Herbert Masslau

Alg II: Vorlagepflicht von Kontoauszügen?

(11. Juni 2007)

 

 

Aktualisierung:

Das BSG hat am 19. September 2008 zur Vorlagepflicht von Kontoauszügen entschieden (B 14 AS 45/07 R):

Grundsätzlich ja. Es ist auch kein Unterschied zwischen Erstantrag und Wiederholungsantrag. Auch dürfen die Daten über drei Monate erhoben werden; dies sei nicht unverhältnismäßig. Die Vorlage sei erforderlich für die Prüfung der Leistungsvoraussetzungen. Auf der Einnahmenseite muß alles erkennbar sein, auf der Ausgabenseite muß in jedem Fall der Geldbetrag erkennbar sein, lediglich im Rahmen des § 67 Abs. 12 i.V.m. § 67a SGB X dürfen bestimmte Daten geschwärzt werden („Besondere Arten personenbezogener Daten sind Angaben über die rassische und ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder philosophische Überzeugungen, Gewerkschaftszugehörigkeit, Gesundheit oder Sexualleben).

Ansonsten nahm das BSG zum informationellen Selbstbestimmungsrecht in der mündlichen Urteilsbegründung keine weitere Stellung. (Herbert Masslau, 19.9.2008)

 

 

Bei Antragstellung verlangen die Sozialbehörden die Vorlage von Kontoauszügen. Dies nicht nur bei erstmaliger Antragstellung auf Arbeitslosengeld II, sondern auch bei allen Wiederholungsanträgen. Die Optionskommune Göttingen verlangt zum Beispiel bei jedem Wiederholungsantrag alle halbe Jahr die Vorlage der Kontoauszüge der letzten drei Monate. Dies würde bei Beachtung dazu führen, daß die Sozialbehörde im Zeitraum eines Jahres die Kontoauszüge eines halben Jahres eingesehen hätte.

Obwohl die Datenschutzbeauftragten immer wieder darauf hinweisen, daß die Vorlage von Kontoauszügen nur bei erstmaligem Bezug von Alg II angemessen sei oder bei Bestehen eines Betrugsverdachtes, so ignorieren die Sozialbehörden dies und verlangen pauschal mit jedem Antrag die Vorlage der Kontoauszüge.

So stellt sich die Frage, wie die Sozialgerichte dieses Thema beurteilen.

 

Die Rechtsgrundlage:

Es gibt keine Rechtsnorm (Gesetz, Verordnung), die die Vorlage von Kontoauszügen bei der SGB II-Behörde vorschreibt oder regelt.

Lediglich über die Mitwirkungsobliegenheiten § 60 ff. SGB I, deren Nichtbefolgung eine Nichtbewilligung der beantragten Leistung zur Folge haben kann, wäre die Vorlage von Kontoauszügen indirekt erzwingbar. Das allerdings auch nur bei bestehendem konkreten Verdacht auf Leistungsmißbrauch, welchen die Sozialbehörde dem Antragsteller bzw. der Antragstellerin mitzuteilen hat, damit dieser bzw. diese sich durch Beweismittel entlasten kann.

 

Die Datenschützer::

Die Datenschutzbeauftragten lehnen eine generelle Vorlagepflicht bezüglich Kontoauszügen ab. Nur bei erstmaliger Antragstellung und bei Vorlage eines konkreten Betrugsverdachtes stimmen sie der Vorlage von Kontoauszügen zu.

Dabei ist zu beachten, daß die Kontoauszüge von den Sozialbehörden nicht gespeichert oder in den Akten abgelegt werden dürfen, sondern die zuständigen Sachbearbeiter dürfen nur Einsicht in die Kontoauszüge nehmen und müssen darüber einen Vermerk in der Leistungsakte machen, und zwar darüber, daß sie und für welchen Zeitraum sie Kontoauszüge eingesehen haben und darüber, ob sich daraus Leistungsvernichtendes ergeben hat oder nicht.

Der Landesdatenschutzbeauftragte für Schleswig-Holstein:

„Grundsätzlich gilt, dass eine ARGE nicht ohne Grund die Vorlage von Kontoauszügen verlangen darf (§ 67a SGB X).  Zulässig ist die Aufforderung zur Vorlage von Kontoauszügen insbesondere bei der erstmaligen bzw. erneuten Beantragung von Leistungen, zur Klärung einzelner Angaben, wenn alternative Möglichkeiten der Sachverhaltsklärung fehlen, oder bei Verdacht auf Sozialleistungsbetrug. Kopien einzelner Kontoauszüge dürfen nur dann zur Akte genommen werden, wenn sich aus diesen ein leistungsrelevantes Datum ergibt. Zudem haben Sie grundsätzlich das Recht, Buchungstexte von geringfügigen Soll-Buchungen zu schwärzen.“ [Unabhängiges Landeszentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein (ULD), Die häufigsten Fragen zum Datenschutz beim Arbeitslosengeld II, Broschüre, Stand 1. März 2007 – https://www.datenschutzzentrum.de/material/tb/tb29/kap04_5.htm]

Schon mit Stand November 2005 sahen sich die Datenschutzbeauftragten der Bundesländer zur Herausgabe der „Gemeinsame[n] Hinweise der Landesbeauftragten für den Datenschutz der Länder Berlin, Brandenburg, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein zur datenschutzgerechten Ausgestaltung der Anforderung von Kontoauszügen bei der Beantragung von Sozialleistungen“ aufgrund der sozialbehördlichen Praxis veranlaßt. U.a. heißt es dort [http://www.datenschutz-berlin.de/doc/de/sonst/kontoauszuege.pdf]:

„Der Antragsteller ist zwar verpflichtet, seine Hilfsbedürftigkeit nachzuweisen und der Leistungsträger muss in der Lage sein, anhand nachweisbarer Kriterien über den Antrag entscheiden zu können, jedoch begegnet eine pauschale Anforderung von Kontoauszügen datenschutzrechtlichen Bedenken.“

„Die Anforderung der Kontoauszüge der letzten drei bis sechs Monate ist grundsätzlich in folgenden Fallgruppen zulässig:

a) erstmalige Beantragung …

b) Beantragung von einmaligen Beihilfen …

c) während des laufenden Hilfebezuges frühestens nach Ablauf von zwölf Monaten,

d) zum Zwecke der Klärung einer konkreten Frage zu der Einkommens- und Vermögenssituation der Hilfesuchenden, wenn diese nicht durch die Vorlage anderer Unterlagen herbeigeführt werden kann bzw. wenn konkrete Zweifel an der Vollständigkeit oder Richtigkeit der Angaben der Hilfesuchenden bestehen….“

Damit hatten sie auch für das SGB II und SGB XII die seinerzeit vom niedersächsischen Landesdatenschutzbeauftragten zur alten Sozialhilfe (BSHG) erarbeiteten Kriterien übernommen.

Und weiter hieß es:

„Insbesondere bei Soll-Buchungen über geringere Beträge (regelmäßig bis 50 [Euro] kann der Hilfesuchende die zu den Einzelbuchungen aufgeführten Texte in der Regel schwärzen. …

Das Schwärzen von Haben-Buchungen, d.h. Einnahmen, kann zu einer Verletzung der Mitwirkungspflicht gemäß § 60 Abs. 1 SGB I führen…“

„Kontoauszüge dürfen vom Leistungsträger eingesehen werden… . Allerdings stellt die Verpflichtung zur Vorlage von Kontoauszügen gemäß § 60 SGB I keine Befugnis zur Speicherung dieser Daten dar. … Im Regelfall genügt ein Vermerk in der Akte, aus welchem Zeitraum Kontoauszüge eingesehen wurden und dass keine für den Leistungsanspruch relevanten Daten ermittelt wurden. Werden derartige Daten ermittelt, so genügt es, diese in der Akte zu vermerken.“

 

Die Sozialgerichte:

Mittlerweile haben einige Sozialgerichte das Thema Vorlage von Kontoauszügen behandelt und darüber entschieden.

Die erste maßgebliche und richtungsweisende Entscheidung, an der sich in der Folgezeit andere Sozialgerichte positiv wie negativ abgearbeitet haben, war eine Entscheidung des Hessischen Landessozialgerichts:

„Der Ast hat auch keine Mitwirkungspflichten i.S.d. §§ 60 ff. SGB I verletzt … .Seine Weigerung, die Kontoauszüge der zurückliegenden Monate … vorzulegen, ist unschädlich, denn entgegen der Auffassung des Ag. sind diese Urkunden weder ‚leistungserheblich’ noch ‚erforderlich’ im Sinne des § 60 Abs. 1 Nr. 1 SGB I.“ …

„Ebenso wenig hat der Ag. konkrete Anhaltspunkte benannt, welche einen Verdacht auf einen beabsichtigten Leistungsmissbrauch und im Einzelfall vielleicht ein solches Ansinnen begründen könnten. Der Antragsteller stützt sich demgegenüber zu Recht auf sein Sozialgeheimnis im Sinne des § 35 SGB I, dass nämlich die ihn betreffenden Sozialdaten im Sinne des § 67 Abs. 1 SGB X von den Leistungsträgern nicht unbefugt erhoben werden dürfen.“…

„Es steht aber nicht im Belieben der Verwaltung, Umfang und Reichweite der Mitwirkungspflichten von Antragstellern ohne konkrete rechtliche Grundlage festzulegen und bei deren Nichterfüllung sogar die Sanktion der Leistungsversagung zu verhängen.“…

„Etwas anderes folgt auch nicht etwa aus dem Amtsermittlungsgrundsatz gemäß § 20 SGB X, denn die Regelungen des Datenschutzes gehen nach § 37 Satz 3 SGB I vor.“ [Hessisches LSG, Beschluß vom 22. August 2005, Az.: L 7 AS 32/05 ER, zit.n. Rechtsprechungsdatenbank auf www.tacheles-sozialhilfe.de]

So auch SG Freiburg, Beschluß vom 12. Oktober 2005, Az.: S 4 AS 4006/05 ER [zit.n. Rechtsprechungsdatenbank auf www.tacheles-sozialhilfe.de]:

Die Antragstellerin hat auch keine Mitwirkungspflichten im Sinne der §§60 ff. SGB I verletzt … . Ihre Weigerung, die Kontoauszüge der zurückliegenden Monate vorzulegen, ist unschädlich, da diese entgegen der Auffassung des Antragsgegners weder leistungserheblich noch erforderlich im Sinne des § 60 Abs. 1 Nr. 1 SGB I sind … .“ … „Etwas anderes könnte lediglich dann gelten, wenn konkrete Anhaltspunkte für einen Verdacht auf Leistungsmissbrauch bestehen.“ … „Die Antragstellerin stützt sich demgegenüber zu Recht auf ihr Recht auf Sozialgeheimnis im Sinne des § 35 SGB I, wonach die sie betreffenden Sozialdaten im Sinne des § 67 Abs. 1 SGB X von den Leistungsträgern nicht unbefugt erhoben werden dürfen.“

Ebenso SG Meiningen, Beschluß vom 11. Mai 2006, Az.: S 17 AS 747/06 ER [zit.n. Rechtsprechungsdatenbank auf www.tacheles-sozialhilfe.de]:

„Eine konkrete gesetzliche Verpflichtung des Antragstellers, Kontoauszüge vorzulegen, gibt es nicht. In „§ 67a des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) ist lediglich geregelt, dass die Datenerhebung beim Betroffenen zu erfolgen hat.“ … „Nach Auffassung des Gerichts ist die Antragsgegnerin nicht berechtigt pauschal und ohne berechtigte Zweifel an der Bedürftigkeit des Antragstellers bzw. seinen Vermögensverhältnissen die Vorlage von ungeschwärzten Kontoauszügen zu verlangen.“

Grundsätzlich so auch LSG Nordrhein-Westfalen im Beschluß vom 12. Juli 2006, Az.: L 9 B 48/06 AS ER, trotz negativer Entscheidung im konkreten Einzelfall wegen der Nichtklärbarkeit des Sachverhalts.

Umfassend SG Detmold, Beschluß vom 7. September 2006, Az.: S 21 AS 133/06 ER [zit.n. Rechtsprechungsdatenbank auf www.tacheles-sozialhilfe.de]:

„Nach § 60 Abs. 1 S. 1 SGB I hat derjenige, der Sozialleistungen beantragt oder erhält, Beweismittel zu bezeichnen und auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers Beweisurkunden vorzulegen oder ihrer Vorlage zuzustimmen. Beweisurkunden im Sinne dieser Vorschrift sind auch Kontoauszüge… .“

„Die Vorlage von Kontoauszügen ist aber nur gerechtfertigt, wenn ein begründeter Verdacht auf Leistungsmissbrauch besteht … .“

„Das aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Grundgesetzes, Art. 2 Abs. 1 GG, und der Menschenwürde, Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitete Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung lässt Einschränkungen nur im überwiegenden allgemeinen Interesse zu, die zudem einer verfassungsgemäßen gesetzlichen Grundlage bedürfen und dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit entsprechen müssen … .“

„Es steht aber nicht im Belieben der Verwaltung, Umfang und Reichweite der Mitwirkungspflichten von Antragstellern ohne konkrete rechtliche Grundlage festzulegen und bei deren Nichterfüllung sogar die Sanktion der Leistungsversagung zu verhängen.  … Etwas anderes folgt auch nicht etwa aus dem Amtsermittlungsgrundsatz gemäß § 20 SGB X, denn die Regelungen des Datenschutzes gehen nach § 37 Satz 3 SGB I vor … .“

 

Aber auch die andere Seite soll hier nicht verschwiegen werden. Schon der Ton der Entscheidungen macht klar, was bezweckt wird seitens dieser Gerichte.

So das SG München im Beschluß vom 9. September 2005, Az.: S 50 AS 472/05 ER [zit.n. Rechtsprechungsdatenbank auf www.tacheles-sozialhilfe.de], also kurz nach der richtungsweisenden Entscheidung des Hessischen LSG:

„Entgegen der Auffassung des hessischen Landessozialgerichts im Beschluss vom 22.8.2005 (L 7 AS 32/05) wird aus zurückliegenden Kontobewegungen z.B. ersichtlich, ob die Antragstellerin Zuwendungen Dritter erhält oder größere Beträge transferiert hat und welche sonstigen leistungserheblichen Transaktionen bisher vorgenommen wurden. Ein Verdacht auf beabsichtigten Leistungsmissbrauch im Einzelfall – der bei Vorlage geschwärzter Kontoauszüge naheliegt – ist nicht erforderlich. Wenn die Antragstellerin Geld will, muss sie die angeforderten Nachweise vorlegen, da das informationelle Selbstbestimmungsrecht durch die §§ 60 f. SGB I im Interesse daran, aus Steuermitteln finanzierte ungerechtfertigte Leistungen zu vermeiden, eingeschränkt wird (…).“

In einem anderen Fall hat das Bayerische LSG im Beschluß vom 15. September 2006, Az.: L 7 B 445/06 AS ER [zit.n. Rechtsprechungsdatenbank auf www.tacheles-sozialhilfe.de] eine gleichlautende Entscheidung des SG München bestätigt und dessen Position übernommen:

„Das Interesse des Bf an einem vorläufigen Rechtsschutz überwiege nicht das Interesse der Bg, Leistungen erst nach vollständiger Aufklärung des Sachverhalts zu erbringen. Der Bf berufe sich nur allgemein auf den Schutz der Sozialdaten und habe nicht glaubhaft gemacht, dass er im konkreten Fall ein besonderes Interesse an diesem Datenschutz habe. Da eine gewichtige Verletzung seiner Interessen durch eine Vorlage der von der Bg im Original und im ungeschwärzten Zustand geforderten Kontoauszüge nicht erkennbar sei, …, müsse die Klärung der in den Vordergrund gestellten Frage des Datenschutzes dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.“

Also entweder kein Geld für den Lebensunterhalt oder Verzicht auf und Verletzung des Verfassungsrechts auf informationelle Selbstbestimmung zu Gunsten behördlicher Schnüffelei, denn was geht es die Behörde an, bei welchem Versandhandel bestellt wird, in welchem Sportverein Mitgliedschaft besteht etc. Die Richter vom SG München sagens direkt: Wer Geld vom Staat will, für den gelten Verfassungsrechte nicht. Ob diese Richter auch so gegenüber den Vorständen von Siemens – wo wir grad in Bayern sind – handeln würden, oder gegenüber den ‚Amigos’ von der CSU?

Aber schon hier deutet sich ja etwas an, was – und da beginnen die Schwaben den Bayern den Rang abzulaufen – nicht nur durch den kriminalisierenden Genralverdacht der Schäubles gegen die Bürger (Stichwort: heimliche Online-Durchsuchung, Speicherung biometrischer Daten, Verwendung der Mautbrücken-Kameras zu Überwachungszwecken etc.) Kontur gewinnt.

 

Der kleine Kontext:

Im aktuellen politischen Kontext muß auch folgende Entscheidung des SG Reutlingen gesehen werden:

In dieser Entscheidung des SG Reutlingen offenbart sich der Antrag des Landes Baden-Württemberg vom 13. Dezember 2005 an den Bundesrat (und von diesem beschlossen am 10. Februar 2006) mit dem Titel „Entschließung des Bundesrates zur Bekämpfung von Sozialleistungsmissbrauch“ [BRat-Drs. 892/05], in welchem eine Rechtsgrundlage gefordert wird für den Datenabgleich zwischen Ermittlungsbehörden (=Staatsanwaltschaften) und den Sozialleistungsbehörden, und zwar „zum Zwecke der präventiven Bekämpfung von Sozialleistungsmissbrauch “– zum Wortvergleich die entsprechende Passage aus der SG Reutlingen-Entscheidung: „Das Ziel, von der Allgemeinheit finanzierte Leistungen nur an wirklich Hilfebedürftige auszuzahlen und die Aufgabe der vorbeugenden Bekämpfung des Leistungsmissbrauchs stellen ein überwiegendes Allgemeininteresse (…) dar.“ –. Was ja nur heißen kann: Alle bekannten Diebe sind potentielle Sozialleistungsmißbräuchler und alle Sozialleistungsempfänger sind potentielle Diebe. Beim Letzteren steckt wohl der schwäbische Mammon-Zynismus dahinter: im Ländle wird sauber geschmiert, honorig, heißt: die Bosse schmieren die Bonzen.

SG Reutlingen, Urteil vom 9. Januar 2007, Az.: S 2 AS 1073/06 [zit.n. Online-Rechtsprechungsdatenbank auf www.tacheles-sozialhilfe.de]:

„Die Klägerin ist verpflichtet, der Beklagten ihre Kontoauszüge jedenfalls der letzten drei Monate ungeschwärzt vorzulegen, sofern sie Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitssuchende für sich oder andere, mit ihr in Bedarfsgemeinschaft lebende Personen beantragt.

a) Diese Pflicht folgt aus § 60 Abs. 1 Satz 1 Ziffer 3 SGB I i.V.m. § 67a Abs. 1 Satz 1 SGB X (…). Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 Ziffer 3 SGB I hat derjenige, der Sozialleistungen beantragt, auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers Beweisurkunden vorzulegen oder ihrer Vorlage zuzustimmen. Beweisurkunden in diesem Sinne sind auch Kontoauszüge (…). Die in den Kontoauszügen enthaltenen Daten geben Aufschluss über die Höhe der Ein- und Ausgänge, das Buchungsdatum, den Empfänger bzw. Absender der Buchung und im Regelfall auch über den Grund … der Zahlung (…). Nach § 67a Abs. 1 Satz 1 SGB X ist das Erheben von Sozialdaten durch die in § 35 SGB I genannten Stellen zulässig, wenn ihre Kenntnisse zur Erfüllung einer Aufgabe der erhebenden Stelle nach dem SGB erforderlich ist.

Die Vorlage der Beweisurkunden ist im vorliegenden Kontext erforderlich und geeignet, um die Hilfebedürftigkeit der Klägerin im Sinne des § 9 SGB II festzustellen zu können.“

„Für die Feststellung, ob Einkommen und Vermögen vorhanden ist, genügt der aktuelle Kontoauszug nicht, da die Kenntnis der Kontobewegungen der letzten Monate zur vollständigen Ermittlung von Einkommen und Vermögen erforderlich ist (…). Eine Vorlage nur der aktuellen Kontoauszüge würde hinsichtlich des Einkommens nur punktuelle und hinsichtlich in der Vergangenheit erworbenen Vermögens keinerlei Informationen liefern. Aus den früheren Kontoauszügen sind Kontobewegungen ersichtlich, etwa darüber, ob die Klägerin Zuwendungen Dritter erhält oder größere Beträge transferiert hat und welche sonstigen leistungserheblichen Transaktionen bisher vorgenommen wurden (…). Die Vorlage ungeschwärzter Kontoauszüge ist auch insofern erforderlich, als ein milderes Mittel zur Verifizierung der Hilfebedürftigkeit nicht vorhanden ist (…). Die Vorlage lediglich (teilweise) geschwärzter Kontoauszüge würde den Zweck der Vorlage konterkarieren, weil dann für den Leistungsträger gar nicht ersichtlich ist, welche Buchungsposten geschwärzt sind.“

„b) Die Pflicht zur Vorlage ungeschwärzter Kontoauszüge – … – ist nicht davon abhängig, dass ein konkreter Verdacht besteht, dass der Betroffene falsche Angaben gemacht habe (…). Dies hat entgegen der Auffassung der Klägerin nichts mit einer pauschalen Kriminalisierung zu tun, sondern ist die angemessene Antwort des Rechts auf die Zwänge einer – … – Massenverwaltung, die einerseits die berechtigten Ansprüche der Betroffenen zu erfüllen hat, andererseits aber auch ohne konkreten Verdacht im einzelnen von vorneherein dem Leistungsmissbrauch entgegenwirken muss. Dies gilt erst Recht im vorliegenden Kontext, wo es um die Vergabe von aus Steuermitteln – also von der Allgemeinheit – finanzierten Leistungen geht (…), zu denen der jeweilige Betroffene kein eigenes Leistungsäquivalent beigetragen hat.

– Die Leistung mancher Richter für die Allgemeinheit soll ja darin bestehen, daß sie sich ihre von der Allgemeinheit finanzierten Beamtengehälter damit verdienen, Millionenbetrüger freizusprechen oder nur zu belanglosen Bewährungsstrafen zu verurteilen! –

Weiter:

„c) … Angesichts der nicht unerheblichen monatlichen, aus Steuermitteln finanzierten Leistungsbeträge von mehreren hundert Euro ist die Vorlage insbesondere angemessen… .“

d) Aus den vorgenannten Gründen steht der Pflicht zur Vorlage ungeschwärzter Kontoauszüge auch nicht der Schutz der Sozialdaten aus §§ 35 SGB I, 67 ff. SGB X entgegen; es handelt sich nämlich um leistungserhebliche Beweismittel, die im Sinne des § 67a SGB X zur ordnungsgemäßen Erfüllung der Aufgaben der Sozialverwaltung erforderlich sind (…).

e) Schließlich begegnet die Pflicht zur Vorlage ungeschwärzter Kontoauszüge auch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken (…). Zwar liegt in der Statuierung einer solchen Pflicht ein Eingriff in das sog. Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, das das Bundesverfassungsgericht als Element des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG (…) verortet;…“  

„Dieser Eingriff ist jedoch verfassungsrechtlich gerechtfertigt. … Eingriffe in die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Rechte sind vielmehr im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung, das heißt hier aufgrund der Gesamtheit aller formell und materiell verfassungsmäßigen Normen zulässig…“

– Die einfachrechtliche Regelung, mit der das Verfassungsrecht ausgehebelt wird, ist gleichzeitig Garant eben dieses Verfassungsrechts ?! –

„Freilich muss die Anwendung der Normen ihrerseits dem Übermaßverbot standhalten,… . Es ist aber bereits im Kontext der einfachrechtlichen Situation dargelegt worden, dass die Vorlage der Kontoauszüge ein geeignetes und erforderliches Mittel zur Erreichung eines legitimen Zweckes ist. … Das Ziel, von der Allgemeinheit finanzierte Leistungen nur an wirklich Hilfebedürftige auszuzahlen und die Aufgabe der vorbeugenden Bekämpfung des Leistungsmissbrauchs stellen ein überwiegendes Allgemeininteresse (…) dar (…). Es widerspricht nämlich dem Gedanken des sozialen Rechtsstaates, dass Mittel der Allgemeinheit, die zur Hilfe für deren bedürftige Mitglieder bestimmt sind, mangels genügender Kontrolle auch in Fällen in Anspruch genommen werden können, in denen wirkliche Bedürftigkeit nicht vorliegt (…). Will jemand aus Steuermitteln finanzierte öffentliche Leistungen ohne eigenes Leistungsäquivalent erhalten, müsste er daher auch schwerwiegende Eingriffe in seine informationelles Selbstbestimmungsrecht dulden, ohne dass dies gegen Verfassungsrecht verstößt.

– Ich möchte mal den Richter sehen, der es wagt, von Unternehmen, die öffentliche Gelder wollen, die Offenlegung ihrer Kontobewegungen zu verlangen! –

Und die SG Reutlingen-Entscheidung endet mit folgender Bemerkung:

„Entsprechend ist auch nie die Verfassungsmäßigkeit der Generalklauseln des Polizeirechts ernsthaft in Frage gestellt worden. Die Kammer vermag nicht zu erkennen, wieso im Sozialverwaltungsverfahrensrecht, das regelmäßig weit weniger eingreifenden Charakter hat, ungleich strengere Maßstäbe an die Bestimmtheit einer Ermächtigungsgrundlage gestellt werden sollten.“

– Nicht, das genau wegen Verfassungswidrigkeit das niedersächsische Polizeigesetz vom Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 27. Juli 2005 (Az.: BVerfG, 1 BvR 668/04) [http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rs20050727_1bvr066804.html] in Teilen für nichtig erklärt wurde, eben wegen Verletzung des Bestimmtheitsgebotes und des Verhältnismäßigkeitsgebotes.

 

Der große Kontext:

Schon in meinem Artikel „Der Dritte Weltkrieg“ schrieb ich davon, daß ein wesentliches Element zur Vorbereitung des kommenden Dritten Weltkriegs die Ruhe an der „inneren Front“ ist.

Die sog. Unschuldsvermutung ist ein wesentlicher Bestandteil aller demokratischen Gesellschaften. Nur in Diktaturen wird und muß von immerwährender Bereitschaft zum Umsturz ausgegangen werden. Diese Unschuldsvermutung, wonach nicht der einzelne Bürger dem Staat seine Gesetzestreue nachweisen muß, sondern der Staat dem einzelnen Bürger den geplanten Gesetzesverstoß belegen muß, steht im Rahmen der Vorbereitungen auf den Dritten Weltkrieg international in den sog. Industriestaaten zur Disposition. Daß dabei die angelsächsischen Nationen Vorreiter eines neuen Faschismus sind, ergibt sich aus deren Zwang, ihre Spitzenposition auf dem Weltmarkt gegen Russland, die EU und China verteidigen zu müssen.

So wundert es auch nicht, daß die Engländer Vorreiter bei der Abschaffung der Unschuldsvermutung und der Einführung des Generalverdachts gegen die eigenen Landesbürger sind:

Schon jetzt werden die Briten mit über 4 Millionen Videokameras (eine auf 14 Einwohner, jeder Einwohner 300 mal am Tag aufgenommen) überwacht [http://www.thenews.com.pk/daily_detail.asp?id=57381]. Jetzt kommen aktuell die ersten Drohnen zum Einsatz. Drohnen, bisher nur vom Militär und den Geheimdiensten z.B. zur Überwachung von Kriegs- und Aufstandsgebieten eingesetzt, sollen der Bekämpfung von „Verbrechen und antisozialem Verhalten“ dienen [http://www.heise.de/newsticker/meldung/90013].

Auch sollen nach dem Willen des Britischen Innenministeriums „Verwaltungsangestellte, Sozialarbeiter und Ärzte […] künftig gesetzlich verpflichtet werden, Informationen über mögliche Gewaltverbrecher an die Polizei weiterzugeben.“ [http://www.heise.de/newsticker/meldung/90027], womit wir schon wieder bei dem schwäb’schen Bundesratsantrag (s.o.) wären.

Begründete Verdachtsmomente müßten dabei nicht nachgewiesen werden, einer der Aspekte, weswegen das Bundesverfassungsgericht das Niedersächsische Polizeigesetz in Teilen für verfassungswidrig und nichtig erklärt hatte (s.o.).

Kein Grund für die Betreiber der Einführung des Generalverdachts gegen alle Bürger nicht weiterzumachen:

Da werden Zwangsproben von Körpergerüchen von G8-Kritikern genommen, die laut Bundesanwaltschaft keinen Beweiswert haben. „Wir sind aber der Meinung, dass sie einen Indizwert hat und in eine Gesamtwürdigung eingestellt werden kann.“ [laut Meldung auf http://www.tagesschau.de/ vom 22. Mai 2007].

Kafka läßt grüßen:

„Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ … „K. lebte doch in einem Rechtsstaat, überall herrschte Friede, alle Gesetze bestanden aufrecht, wer wagte, ihn in seiner Wohnung zu überfallen?“ … (Der Aufseher:)“Sie sind verhaftet, gewiß, aber das soll Sie nicht hindern, Ihren Beruf zu erfüllen. Sie sollen auch in Ihrer gewöhnlichen Lebensweise nicht gehindert sein.“ [Zitate aus dem Anfang von Franz Kafka, Der Prozeß, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M., 1971, 442.-481. Tsd.]

 

 

 

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