II) und Sozialhilfe II (SGB XII) heißen.

 

 

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