Positive und negative Aspekte sowie weitere Auswirkungen der BVerfG-Entscheidung
(28. Februar 2010)
Vorbemerkung
Der erste Reflex nach dem Lesen des ganzen Urteils des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu den „Hartz IV“-Regelsätzen von mir war: Rückkehr zu den alten Bedarfsbestimmungen des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG).
Die verstärkte Hervorhebung des Individualitätsprinzips durch die ab Urteilsspruch (9. Februar 2010) geltende Härtefallregelung wie auch die geforderte Anpassung der Regelleistung an Hand der Inflationsrate und nicht des Rentenwerts, der nicht das Existenzminimum zur Grundlage hat, sondern politisch gewollte Größen (Stichwort: „Nachhaltigkeitsfaktor“), wie auch die angemahnte Wiedereinführung der im SGB II-System komplett entfallenen Regelung des § 21 Abs. 1a Nr. 3 BSHG („Beschaffung von besonderen Lernmitteln für Schüler“) durch Ermittlung eines kindspezifischen Bedarfs und die Stärkung der Wiedereinführung mindestens dreier Altersstufen für minderjährige Kinder sind klare Kennzeichen einer solchen Orientierung am alten Sozialhilferecht des BSHG. Diesen Bezug zum BSHG stellt das BVerfG an folgenden Stellen sogar selber her:
„Es wäre durchaus möglich gewesen, den existentiellen Bedarf eines Kindes im Zeitpunkt der Schaffung des Sozialgesetzbuches Zweites Buch realitätsgerecht zu ermitteln. Die modifizierte Differenzrechnung, die § 2 Abs. 3 Regelsatzverordnung 1990 zugrunde lag, bezog bereits das Verbrauchsverhalten von Ehepaaren mit einem Kind in die Bemessung auf der Grundlage des Statistikmodells ein.“ [Rdnr. 198] – Berücksichtigung kindspezifischen Bedarfs.
„Der Ausschluss einer evidenten Unterschreitung [gemeint ist das Existenzminimum, H.M.] findet eine gewisse Bestätigung darin, dass der Betrag der Regelleistung von 345 Euro sich an die Regelsätze des Bundessozialhilfegesetzes anlehnt, die jahrzehntelang von der Verwaltungsgerichtsbarkeit unbeanstandet geblieben sind.“ [Rdnr. 152] – Verfassungsgemäßheit der Regelleistung dem Grunde nach.
Formalrechtlich bezieht sich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zwangsläufig nur auf das, was durch die Beschwerdeführer sachlich vorgegeben ist: Eckregelleistung, Regelleistung für Ehepaare, Regelleistung für Kinder unter 14 Jahren im Zeitpunkt des beklagten Bewilligungszeitraums. Da allerdings sämtliche Regelleistungen prozentual von der Eckregelleistung§ 20 Abs. 2 SGB II für Alleinstehende abgeleitet sind, bedeutet die Verfassungswidrigkeit der Eckregelleistung zwangsläufig die Verfassungswidrigkeit aller (prozentual) abgeleiteten Regelleistungen.
Das BVerfG-Urteil wirkt sich aber nicht nur direkt auf die Regelleistungen des SGB II aus, sondern auch indirekt, wenn diese etwa über den Bestrafungsparagraphen 31 SGB II betroffen sind. Ich danke Frau Brigitte Vallenthin von der „hartz4-plattform“ für die Beachtung dieses Aspektes. Die vom BVerfG eingeforderte zukünftige verstärkte Orientierung am Individualitätsprinzip und am Existenzminimum, welches der Staat zu garantieren hat, verbietet eine Bestrafung über das „sozio-kulturelle“ ins „physische“ Existenzminimum hinein wie auch die vom Wohlverhalten des Hilfeempfängers völlig unabhängige Bestrafung über drei Monate.
Und, die BVerfG-Entscheidung wirkt sich auch noch auf andere Paragraphen des SGB II direkt aus (§ 22, § 24a, § 23 Abs. 3 Nr. 3 SGB II). Dies wird unten im Einzelnen aufgeführt.
Die Zitierung in diesem Artikel bezieht sich fast ausschließlich auf die Entscheidung BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010, Az.: 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09, so daß die einzelnen Zitate nur noch mit der offiziellen Randnummer (Rdnr.) der Entscheidung versehen sind. Andere Zitate sind vollumfänglich gekennzeichnet.
Verfassungswidrigkeit der Regelleistungen
Das Bundesverfassungsgericht hat – entgegen der oft einseitigen, aber politisch so gewollten Darstellung als ginge es nur um die Berücksichtigung von kindspezifischem Bedarf – die Regelleistungen des SGB II generell für verfassungswidrig erklärt.
Daß das BVerfG dabei die gesetzliche Regelung, was es eigentlich hätte tun müssen, nicht für nichtig, sondern weiterhin bis Ende 2010 für anwendbar erklärte, begründet es – nach Ansicht des Autors sinnvoll – selber wie folgt:
„Die vorgelegten Vorschriften über die Höhe der Regelleistung nach § 20 Abs. 2 1. Halbsatz und Abs. 3 Satz 1 und § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 1. Alt. SGB II a.F. sind mit dem Grundgesetz für unvereinbar zu erklären (…). Eine Nichtigerklärung (…) würde dazu führen, dass es an der nach Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG erforderlichen gesetzlichen Grundlage für die Gewährung von Leistungen zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums völlig fehlen würde und kein Hilfebedürftiger wegen des in § 31 SGB I angeordneten und durch die Verfassung vorgegebenen Gesetzesvorbehalts (…) Leistungen erhalten könnte. Damit würde ein Zustand geschaffen, der von der verfassungsmäßigen Ordnung noch weiter entfernt wäre als der bisherige (…). Zudem stehen dem Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten zur Verfügung, den festgestellten Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG zu beseitigen (….).“ [Rdnr. 210]
Und:
„Wegen des gesetzgeberischen Gestaltungsermessens ist das Bundesverfassungsgericht nicht befugt, aufgrund eigener Einschätzungen und Wertungen gestaltend selbst einen bestimmten Leistungsbetrag festzusetzen. Die verfassungswidrigen Normen bleiben daher bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber weiterhin anwendbar.“ [Rdnr. 212]
Daß die Frist bis Ende 2010 so gering ausfiel, hat sicherlich auch etwas mit der ebenfalls Ende 2010 endenden Übergangszeit für die Neuregelung der ebenfalls vom BVerfG für verfassungswidrig erklärten Mischverwaltung von Bund und Kommunen (ARGEn) zu tun, die bisher von Exekutive und Legislative verschleppt wurde.
Zur Verfassungswidrigkeit erklärte das BVerfG:
„Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt (…). Wenn der Gesetzgeber seiner verfassungsmäßigen Pflicht zur Bestimmung des Existenzminimums nicht hinreichend nachkommt, ist das einfache Recht im Umfang seiner defizitären Gestaltung verfassungswidrig.“ [Rdnr. 137]
Deshalb bezieht sich das BVerfG auch ausschließlich auf die in Artikel 1 GG formulierte Menschenwürde und das aus Art. 20 GG abgeleitete Sozialstaatsgebot. Weitere, nachgeordnete Betrachtungen wie die Verletzung des Gleichbehandlungsgebotes (Art. 3 GG) und des Schutzes der Familie (Art. 6 GG) bleiben deshalb außen vor:
„Andere Grundrechte, wie zum Beispiel Art. 3 Abs. 1 GG oder Art. 6 Abs. 1 GG, vermögen für die Bemessung des Existenzminimums im Sozialrecht keine weiteren Maßstäbe zu setzen. Entscheidend ist von Verfassungs wegen allein, dass für jede individuelle hilfebedürftige Person das Existenzminimum nach Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG ausreichend erfasst wird; eines Rückgriffs auf weitere Grundrechte bedarf es hier nicht.“ [Rdnr. 145]
Da die Sozialhilfe, zu der entgegen des Namens auch das Arbeitslosengeld II/Sozialgeld gehört, das individuelle Existenzminimum absichern soll, welches der Staat wegen der Menschenwürde und dem sozialen Rechtsstaatsgebots zu garantieren hat, folgt zwangsläufig, daß dieses Existenzminimum trotz eines entsprechenden Gestaltungsspielraumes des Staates nicht willkürlich festgesetzt werden darf, um in erster Linie fiskalischen Einspargründen zu frönen, wobei Letzteres angesichts der staatlich bezahlten Unternehmerlöhne (Kurzarbeitergeld) und der in Zockerbanken versenkten horrenden Milliardenbeträge wohl kein Argument ist.
„Zur Konkretisierung des Anspruchs hat der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht, zu bemessen (…). Hierzu hat er zunächst die Bedarfsarten sowie die dafür aufzuwendenden Kosten zu ermitteln und auf dieser Basis die Höhe des Gesamtbedarfs zu bestimmen. Das Grundgesetz schreibt ihm dafür keine bestimmte Methode vor (…); er darf sie vielmehr im Rahmen der Tauglichkeit und Sachgerechtigkeit selbst auswählen. Abweichungen von der gewählten Methode bedürfen allerdings der sachlichen Rechtfertigung.“ [Rdnr. 139]
„Das dergestalt gefundene Ergebnis ist zudem fortwährend zu überprüfen und weiter zu entwickeln, weil der elementare Lebensbedarf eines Menschen grundsätzlich nur in dem Augenblick befriedigt werden kann, in dem er besteht (…). Der Gesetzgeber hat daher Vorkehrungen zu treffen, auf Änderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel Preissteigerungen oder Erhöhungen von Verbrauchsteuern, zeitnah zu reagieren, um zu jeder Zeit die Erfüllung des aktuellen Bedarfs sicherzustellen, insbesondere wenn er wie in § 20 Abs. 2 SGB II einen Festbetrag vorsieht.“ [Rdnr. 140]
Ferner „… besteht für den Gesetzgeber die Obliegenheit, die zur Bestimmung des Existenzminimums im Gesetzgebungsverfahren eingesetzten Methoden und Berechnungsschritte nachvollziehbar offenzulegen. Kommt er ihr nicht hinreichend nach, steht die Ermittlung des Existenzminimums bereits wegen dieser Mängel nicht mehr mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG in Einklang.“ [Rdnr. 144]
Daß das BVerfG die Regelleistung nicht komplett für verfassungswidrig erklärte, hat damit zu tun, daß trotz aller Bemessungsmängel auf dem Regelsatz der alten Sozialhilfe (BSHG) aufgebaut wurde, so daß die Bemessung nicht total willkürlich erschien und auch das physische Existenzminimum zumindest garantiert schien.
„Für den Betrag der Regelleistung von 345 Euro nach § 20 Abs. 2 1. Halbsatz SGB II a.F. kann eine evidente Unterschreitung nicht festgestellt werden, weil die Regelleistung zur Sicherung der physischen Seite des Existenzminimums zumindest ausreicht und der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der sozialen Seite des Existenzminimums weiter ist. … Der Ausschluss einer evidenten Unterschreitung findet eine gewisse Bestätigung darin, dass der Betrag der Regelleistung von 345 Euro sich an die Regelsätze des Bundessozialhilfegesetzes anlehnt, die jahrzehntelang von der Verwaltungsgerichtsbarkeit unbeanstandet geblieben sind.“ [Rdnr. 152]
Und zur Kinder-Regelleistung:
„Die Regelleistung für Kinder in Höhe von 207 Euro ist auch nicht deshalb evident unzureichend, weil dieser Betrag nicht der einkommensteuerlichen Berücksichtigung von Aufwendungen für Kinder nach § 32 Abs. 6 Einkommensteuergesetz (EStG) entspricht. Der steuerliche Abzug derartiger Aufwendungen definiert und berücksichtigt zugleich die unterhaltsrechtlichen Verpflichtungen eines Steuerpflichtigen für seine Kinder; der staatliche Steuerzugriff findet seine verfassungsrechtlichen Leitlinien in Art. 3 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 und 2 GG. Der Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums beruht hingegen auf Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG, steht jedem Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft - auch Kindern - individuell zu und geht vom absolut notwendigen Bedarf aus. Deswegen können steuerlich zu berücksichtigende Aufwendungen und bedürftigkeitsabhängige Sozialleistungen unterschiedliche Höhe erreichen. Auch können Normen des Einkommensteuerrechts fördernden Charakter aufweisen (vgl. z.B. zum Kindergeld § 31 Satz 2 EStG) oder zusätzliche, nicht existenznotwendige Aufwendungen erfassen.“ [Rdnr. 158]
Immerhin aber bestätitgt, was positiv zu bewerten ist, das BVerfG, die von „Hartz IV“-Kritikern immer wieder vorgebrachte, aber von Behörden abgestrittene Tatsache, daß bei der Kinder-Regelleistung im Rahmen der Kompensierung der früheren Einmalleistungen deren Anteil von 20% des BSHG-Regelsatzes auf 16% gekürzt worden ist [Rdnr. 156].
Auch der zukünftige Ausschluß von möglichen Zirkelschlüssen ist positiv zu bewerten:
„Der Gesetzgeber bleibt freilich entsprechend seiner Pflicht zur Fortentwicklung seines Bedarfsermittlungssystems verpflichtet, bei der Auswertung künftiger Einkommens- und Verbrauchsstichproben darauf zu achten, dass Haushalte, deren Nettoeinkommen unter dem Niveau der Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch und dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch inklusive der Leistungen für Unterkunft und Heizung liegt, aus der Referenzgruppe ausgeschieden werden.“ [Rdnr. 169]
Die BVerfG-Entscheidung ist aber dort besonders negativ zu werten, wo sie einen Verstoß gegen rechtsstaatliches Handeln bagatellisiert, der zukünftig durchaus auch gefährliche Züge annehmen kann:
„Dass die Regelleistung nach § 20 Abs. 2 1. Halbsatz SGB II a.F. tatsächlich auf dem in § 2 Regelsatzverordnung 2005 konkretisierten Verfahren der Bemessung des sozialhilferechtlichen Eckregelsatzes beruht, wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass ein Entwurf der Regelsatzverordnung 2005 mit ausführlicher Begründung erstmals etwa einen Monat nach Erlass des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt den beteiligten Verbänden übersandt und dann erst im März 2004 in der Bundesratsdrucksache 206/04 publiziert wurde. Der zeitliche Ablauf könnte zwar den Eindruck vermitteln, der Gesetzgeber sei schon auf die Endsumme von 345 Euro festgelegt gewesen, weil sie bereits im Referentenentwurf zum Sozialgesetzbuch Zweites Buch vorgesehen war und der Vor-Entwurf zur Regelsatzverordnung zu einem ähnlichen Ergebnis kam. Darauf kommt es jedoch nicht an. Soweit sich die vom Gesetzgeber festgelegten Sätze auf der Grundlage belastbarer Zahlen und vertretbarer Wertungen im Ergebnis verfassungsrechtlich rechtfertigen lassen, sind die entsprechenden Regelungen nicht zu beanstanden.“ [Rdnr. 161]
Hier hat das BVerfG leider eine Büchse der Pandora geöffnet und die Exekutive und Legislative ermuntert, künftig auch in anderen Dingen so zu verfahren und vom Ergebnis her den Weg zu beschreiten.
Positiv ist ebenfalls zu bewerten, daß das BVerfG der willkürlichen Reduzierung von EVS-Positionen einen Riegel vorgeschoben hat. Zwar müssen Bedarfspositionen, wenn sie wie die Unterkunfts- und Heizkosten durch gesonderte Leistungen erbracht werden, nicht Bestandteil der Regelleistung sein [Rdnr. 170], gleichwohl darf der Gesetzgeber „Ausgaben, welche die Referenzgruppe tätigt, nur dann als nicht relevant einstufen, wenn feststeht, dass sie anderweitig gedeckt werden oder zur Sicherung des Existenzminimums nicht notwendig sind. Auch die Höhe einer Kürzung muss sich aus der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe oder aus einer anderen, zuverlässigen Erhebung ergeben. Eine Schätzung auf fundierter empirischer Grundlage ist dabei nicht ausgeschlossen; Schätzungen „ins Blaue hinein“ laufen jedoch einem Verfahren realitätsgerechter Ermittlung zuwider und verstoßen deshalb gegen Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG. Damit geprüft werden kann, ob die vom Gesetzgeber getroffenen Wertungen und Entscheidungen der verfassungsrechtlichen Garantie eines menschenwürdigen Existenzminimums entsprechen, trifft den Normgeber die Obliegenheit, sie nachvollziehbar zu begründen; das ist vor allem zu fordern, wenn er von seiner selbst gewählten Methode abweicht.“ [Rdnr. 171]
Im konkreten Fall stellt das BVerfG – sonst hätte es auch nicht zu seinem Urteil kommen können – fest:
„Der in § 2 Abs. 2 Regelsatzverordnung 2005 festgesetzte regelsatz- und damit zugleich regelleistungsrelevante Verbrauch beruht nicht auf einer tragfähigen Auswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 1998.“ [Rdnr. 174]
„Selbst wenn im Zeitpunkt der Auswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 1998 keine hinreichenden detaillierten Daten über die einzelnen Verbrauchspositionen vorhanden gewesen sein sollten, wie die Bundesregierung vorgetragen hat, rechtfertigte dies freihändige Schätzungen nicht. Vielmehr hätte eine nicht ausreichende Datengrundlage den Gesetzgeber veranlassen müssen, zur Wahrung der verfassungsrechtlichen Garantie eines menschenwürdigen Existenzminimums auf geschätzte Abschläge insoweit zu verzichten.“ [Rdnr. 176]
Konkret kritisiert das BVerfG zum Beispiel, daß bei einer Reduzierung der Ausgabe-Position gegenüber der EVS bei den Kosten eines Kraftfahrzeuges damit korrespondierende Mehrausgaben für den Öffentlichen Personenverkehr unberücksichtigt blieben.
Besonders kritisch – was wiederum positiv zu bewerten ist – geht das BVerfG mit der Ausklammerung der Kosten für den Schulbesuch von Kindern um. Dies Thema erweitert das BVerfG analog seiner schon 1998 gefällten sogenannten Familienurteile, wo es urteilte
„… um dem Kind eine Entwicklung zu ermöglichen, die es zu einem verantwortlichen Leben in dieser Gesellschaft befähigt… . Hierzu gehört gegenwärtig z.B. … die Mitgliedschaft in Vereinen…“.[BVerfG, Beschluß vom 10. November 1998, Az.: 2 BvR 1057/01],
und kritisiert zusätzlich zum fehlenden Schulbedarf durch Streichung der EVS-Position 10 (Bildungswesen) die Herausnahme außerschulischen Sport- und Musikunterrichts aus der EVS-Position 9 (Freizeit) [Rdnr. 180].
Auch schiebt das BVerfG dem Versuch der Bundesregierung, Bildung als den Bundesländern obliegend zu qualifizieren einen Riegel vor. Denn:
„Zwar besitzen die Länder im Schul- und Bildungswesen nicht nur die Gesetzgebungs-, sondern auch die Verwaltungskompetenz, so dass sie nach Art. 104a Abs. 1 GG die Ausgaben dafür zu tragen haben. Die Vorschrift verteilt jedoch zwischen den Gebietskörperschaften des Bundesstaates nur die Ausgabenlast. Die Länder haben ihre Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen zu finanzieren. Aus Art. 104a Abs. 1 GG folgt aber keine fürsorgerechtliche Pflicht, hilfebedürftige Personen, die Schulen besuchen und sonstige Bildungseinrichtungen benutzen, mit den dafür notwendigen finanziellen Mitteln auszustatten. Zudem würde erst ein anderweitiger gesetzlicher Anspruch auf Leistungen zum Lebensunterhalt die Pflicht des Bundes mindern, weil das menschenwürdige Existenzminimum von Verfassungs wegen durch Rechtsansprüche gewährleistet sein muss. Solche ergänzenden Ansprüche aufgrund von Ländergesetzen sind nicht ersichtlich.“ [Rdnr. 182]
Allgemein kritisiert das BVerfG am fehlenden Schulbedarf:
„Ein zusätzlicher Bedarf ist vor allem bei schulpflichtigen Kindern zu erwarten. Notwendige Aufwendungen zur Erfüllung schulischer Pflichten gehören zu ihrem existentiellen Bedarf. Ohne Deckung dieser Kosten droht hilfebedürftigen Kindern der Ausschluss von Lebenschancen, weil sie ohne den Erwerb der notwendigen Schulmaterialien, wie Schulbücher, Schulhefte oder Taschenrechner, die Schule nicht erfolgreich besuchen können. Bei schulpflichtigen Kindern, deren Eltern Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch beziehen, besteht die Gefahr, dass ohne hinreichende staatliche Leistungen ihre Möglichkeiten eingeschränkt werden, später ihren Lebensunterhalt aus eigenen Kräften bestreiten zu können. Dies ist mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG nicht vereinbar.“ [Rdnr. 192]
Aber auch ganz allgemein wird vom BVerfG Kritik an der Kinder-Regelleistung geübt:
„Der Gesetzgeber hat weder für das Sozialgesetzbuch Zweites Buch noch für die Regelsatzverordnung 2005 das Existenzminimum eines minderjährigen Kindes, das mit seinen Eltern in häuslicher Gemeinschaft zusammen lebt, ermittelt, obwohl schon Alltagserfahrungen auf einen besonderen kinder- und alterspezifischen Bedarf hindeuten. Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Ihr Bedarf, der zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums gedeckt werden muss, hat sich an kindlichen Entwicklungsphasen auszurichten und an dem, was für die Persönlichkeitsentfaltung eines Kindes erforderlich ist. Der Gesetzgeber hat jegliche Ermittlungen hierzu unterlassen. Sein vorgenommener Abschlag von 40 % gegenüber der Regelleistung für einen Alleinstehenden beruht auf einer freihändigen Setzung ohne irgendeine empirische und methodische Fundierung.“ [Rdnr. 191]
Schärfer kann richterliche Kritik an einer Regierungsbürokratie kaum noch formuliert werden. Dabei kritisiert das BVerfG zusätzlich die Abweichung von bereits in der alten Sozialhilfe BSHG
– „Es wäre durchaus möglich gewesen, den existentiellen Bedarf eines Kindes im Zeitpunkt der Schaffung des Sozialgesetzbuchs Zweites Buch realitätsgerecht zu ermitteln. Die modifizierte Differenzrechnung, die § 2 Abs. 3 Regelsatzverordnung 1990 zugrunde lag, bezog bereits das Verbrauchsverhalten von Ehepaaren mit einem Kind in die Bemessung auf der Grundlage des Statistikmodells ein. Diese Methode hätte weiterentwickelt werden können, um den kinderspezifischen Bedarf zu berücksichtigen. Bei ihrer Anwendung hätte dem Gesetzgeber hinreichend Zeit zur Verfügung gestanden, seiner Pflicht zur realitätsgerechten Ermittlung des Bedarfs eines Kindes zu genügen.“ [Rdnr. 198] –
und beim Unterhaltsrecht vorgenommenen Altersdifferenzierungen und die regierungsamtliche Falschdarstellung beim Bezug auf statistische Erhebungen der OECD oder von Gutachtern [Rdnrn. 193, 194, 196].
Zur zwischenzeitlichen Erhöhung der Regelleistung für Kinder im Alter von 6 bis 13 Jahren (§ 74 SGB II) erklärt das BVerfG:
„Das zum 1. Juli 2009 durch § 74 SGB II eingeführte Sozialgeld für Kinder ab Beginn des 7. bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres in Höhe von 70 % der Regelleistung nach § 20 Abs. 2 Satz 1 SGB II genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen bereits deshalb nicht, weil es sich von der fehlerhaft ermittelten Regelleistung nach § 20 Abs. 2 Satz 1 SGB II ableitet. Zwar dürfte der Gesetzgeber mit der Einführung einer dritten Altersstufe und der § 74 SGB II zugrunde liegenden Bemessungsmethode (…) einer realitätsgerechten Ermittlung der notwendigen Leistungen für Kinder im schulpflichtigen Alter näher gekommen sein. Den Anforderungen an die Ermittlung des kinderspezifischen Bedarfs ist er dennoch nicht gerecht geworden, weil die gesetzliche Regelung an den Verbrauch für einen erwachsenen Alleinstehenden anknüpft. Die Befristung des § 74 SGB II bis zum 31. Dezember 2011 deutet darauf hin, dass der Gesetzgeber selbst davon ausging, keine dauerhafte und methodisch konsequente Lösung gefunden zu haben.“ [Rdnr. 202]
Zur ebenfalls eingefügten Neuregelung § 24a SGB II (Schulmaterial) siehe gesondert weiter unten in diesem Artikel.
Positiv zu benennen ist ebenfalls, daß das BVerfG die Regelung § 20 Abs. 4 S. 1 SGB II gekippt hat, wonach sich die Regelleistungsanpassung entsprechend der Entwicklung des Rentenwertes statt anhand der Preisentwicklung vollzog.
„Die Regelung des § 20 Abs. 4 Satz 1 SGB II über die Anpassung der Regelleistung zwischen den alle fünf Jahre erhobenen Einkommens- und Verbrauchsstichproben nach der Veränderung des aktuellen Rentenwerts (§ 68 SGB VI), auf der die genannten Bekanntmachungen beruhen, ist zwar nicht eigenständiger Gegenstand der Vorlagen. Die Anpassungsregelung ist jedoch … nicht mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG vereinbar. Der Gesetzgeber wird einen anderen Anpassungsmechanismus finden müssen, um seiner aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG folgenden Pflicht zur fortwährenden Überprüfung und Weiterentwicklung der festgesetzten Leistungen bei sich ändernden wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu genügen.“ [Rdnr. 214]
„Die Faktoren …, die das für die Bildung der Regelleistung maßgebliche Verbrauchsverhalten des untersten Quintils bestimmen, namentlich das zur Verfügung stehende Nettoeinkommen und die Preisentwicklung, spielen bei der Bestimmung des aktuellen Rentenwerts keine Rolle. Er ist deshalb zur realitätsgerechten Fortschreibung des Existenzminimums nicht tauglich.“ [Rdnr. 184] Politisch gewollte Rentenerhöhungen vor Bundestagswahlen oder Landtagswahlen wie auch der politisch gewollte Demographie-Faktor und die jahrelangen Nullrunden bei der Rente dürfen eben keine Rolle bei der Sicherung des Existenzminimums spielen, wohl aber die jährliche Preissteigerung, die ja für Bezieher von existenzsichernden Leistungen wie nach dem SGB II zudem weit oberhalb der offiziellen Inflationsrate liegt.
Eindeutig als negativ zu bewerten ist, daß die eindeutig verfassungswidrige Regelleistung nicht zu einem rückwirkenden Anspruch führt. Begründet wird dies zum Einen mit fiskalischen Gründen, zum Anderen mit der vom BVerfG festgestellten „nicht evidenten Unterschreitung“ des Existenzminimums:
„Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG verpflichtet den Gesetzgeber nicht dazu, die Leistungen rückwirkend für die Zeit ab Inkrafttreten des Sozialgesetzbuchs Zweites Buch am 1. Januar 2005 neu festzusetzen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts muss der Gesetzgeber einen mit dem Grundgesetz unvereinbaren Rechtszustand nicht rückwirkend beseitigen, wenn dies einer geordneten Finanz- und Haushaltsplanung zuwiderläuft … . Von einer Rückwirkung der Neuregelung kann der Gesetzgeber absehen, weil im Hinblick auf die beanstandeten Vorschriften eine evidente Unterschreitung des menschenwürdigen Existenzminimums nicht feststellbar ist, sondern diesen allein ein nicht realitätsgerechtes Verfahren der Ermittlung des Existenzminimums zugrunde liegt.“ [Rdnr. 217]
Damit hat das BVerfG der Regierung jene Milliarden an „Hartz IV“-Leistungen erspart, die die Regierung vermutlich bis Ende 2010 wieder in Zockerbanken steckt, wenn, wie vorausgesagt, im Herbst 2010 in den USA die nächste große Finanzblase platzt.
Härtefallregelung
„Es ist mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG zudem unvereinbar, dass im Sozialgesetzbuch Zweites Buch eine Regelung fehlt, die einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherstellung eines zur Deckung des menschenwürdigen Existenzminimums unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarfs vorsieht. Ein solcher ist für denjenigen Bedarf erforderlich, der nicht schon von den §§ 20 ff. SGB II abgedeckt wird, weil die Einkommens- und Verbrauchsstatistik, auf der die Regelleistung beruht, allein den Durchschnittsbedarf in üblichen Bedarfssituationen widerspiegelt, nicht aber einen darüber hinausgehenden, besonderen Bedarf aufgrund atypischer Bedarfslagen.“ [Rdnr. 204]
„Der Gesetzgeber ist ferner verpflichtet, bis spätestens zum 31. Dezember 2010 eine Regelung im Sozialgesetzbuch Zweites Buch zu schaffen, die sicherstellt, dass besonderer Bedarf nach Maßgabe der Ausführungen zu C. IV. gedeckt wird. Die nach § 7 SGB II Leistungsberechtigten, bei denen ein derartiger besonderer Bedarf vorliegt, müssen aber auch vor der Neuregelung die erforderlichen Sach- oder Geldleistungen erhalten. Andernfalls läge eine Verletzung von Art. 1 Abs. 1 GG vor, die auch nicht vorübergehend hingenommen werden kann.“ … „Um die Gefahr einer Verletzung von Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG in der Übergangszeit bis zur Einführung einer entsprechenden Härtefallklausel zu vermeiden, muss die verfassungswidrige Lücke für die Zeit ab der Verkündung des Urteils durch eine entsprechende Anordnung des Bundesverfassungsgerichts geschlossen werden. „ [Rdnr. 220]
Zunächst als positiv zu bewerten ist, daß das BVerfG die bisher fehlende Härtefallregelung nicht nur grundsätzlich als Arbeitsauftrag für den Gesetzgeber formuliert hat, sondern sogar bestimmt hat, daß der hierunter fallende Bedarf wegen der besonderen Verletzung von Art. 1 i.V.m. Art 20 GG sofort ab Urteilsspruch, also dem 9. Februar 2010, geltend gemacht werden kann.
Negativ zu bewerten ist allerdings, daß hierunter kaum etwas fallen dürfte, da nicht nur Leistungen Dritter für diesen Sonderbedarf, sondern sogar Vermögen (und das meint auch Schonvermögen), ja selbst der Ansparbetrag zuvörderst dafür zu verwenden sind. Einmalige Bedarfe sind ausgeschlossen. Denn auf solche Fälle treffen die Beschreibungen „besonderen, laufenden, nicht nur einmaligen und unabweisbaren Bedarf …, der zwar seiner Art nach berücksichtigt wird, dies jedoch nur in durchschnittlicher Höhe“ [RN 208] nicht zu.
Während der Erstellung dieses Artikels erschien die „Geschäftsanweisung vom 17.02.2010 – Geschäftszeichen: SP II – II-1303/7000/5215“ der Bundesagentur für Arbeit [http://www.arbeitsagentur.de/]. Hiernach gelten als atypische Sonderbedarfe (nicht abschließend):
– Kosten der Wahrnehmung des Umgangsrechts
Dies war zu vermuten, hatte doch das BSG mit seiner Entscheidung vom 7. November 2006 im Verfahren B 7b AS 14/06 R, um § 20 SGB II wegen der gegenüber § 28 SGB XII fehlenden Öffnungsklausel nicht dem BVerfG zur Klärung vorlegen zu müssen – der andere Senat des BSG erklärte noch im selben Monat die Regelleistung für verfassungsgemäß (BSG, Urteil vom 23. November 2006, Az.: B 11b AS 1/06 R) –, entgegen des gesetzlich formulierten gegenseitigen Ausschlusses (§ 5 Abs. 2 SGB II und § 21 SGB XII) mit der Kostenübernahme nach § 73 SGB XII systemwidrig das SGB XII für SGB II-Leistungsbezieher geöffnet.
Schon in meinem Artikel „Alg II und Schulkosten – ein fortgesetzter Verfassungsverstoß“ vom 14. Januar 2007 [http://www.HerbertMasslau.de/pageID_3933615.html] setzte ich mich kritisch mit dieser Vorgehensweise auseinander und favorisierte die Öffnungsklausel analog § 28 SGB XII auch für § 20 SGB II als „verfassungsrechtlich die gebotene“. Nun wird meine Rechtsauffassung durch das BVerfG bestätigt [Rdnr. 207].
– nicht verschreibungspflichtige Arznei-/Heilmittel
Dies soll nicht für alle „Hartz IV“-Empfänger gelten, sondern nur für besonders schwerwiegende Erkrankungen (Neurodermitis, sog. AIDS).
Da es aber auch bei „normalen“ Leuten zur notwendigen Behandlung mit nicht verschreibungspflichtigen Medikamenten, Heil- und Hilfsmitteln kommen kann, sollten Betroffene hier trotzdem Anträge stellen und diese durchklagen. Denn, weil weder Bundesregierung noch Parlament sich trauen, der Pharma-Industrie in die Suppe zu spucken, wird aus Kostengründen die gesetzliche Krankenversorgung immer mehr zu einer Notfallmedizin heruntergekürzt.
– Putz- und Haushaltshilfen für Rollstuhlfahrer
Daß sowas überhaupt unberücksichtigt blieb, kann nur noch als Frechheit bezeichnet werden.
– Nachhilfeunterricht
An diesem Beispiel wird sehr deutlich, wie die Politbande, die in wenigen Tagen einer Zockerbank 100 Mrd. Euro zum Weiterzocken aus Steuergeldern finanzieren konnte, kein Interesse daran hat, daß die Steuergelder für die Allgemeinheit eingesetzt werden. Daß die gleichgeschaltete Journaille hieraus eine Topmeldung machte und so tat als würde „Hartz IV“-Familien generell Nachhilfeunterricht finanziert, diente lediglich der Stimmungsmache gegen das „Schlaraffenland Sozialhilfe“.
Nachhilfe soll es nur geben, wenn lange Krankheit oder Tod in der Familie vorliegen und eine positive Prognose besteht. Das kann doch nur bedeuten, daß erst Mutter oder Vater sterben müssen und sich anschließend der Medizinische Dienst psychologische Begutachtungen erlaubt als Voraussetzung für die Gewährung von Hilfe. Dies als Einfallstor für eine Psychologisierung der Hilfevoraussetzung sollte vehement bekämpft werden!
Weitere Positiv-Beispiele werden nicht genannt, sondern es wird auf die juristische Kommentierung zu § 73 SGB XII verwiesen. Dafür ist aber auch eine Negativ-Liste aufgeführt, wofür es keine Sonderleistungen geben soll, weil diese Dinge aus der Regelleistung zu bestreiten seien:
– die Praxisgbühr
– Schulmaterialien und Schulverpflegung
Da gerade die Schulkosten nicht in der Regelleistung enthalten sind, stellt diese pauschale Ausklammerung einen Skandal dar! Siehe dazu auch unten die Anmerkungen zum § 24a SGB II. Zumindest die Skandal-Entscheidung des BSG zu den schulbedingten Kosten einer Schülermonatskarte müßte mit der BVerfG-Entscheidung ab 9. Februar 2010 vom Tisch sein. Das BSG hatte ja mit seiner Entscheidung vom 28. Oktober 2009 (B 14 AS 44/08 R) geurteilt, daß es für die Übernahme der Kosten einer Schülermonatskarte keine Anspruchsgrundlage im SGB II gäbe. Da die Förderung des Landes Niedersachsen nur einschließlich Klasse 10 geht, bedeutete dies für die betroffene Familie, daß sie für die Kosten der Fahrt der Tochter zur weiterführenden Schule selber aufkommen mußte. Denn, weil es sich bei schulbedingtem Bedarf nicht um atypischen Bedarf handelt, schloß das BSG folgerichtig auch eine Anwendbarkeit des § 73 SGB XII aus. Nach der BVerfG-Entscheidung sollten Betroffene jetzt Anträge stellen und die Sache gerichtlich durchfechten.
Bei der Mittagsverpflegung in Schulen sind die Kosten häufig doppelt so hoch wie der in der Regelleistung § 28 SGB II vorgesehene Betrag für ein Mittagessen und nicht alle Kommunen oder Bundesländer bieten finanzielle Unterstützung an. Gerade die Abmeldung vieler „Hartz IV“-Kinder vom Schulmittagessen war Anlaß für die Forderung des Bundesrates, die Regelleistung zu überprüfen (siehe hierzu meinen Artikel „Schulbedarf und SGB II/SGB XII – Bundesrat fordert kindspezifische Regelleistung“ vom 30. August 2008 [http://www.HerbertMasslau.de/pageID_6183110.html]).
– Bekleidung/Schuhe in Übergrößen
– krankheitsbedingter Mehraufwand.
Nicht als „Sonderbedarf“ gelten laut BA auch Brillen, orthopädische Schuhe und Zahnersatz. Hier sollen sog. Bedarfsspitzen über ein Darlehen nach § 23 Abs. 1 SGB II aufgefangen werden. Dabei sollen solche „Sonderbedarfe“ durch zweckbestimmte Einnahmen durch Dritte – ausdrücklich ist das Landesblindengeld genannt – als abgedeckt gelten.
Als weiterhin negativ könnte sich diese Öffnungsklausel dann erweisen, wenn es analog zu § 28 SGB XII zu einer Neudefinition der Regelleistung käme, weg von der absoluten Pauschalierung hin zu einer bedarfsorientierten Variante. Dann wäre auch zum Beispiel eine Stromkostenerstattung und die Krankenhausverpflegung wieder als Einkommen bzw. Minderung des Bedarfs von Bedeutung. Denn mit der mit der BVerfG-Entscheidung verbundenen Suspendierung der Regelung § 3 Abs. 3 S. 2 SGB II („Eine davon abweichende Festlegung der Bedarfe ist ausgeschlossen.“) und der Regelung § 23 Abs. 1 S. 4 SGB II („Weitergehende Leistungen sind ausgeschlossen.“), die zum 1. August 2006 eingeführt wurden, um damit für die Hilfeempfänger und Hilfeempfängerinnen positive Gerichtsentscheidungen zu konterkarieren (siehe u.A. meinen Artikel „Alg II-Optimierung: Gesetz gegen Gerichtsentscheidungen“ vom 8. Juni 2006 [http://www.HerbertMasslau.de/pageID_3180385.html]), dürfte zwar die Regelleistung als solche dem Grunde nach Pauschale bleiben, wie sie es im SGB XII auch ist und schon zu BSHG-Zeiten war, aber, so wie in Zukunft hinsichtlich bestimmter Bedarfspositionen eine Öffnungsklausel gelten dürfte, so wird dann aus fiskalischen Gründen auch eine Bedarfsminderung eingebaut. Damit dürfte das mit der Regelung § 1 Abs. 1 Nr. 11 Alg II-Verordnung abgeschlossene Thema Krankenhausverpflegung wieder offen sein. Denn schon einmal auf Grund der sich dazu abzeichnenden konträren Sozialgerichtsrechtsprechung wurde die Krankenhausverpflegung als Einkommen angerechnet (§ 4 i.V.m. § 2 Abs. 5 Alg II-V zum 1. Januar 2008), um dann, nach einer Grundsatzentscheidung des BSG (Urteil vom 18. Juni 2008, Az.: B 14 AS 22/07 R) wieder zum 1. Januar 2009 rückgängig gemacht zu werden.
Auswirkungen auf § 22 SGB II (Unterkunftskosten)
Aufgrund der BVerfG-Entscheidung ist der individuelle Unterkunftskosten-Bedarf zu ermitteln. Hierbei ist eine Angemessenheitsgrenze analog des unteren Quintils als Bezugsgruppe bei der Bestimmung der Regelleistung zulässig [Anmerkung des Autors: Es geht hier in diesem Artikel nicht um das politisch Wünschenswerte, sondern um das rechtlich Durchsetzbare].
Die „angemessenen“ Unterkunftskosten sind eigentlich schon an Hand der BSG-Entscheidungen in den Verfahren B 7b AS 18/06 R, B 14/7b AS 44/06 R, B 4 AS 18/09 R, B 4 AS 27/09 R, B 4 AS 50/09 R eindeutig zu ermitteln. Gleichwohl weigern sich insbesondere in Niedersachsen – beispielhaft die Optionskommune Göttingen – die Grundsicherungsträger auch noch fünf Jahre nach Einführung des SGB II hartnäckig, die „angemessenen“ Unterkunftskosten zu ermitteln und beziehen sich auf die Tabellenwerte § 8 WoGG 2005. Das BSG hat diesen Kommunen auch noch ein Hintertürchen geöffnet: Lassen sich nachträglich die „angemessenen“ Unterkunftskosten nicht mehr ermitteln, so sind die tatsächlichen Unterkunftskosten zu tragen. „Allerdings sind die Kosten der Unterkunft in einem solchen Fall nicht völlig unbegrenzt zu übernehmen, sondern nur bis zur Höhe der durch einen Zuschlag maßvoll erhöhten Tabellenwerte nach § 8 Wohngeldgesetz (WoGG aF).“ [BSG, Urteil vom 20. August 2009, Az. B 14 AS 41/08 R, Rdnr. 22; ebenso: BSG, Urteil vom 20. August 2009, Az.: B 14 AS 65/98 R, Rdnr. 21 und BSG, Urteil vom 22. September 2009, Az.: B 4 AS 18/09 R, Rdnr. 27, zuletzt: BSG, Urteil vom 17. Dezember 2009, Az.: B 4 AS 50/09 R, Rdnr. 27]. Ab 1. Januar 2009 sei dann die entsprechende Regelung § 12 WoGG 2009 [so: BSG, Urteil vom 17. Dezember 2009, Az.: B 4 AS 50/09 R, Rdnr. 27] anzuwenden. Dies ist nach dem BVerfG-Urteil nicht mehr haltbar. Im Sinne einer Härtefallregelung und zur Vermeidung einer drohenden Räumungsklage müßten bis zur Ermittlung der „angemessenen“ Unterkunftskosten die tatsächlichen Unterkunftskosten übernommen werden, denn im Rahmen der Sicherung des Existenzminimums darf es nicht der behördlichen Willkür überlassen bleiben, ob überhaupt eine Ermittlung der „angemessenen“ Unterkunftskosten stattfindet oder aus fiskalischen Gründen einfach nicht gemacht wird – was sich Letzteres offensichtlich lohnt, wenn man bzw. frau sich die oben angeführten BSG-Entscheidungen ansieht.
Auswirkung auf § 24a SGB II (Schulmaterial)
„Die Begründung des Gesetzentwurfs enthält keine Angaben, woraus sich der Betrag von 100 Euro zusammensetzt und wie er ermittelt worden ist.“ [Rdnr. 81]
„Die Regelung des § 24a SGB II fügt sich methodisch nicht in das Bedarfssystem des Sozialgesetzbuchs Zweites Buch ein. Diese Leistungen für die Schule setzen voraus, dass entweder das schulpflichtige Kind oder ein Elternteil Anspruch auf Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch haben. Der schulische Bedarf selbst kann also Hilfebedürftigkeit nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch nicht auslösen.“ [Rdnr. 203]
„Vor allem ist ein altersspezifischer Bedarf für Kinder einzustellen, welche die Schule besuchen. Wie bereits ausgeführt macht die Zuständigkeit der Länder für das Schul- und Bildungswesen die fürsorgerechtliche Berücksichtigung dieses Bedarfs nicht entbehrlich. Die Zuständigkeit der Länder betrifft überdies den personellen und sachlichen Aufwand für die Institution Schule und nicht den individuellen Bedarf eines hilfebedürftigen Schülers.“ [Rdnr. 197]
Die Regelung § 24a SGB II gilt selbstverständlich analog der Entscheidung des BVerfG zur Regelleistung bis 1. Januar 2011 weiter. Allerdings ist § 24a SGB II im Sinne einer Härtefallregelung ab 9. Februar 2010 vom Stichtags-Diktat zu befreien, d.h., auch Familien mit schulpflichtigen Kindern oder schulpflichtige Kinder, die nicht im Elternhaus leben, müssen ab sofort Anspruch auf eine monatlich anteilig zu berücksichtigende Schulbeihilfe haben. Alles Andere wäre zusätzlich eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes Art. 3 Abs. 1 GG.
Eine Neuregelung des Schulbedarfs wird entweder als § 23 Abs. 3 Nr. 4 Eingang in das SGB II finden müssen in Analogie zur alten Sozialhilferegelung § 21 Abs. 1a Nr. 3 BSHG, oder aber mit einem entsprechenden Betrag in der Kinder-Regelleistung § 28 SGB II versehen sein müssen.
Was die Höhe einer realistischen Position Schulbedarf betrifft, so sei hier an die französische Regelung erinnert, die Hilfeempfängern und Minderbemittelten pro Schuljahr und Schulkind 268,01 Euro zugesteht [http://www.botschaft-frankreich.de/spip.php?article1839].
Auswirkungen auf § 23 Abs. 3 Nr. 3 SGB II (Klassenfahrten)
Der Anspruch auf Übernahme der Kosten einer mehrtägigen Klassenfahrt ist personenbezogen. Er gilt auch im Falle sogenannter Minderbemitteltheit, ist also nicht an den laufenden Bezug von SGB II-Leistungen gebunden.
In beiden Fällen – minderbemittelte Nicht-„Hartz IV“-Haushalte wie „Hartz IV“-Haushalte in denen Kinder auf Grund von Unterhaltsleistungen ohne Kindergeld nicht hilfebedürftig sind – wird das übersteigende Einkommen auf maximal sieben Monate (Bescheidungsmonat plus sechs Monate) angerechnet. Dies konnte im Einzelfall dazu führen, daß ein Antrag auf Übernahme der Kosten einer mehrtägigen Klassenfahrt wegen ausreichenden Einkommens abgelehnt wurde. Durch die Entscheidung des BVerfG ist die Regelleistung § 28 SGB II nicht mehr ausreichend, so daß übersteigendes Einkommen bei Klassenfahrten nicht mehr angerechnet werden dürfte. Zumindest sollten Anträge auf Kostenübernahme in bisher wegen ausreichenden eigenen Einkommens abgelehnten Fällen gestellt und auch gerichtlich durchgefochten werden.
Auswirkungen auf § 31 SGB II (Bestrafung)
Die klare Bestimmung des Individualitätsprinzips als Basis bei der Bestimmung des Existenzminimums durch das BVerfG beinhaltet automatisch eine analoge Berücksichtigung bei Sanktionen. D.h., die Bestrafung, wie sie bis jetzt an Hand der Regelungen des § 31 SGB II – und in dessen Gefolge automatisch des § 32 SGB II – vorgenommen wird, ist verfassungswidrig und dürfte analog der Härtefallregelung ab 9. Februar 2010 nicht mehr zur Anwendung kommen. Dies gilt insbesondere für die starre, vom Wohlverhalten der Hilfeempfänger völlig unabhängigen dreimonatigen Bestrafung wie auch hinsichtlich der Bestrafung oberhalb des „sozio-kulturellen“ Anteils innerhalb der Regelleistung.
Damit dürfte auch hier wieder das BSHG ins Blickfeld rücken.
Der Sanktionsparagraph des BSHG regelte in § 25 Abs. 1 BSHG eine Absenkung der Hilfe um 25 Prozent in einem ersten Schritt. In § 25 Abs. 2 BSHG war geregelt, daß die Hilfe nur „bis auf das zum Lebensunterhalt Unerläßliche eingeschränkt werden“ konnte. Allerdings wurde in der Praxis bei besonders hartnäckiger Arbeitsverweigerung auch die komplette Streichung der Hilfe vorgenommen. Bei Wohlverhalten des Hilfeempfängers, der Hilfeempfängerin war die Sozialhilfe sofort wieder in voller Höhe auszuzahlen. In der Fachkommentierung (vgl. LPK-BSHG, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden, 6. Aufl. 2003) wurde zugleich davon ausgegangen, daß eine Kürzung nicht länger als drei Monate dauern durfte. Damit war eine Kumulierung wie im Falle des § 31 SGB II durch Abs. 1 und Abs. 2 nicht möglich. Ebenso wurde davon ausgegangen, daß Hilfeempfänger, Hilfeempfängerinnen, die nur ergänzende Leistung unterhalb der Höhe des Regelsatzes bezogen, gar nicht sanktioniert werden durften.
Im Falle hartnäckiger Weigerung zum Beispiel eine – heutzutage „Ein-Euro-Job“ genannte – Arbeitsgelegenheit auszuführen, mußte in Ausübung behördlichen Ermessens die Hilfe wieder aufgenommen werden, weil die Sanktionierung als „erzieherische Maßnahme“ konzipiert war und nicht wie heute der § 31 SGB II als Strafe mit starrem Strafmaß und ohne behördliches Ermessen. Diese Bestrafungdürfte jetzt ebenfalls mit Wirkung ab 9. Februar 2010 nach der BVerfG-Entscheidung nicht mehr möglich sein.