Bundesverfassungsgericht zu
Unterkunftskosten in Eilverfahren
Räumungsklage keine Voraussetzung für Anordnungsgrund
(26. August 2017)
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat am 1. August 2017
entschieden, daß die Versagung der vorläufigen Leistung für Kosten der
Unterkunft (KdU) in einem Eilrechtsverfahren (§ 86b SGG) gegen Artikel 19
Absatz 4 Grundgesetz (GG) verstößt [1]. „Die Beurteilung des
Anordnungsgrundes darf nicht schematisch erfolgen.“ [2] „Relevante
Nachteile können nicht nur in einer Wohnungs- beziehungsweise Obdachlosigkeit
liegen (…). … § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II gibt vielmehr die Übernahme der
‚angemessenen’ Kosten vor und dient im Zusammenwirken mit anderen Leistungen
dazu, über die Verhinderung der bloßen Obdachlosigkeit hinaus das
Existenzminimum sicherzustellen (…). … Daher ist bei der Prüfung, ob ein
Anordnungsgrund für den Eilrechtsschutz vorliegt, im Rahmen der wertenden
Betrachtung zu berücksichtigen, welche negativen Folgen finanzieller, sozialer,
gesundheitlicher oder sonstiger Art ein Verlust gerade der konkreten Wohnung
für die Betroffenen hätte.“ [3]
Bei einem Eilrechtsverfahren gemäß § 86b SGG muß durch den
Antragsteller bzw. die Antragstellerin ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund
dargelegt werden. Der Anordnungsanspruch umfaßt dabei den Rechtsanspruch
auf eine Leistung, was hinsichtlich der hier relevanten KdU für
Leistungsbezieher bzw. -bezieherinnen nach dem SGB II – gilt auch für SGB XII und
AsylbLG – als gegeben unterstellt werden kann. Weiterhin bedarf es eines Anordnungsgrundes,
d.h. der Eilbedürftigkeit, also dem Zuspruch der Leistung noch vor der
Entscheidung im Hauptverfahren. Dieser Anordnungsgrund darf eigentlich
nur versagt werden, wenn z.B. durch Schonvermögen der Bedarf vorläufig
gesichert werden kann.
Nun ist, zumindest ab dem Jahr 2012, das Landessozialgericht
Nordrhein-Westfalen (LSG NRW) bundesweit vorgesprescht mit der
„Rechtsauffassung“, Eilbedürftigkeit und damit ein Anordnungsgrund läge
erst bei direkt drohender Obdachlosigkeit durch eine fristlose Kündigung und Räumungsklage
des Vermieters vor.
Dem hatten sich ursprünglich alle „Hartz IV“-Senate des LSG
NRW angeschlossen, woraufhin auch andere Sozialgerichte, wie im Falle des
Autors das SG Hildesheim, anfingen, diese menschenverachtende Rechtsprechung zu
übernehmen.
Zur „Ehrenrettung“ des 7. Senats des LSG NRW, dessen
Entscheidung der jetzigen BVerfG-Entscheidung zugrunde lag, muß allerdings
gesagt werden, daß der 7. Senat des LSG NRW schon 2015 dem 6. Senat des LSG NRW
gefolgt ist und im Gegensatz zu den anderen Senaten des LSG NRW seine bisherige
Rechtsauffassung revidiert hat.
Schon 2013 hatte der 16. Senat des Bayerischen LSG
entschieden:
„Es ist den
Betroffenen regelmäßig nicht zuzumuten, einen zivilrechtlichen Kündigungsgrund
nach §§ 543, 569 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) entstehen zu lassen, eine
Kündigung hinzunehmen, eine Räumungsklage abzuwarten und auf nachfolgende
Beseitigung der Kündigung gemäß § 569 Abs. 3 Nr. 2 BGB zu hoffen. Neben dem
drohenden Verlust des Lebensmittelpunkts entstehen weitere Nachteile wie die
Kosten des Kündigungsrechtsstreits, ein Schufa-Eintrag, die Zerrüttung des
Mietverhältnisses, die zeit- und kostenaufwändigen Suche nach einer preiswerten
Ersatzwohnung und der Umzugsaufwand.“ [4]
Dem haben sich im Prinzip
der 11. und der 13. Senat des LSG Niedersachsen-Bremen 2015 angeschlossen [5].
Ebenfalls 2015 sind der
6. und der 7. Senat des LSG NRW von ihrer bisherigen Position konträr
abgewichen und dies mit einer dezidiert guten Begründung [6] u.a. unter Hinweis
auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH) zum Mietrecht.
Hingegen sind der 12.
Senat des LSG NRW, der 19. Senat und der 2. Senat, alle zuständig für SGB
II-Verfahren, bei ihrer abstrusen Rechtsprechung geblieben, daß erst eine
fristlose Kündigung und Räumungsklage einen Anordnungsgrund eröffneten
[7].
Der Zynismus des 12.
Senats des LSG NRW, der sich, von der geänderten Rechtsauffassung des 6. Senats
distanziert, dabei aber lediglich seine absurde Behauptung im Hinblick auf §
569 Abs. 3 Nr. 2 BGB weiterhin aufrecht erhält, ohne sich mit den
durchschlagenden mietrechtlichen Argumenten des 6. Senats z.B. bei
fristgerechter Kündigung auseinanderzusetzen, ist unerträglich.
Das gleiche betrifft den 19. Senats des LSG NRW, welcher
sich im Gegensatz zum 12. Senat zwar überhaupt mit der Gegenposition des 6.
Senats im Hinblick auf das Mietvertragsrecht auseinandersetzt, hier aber im
Kern die mietrechtlichen Entscheidungen des BGH teilweise mißversteht,
teilweise überinterpretiert – so etwa bei Bezug auf BGH, Urteil vom 10. Oktober
2012, Az.: VIII ZR 107/12, wenn er den Leitsatz „Eine
ordentliche Kündigung wegen Zahlungsverzugs ist auch unterhalb der für die fristlose
Kündigung geltenden Grenze des § 543 Abs. 2 Nr. 3 BGB möglich.“ und „Angesichts dieser unterschiedlichen Anforderungen an
die fristlose und die ordentliche Kündigung besteht kein Grund, die vom
Gesetzgeber für die fristlose Kündigung wegen Zahlungsverzugs festgelegten
Grenzen auf die ordentliche Kündigung zu übertragen.“ [8]unterschlägt
oder gar die Hilfebedürftigen einem unsicheren, weil nicht prognostizierbaren
Zivilrechtsverfahren aussetzen will, indem er auf „Allerdings hat der Senat im Zusammenhang mit der Bedeutung der
Schonfristzahlung für eine ordentliche Kündigung ausgeführt, die innerhalb der
Frist des § 569 BGB erfolgte nachträgliche Zahlung könne die Pflichtverletzung
des Mieters in einem milderen Licht erscheinen lassen und unter diesem Gesichtspunkt
von Bedeutung sein (vgl. Senatsurteil vom 16. Februar 2005 - VIII ZR 6/04, aaO
unter II 2 d cc).“[9]
verweist, also einer freien Beurteilung, deren Ausgang nicht sicher ist.
Zur jetzigen Entscheidung des BVerfG ist Folgendes kritisch
anzumerken:
So gut wie diese Entscheidung ist, so unverständlich ist die
Entscheidungsdauer von fünf Jahren. Bereits 2016 hatte das BVerfG diese
Rechtsfrage noch offen gelassen [10], obwohl angesichts der Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofes zum Mietrecht – z.B. BGH, Urteil vom 10. Oktober 2012, Az.:
VIII ZR 107/12 – zumindest ein obiter dictum als Wink an die
Sozialgerichte angesagt gewesen wäre.
Ein unnötiges Jahr mehr zu leiden für die Betroffenen. Erst
recht angesichts der mageren Begründung des BVerfG, die ihm schon längst von
den hier angegebenen Entscheidungen des Bayerischen LSG und des LSG
Niedersachsen-Bremen vorgegeben und, wie aus seiner eigenen Entscheidung aus
2016 hervorgeht [10], bekannt war. Dafür braucht es keine fünf (!) Jahre.
Auch wenn der 11. und 13. Senat des LSG
Niedersachsen-Bremen, denen in Konsequenz im Falle des Autors der 9. Senat
gefolgt ist [11], bereits vorher dieser verfassungsgerichtlichen Entscheidung
entsprochen haben wie auch der 6. und 7. LSG NRW-Senat durch Revidierung ihrer
bisherigen gegenteiligen Rechtsauffassung, so mußten dennoch viele Betroffene
eine gegenteilige Rechtsprechung ertragen: Opfer des 2., 12., 19. und 20. Senat
des LSG NRW, des SG Hildesheim usw. Hierbei ist zu bedenken, daß gemäß § 177
SGG gegen Beschlüsse des Landessozialgerichts keine Beschwerden an das
Bundessozialgericht möglich und damit keine Rechtsmittel gegeben sind. Es
verbliebe einzig der außerordentliche Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde.
Angesichts der jetzigen Entscheidung fürchte ich, daß die im
dritten Jahr vorliegende Verfassungsbeschwerde [12] nun noch länger
unentschieden bleibt, weil sich das BVerfG damit herausredet, mit der jetzigen
Entscheidung sei ja eine pauschale Negierung des Anordnungsgrundes
(Eilbedürftigkeit) mit dem Argument einer fehlenden Räumungsklage nicht mehr
möglich und damit das Existenzminimum Wohnen im Eilrechtsverfahren vor den
Sozialgerichten sicherbar bis zur Hauptsacheentscheidung.
Fußnoten:
[1] BVerfG, Kammerbeschluß vom 1. August
2017, Az.: 1 BvR 1910/12
[2] = [1], Rdnr. 14
[3] = [1], Rdnr. 16
[4] Bayerisches LSG, Beschluss
vom 19. März 2013, Az.: L 16 AS 61/13 B ER
[5] LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluß
vom 26. Januar 2015, Az.: L 11 AS 261/14 B und Beschluß vom 27. Juli 2015, Az.:
L 13 AS 205/15 B ER
[6] LSG NRW, Beschluß vom 29. Januar 2015,
Az.: L 6 AS 2085/14 B ER und Beschluß vom 4. Mai 2015, Az.: L 7 AS 139/15 B ER
[7] stellvertretend: LSG NRW, Beschluß vom
17. Februar 2015, Az.: L 12 AS 47/15 B ER; Beschluß vom 6. Juli 2015, Az.: L 19
AS 931/15 B ER; Beschluß vom 3. November 2015, Az.: L 2 AS 1101/15 B ER; für
das SGB XII stellvertretend: Beschluß vom 18. Februar 2016, Az.: L 20 SO 16/16
B ER]
[8] BGH, Urteil vom 10. Oktober 2912, Az.:
VIII ZR 107/12, Rdnr. 19
[9] BGH, Urteil vom 10. Oktober 2912, Az.:
VIII ZR 107/12, Rdnr. 31
[10] BVerfG, Kammerbeschluß
vom 18. April 2016, Az.: 1 BvR 704/16, Rdnr. 5
[11] LSG
Niedersachsen-Bremen, Beschluß vom 24. November 2016, Az.: L 9 AS 941/16 B ER: „Der
Bedarf für KdU eines zur Miete wohnenden Hilfebedürftigen entsteht mit dem Tag
der Fälligkeit der Mietzinsforderung. Eine (auch teilweise) Ablehnung
von Leistungen für KdU führt damit bei Vorliegen der allgemeinen (§§ 7 ff.
SGB II) und besonderen (§ 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II) Leistungsvoraussetzungen
unmittelbar zu einer Unterdeckung des grundrechtlich geschützten
Existenzminimums. Nimmt ein Betroffener in diesem Zusammenhang Rechtsschutz in
Anspruch, folgt aus Art. 19 Abs. 4 GG die Verpflichtung des angegrufenen
Gerichts, glaubhaft gemachte Rechtsbeeinträchtigungen (Anordnungsanspruch)
abzustellen bzw soweit zu minimieren, dass ein Abwarten der
Hauptsacheentscheidung im Einzelfall zuzumuten ist. Den Senat überzeugen
Erwägungen, in diesem Zusammenhang die eigenständige Bedeutung des Grundrechtseingriffs
durch ein Abstellen auf einen konkret drohenden Verlust der Wohnung
auszublenden (…), nicht (…).“
[12] Vorlagebeschluß des SG
Mainz, Az.: BVerfG, 1 BvL 2/15