Herbert Masslau

Verfassungsmäßigkeit der Regelleistung SGB II teilweise noch offen

(28. Februar 2007)

 

 

Der 11b. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat am 23. November 2006 im Verfahren B 11b AS 1/06 R über die Verfassungsmäßigkeit der SGB II-Regelleistung durch Urteil entschieden.

Nachfolgend deshalb zunächst einige Zitate aus dieser BSG-Entscheidung:

„Durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken bestehen ferner nicht gegen die in § 20 Abs 2 und 3 SGB II gesetzlich festgeschriebene Höhe der Regelleistungen.“ [Rdnr. 46]

„Soweit dem Begriff der Sicherung der "Mindestvoraussetzungen" die Forderung nach einem Schutz vor Existenznot im Sinne einer Sicherung der physiologischen Existenz des Bürgers zu entnehmen ist (…), bestehen keine Bedenken, dass der Gesetzgeber des SGB II diese Forderung erfüllt, indem er die in den §§ 14 ff SGB II vorgesehenen Leistungen zur Verfügung stellt und darüber hinaus Regelungen zur Einbeziehung der Hilfebedürftigen in den Schutz der Sozialversicherung trifft (zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung …).“ [Rdnr. 47]

„Allerdings ist in der Rechtsprechung des BVerwG zur Sozialhilfe anerkannt, dass die staatliche Gewährleistungspflicht nicht nur auf die bloße Sicherung der körperlichen Existenz beschränkt ist, sondern auch die Gewährleistung eines ‚soziokulturellen Existenzminimums’ sowie einen Schutz vor Stigmatisierung und sozialer Ausgrenzung umfasst (…).“ [Rdnr. 48]

„Die Revision vermag auch nicht mit ihren Einwendungen gegen die Höhe der in § 20 Abs 2 SGB II festgelegten Regelleistung von 345 EUR pro Monat für ua allein stehende und allein erziehende Personen durchzudringen. Die vom Gesetzgeber gewählte Art der Bedarfsermittlung und deren Ergebnis sind verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Denn es ist grundsätzlich zulässig, Bedarfe gruppenbezogen zu erfassen und eine Typisierung bei Massenverfahren vorzunehmen.“ [Rdnr. 49]

„Der Senat hat auch berücksichtigt, dass die RSV bis zur Verabschiedung des SGB II durch den Bundestag im Dezember 2003 noch nicht erlassen war und dass erst mit Schreiben der Bundesregierung vom 10. März 2004 der RSV-Entwurf und dessen Begründung dem Bundesrat übermittelt wurde (…), ferner, dass vor dem Gesetzesbeschluss zum SGB II der Vorentwurf einer RSV (…) vorlag, der im Detail von der späteren RSV vom 3. Juni 2004 (…) abweicht. Grundsätzliche Einwände gegen die Festsetzung der Regelleistungen lassen sich aus diesem zeitlichen Ablauf jedoch nicht ableiten, da der Gesetzgeber bei der Ermittlung der - typisierten - Bedarfe wie schon bei der Sozialhilfe auf das Statistikmodell zurückgegriffen hat (…) und erkennbarer Bezugspunkt für die Bemessung der Regelleistung mit 345 EUR die Höhe der bis dahin geltenden Regelsätze (ca 297 EUR) zuzüglich eines an der damaligen Bewilligungspraxis bezüglich einmaliger Leistungen gemessenen Anteils in Höhe von ca 16 vH war (…).“ [Rdnr. 50]

„Eine Unvertretbarkeit der Festsetzung der Regelleistung durch den Gesetzgeber ergibt sich nicht etwa daraus, dass im Schrifttum mangelnde Transparenz gerügt oder auf die angebliche Ausgrenzung einzelner Bevölkerungsgruppen hingewiesen wird (…). Denn angesichts der offenkundigen Schwierigkeiten, die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein auch unter Einbeziehung eines ‚soziokulturellen Existenzminimums’ sachgerecht zu bestimmen, können Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Angemessenheit und der Gewichtung einzelner Größen keine entscheidende Rolle spielen (…).“ [Rdnr. 52]

„Bei der Vertretbarkeitsprüfung ist auch zu bedenken, dass die gegenwärtige Situation durch die Zunahme niedrig entlohnter Tätigkeiten und durch Einkommenseinbußen in breiten Bevölkerungskreisen geprägt ist, weshalb dem Gesichtspunkt des Lohnabstandsgebotes maßgebliche Bedeutung zukommen muss (…). Diesem Gebot entspricht, dass in der Konsequenz der Festlegung der Regelleistung in § 20 Abs 2 SGB II der Hilfeempfänger weniger konsumieren kann als die untersten 20 % der nach ihrem Nettoeinkommen geschichteten Haushalte der EVS ohne Einbeziehung der Hilfeempfänger (…). Vor allem ist aber im Rahmen einer Gesamtbetrachtung zu beachten, dass der Gesetzgeber des SGB II den Hilfebedürftigen nicht nur die Regelleistung, sondern in nicht unwesentlichem Umfang weitere Leistungen zur Verfügung stellt (vgl ua §§ 16, 21, 22, 23 SGB II; zur Möglichkeit, in Ausnahmefällen auch Leistungen nach Maßgabe des SGB XII zu beanspruchen, vgl Urteil des 7b. Senats des BSG vom 7. November 2006 - B 7b AS 14/06 R). Unter Berücksichtigung all dieser Gesichtspunkte vermag der Senat deshalb eine Unvertretbarkeit der Höhe der Regelleistung nicht zu erkennen. Ob und inwieweit den Gesetzgeber über die Anpassungsregelungen in § 20 Abs 4 SGB II hinaus eine besondere Beobachtungspflicht (…) bei der praktischen Umsetzung des Gesetzes trifft, kann der Senat schon im Hinblick auf den hier streitigen Zeitraum dahingestellt sein lassen.“ [Rdnr. 53]

 

Inwieweit die Umsatzsteuererhöhung von 16 % auf 19 % zu Beginn des Jahres 2007 – um den Hinweis des BSG auf die staatliche Beobachtungspflicht aufzugreifen –, die ohne Ausgleich voll zu Lasten der Regelleistung geht, hätte durch eine Anhebung eben dieser Regelleistung aufgefangen werden müssen, werden erst zukünftige Klagen (Bewilligungszeitraum ab 1. Januar 2007) ergeben.

Insgesamt und grundsätzlich aber wäre es besser gewesen, wenn nicht die Klage einer Ehefrau, für die der Ehemann (auch jenseits der schärferen Regelung des § 7 Abs. 3 Nr. 3a SGB II) unterhaltspflichtig ist, der zudem über nach dem Gesetz ausreichendes Einkommen für beide verfügt, zur Entscheidung angestanden hätte, sondern die Klage einer Alleinerziehenden mit schulpflichtigem Kind.

Dann nämlich wäre das BSG verpflichtet gewesen, sich zu den prozentualen Regelleistungen für Kinder zu verhalten, insbesondere auch und gerade angesichts der Tatsache, daß trotz bestehender staatlicher Schulpflicht (Art. 7 GG) bei der Regelleistung keine Position für Schulbedarf enthalten ist. Und auch hinsichtlich der Frage, ob die rein nominelle Besserstellung gegenüber der alten Sozialhilfe (BSHG) in den ersten sieben Lebensjahren erkauft werden darf mit einer Schlechterstellung in der starken Wachstumsphase der Pubertät. Hier waren jedenfalls die BSHG-Regelsätzes trotz Pauschalierung und Typisierung mehr am Menschen orientiert als es jetzt die Regelleistung (§ 28 SGB II) ist.

Ich wage abschließend die Prognose, daß das BSG eines Tages eine stärkere Orientierung der Regelleistung für Kinder an deren Lebensphasen und vorallem eine Bedarfsposition für Schulmaterialien vorschreiben wird. Bis dahin aber werden vorrangig die betroffenen Kinder die Leidtragenden der „Hartz IV“-Re(form)pressalien sein.

 

 

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