„Hartz IV“-Sanktionen – oder
die obergerichtliche Lügerei
(2. Juni 2016)
Bereits bei der Zwangsverrentung war für den Autor die
Fehlheranziehung bundesverfassungsgerichtlicher Entscheidungen zur angeblichen
Untermauerung der eigenen Rechtsprechung durch die Landessozialgerichte (LSG)
Thema [http://www.herbertmasslau.de/zwangsverrentung-ii.html].
Dieses „Phänomen“ findet sich auch bei den „Hartz
IV“-Sanktionen (§§ 31 ff. SGB II).
Bezogen auf den Zeitpunkt der Rechtsänderungen nach dem ersten
Bundesverfassungsgerichtsurteil zur Regelleistung [BVerfG, Urteil vom 9.
Februar 2010, Az.: 1 BvL 1/09 u.a.], also ab dem 1. April 2011, geschah
zunächst in dieser Richtung nichts, bis das Bayerische LSG 2014 vorschoß. Dem
schlossen sich dann ab 2015 auch andere Obergerichte an, vornehmlich das LSG Nordrhein-Westfalen
und das LSG Thüringen. Und so geistert seit 2015 in der obergerichtlichen
Rechtsprechung zu den „Hartz IV“-Sanktionen die völlig aus dem Zusammenhang
gerissene und daher Falschbehauptung eines BVerfG-Wortes durch die
Juristenwelt.
Bayerisches LSG, Urteil vom 19. März 2014, Az.: L 16 AS
383/11 [zit.n. www.sozialgerichtsbarkeit.de]:
„Dem Grundgesetz ist nämlich kein Normbefehl auf
Gewährung von voraussetzungslosen steuerfinanzierten Staatsleistungen zu
entnehmen (BVerfG, Beschluss vom 07.07.2010, 1 BvR 2556/09, ...).“
Bayerisches LSG, Beschluß vom 8. Juli 2015, Az.: L 16 AS
381/15 B ER [zit.n. www.sozialgerichtsbarkeit.de]:
„Auch nach der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts gebietet die Verfassung nicht die Gewährung
bedarfsunabhängiger, voraussetzungsloser Sozialleistungen (BVerfG, Urteil vom
07. 07.2010, 1 BvR 2556/09).“
Bayerisches LSG, Beschluß vom 25. August 2015, Az.:L 11 AS 558/15 B ER [zit.n.
www.sozialgerichtsbarkeit.de]:
„Insbesondere sind vom Bundesverfassungsgericht keine
voraussetzungslosen steuerfinanzierten Staatsleistungen gefordert worden (vgl. Bundesverfassungsgericht,
Beschluss vom 07.07.2010 - 1 BvR 2556/09 -; ...).“
Nachdem das Bayerische LSG mit dieser Falschbehauptung die
Vorreiterrolle übernommen hatte, folgten andere Landessozialgerichte nach:
Thüringisches LSG, Beschluß vom 19. Oktober 2015, Az.: L 4
AS 878/15 NZB [zit.n. www.sozialgerichtsbarkeit.de]:
„Das bedingt jedoch nicht, dass diese Mittel
voraussetzungslos zur Verfügung gestellt werden müssten (ebenso zur
Berücksichtigung von Einkommen BVerfG Nichtannahmebeschluss der 3. Kammer des
1. Senats vom 7.7.2010 - 1 BvR 2556/09 - ...).“
LSG NRW, Beschluß vom 14. Oktober 2015, Az.: L 19 AS 1627/15
B ER [zit.n. www.sozialgerichtsbarkeit.de]:
„Das Grundgesetz gebietet nicht die Gewährung
voraussetzungsloser Sozialleistungen (vgl. z.B. Nichtannahmebeschluss des
Bundesverfassungsgerichts vom 07.07.2010 - 1 BvR 2556/09).“
LSG NRW, Urteil vom 29. Februar 2016, Az.: L 19 AS 1536/15
[zit.n. www.sozialgerichtsbarkeit.de]:
„Das Grundgesetz gebietet nicht die Gewährung voraussetzungsloser
Sozialleistungen (vgl. z.B. Nichtannahmebeschluss des BVerfG vom 07.07.2010 - 1
BvR 2556/09).“
Diese obergerichtliche Darstellung unter dem Verweis auf die
einzige angegebene BVerfG-Entscheidung, die angeblich die LSG-Entscheidungen
stützen soll, findet aber in besagter BVerfG-Entscheidung keine Stütze.
Zunächst einmal lautet die Entscheidungsstelle beim BVerfG,
auf welche sich die Landessozialgerichte beziehen, wie folgt:
BVerfG, Kammerbeschluß vom 7. Juli 2010, Az.: 1 BvR 2556/09,
Rdnr. 13:
„Die Verfassung gebietet nicht die Gewährung von
bedarfsunabhängigen, voraussetzungslosen Sozialleistungen.“
Soweit so richtig. Aber, besagte Stelle reißen die
Obergerichte völlig aus dem Zusammenhang und geben ihr damit zur angeblichen
Rechtfertigung der Leistungskürzungen durch Sanktionen eine Konnotation, die
der Textstelle nicht zukommt.
Die relevanten Passagen aus der immer wieder von den LSG
einzig angeführten BVerfG-Entscheidung lauten folgendermaßen:
BVerfG, Kammerbeschluß vom 7. Juli 2010, Az.: 1 BvR 2556/09:
„Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen
Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip
des Art. 20 Abs. 1 GG enthält einen Anspruch auf die Zurverfügungstellung
derjenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins
unbedingt erforderlich sind (… BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010 – 1 BvL 1/09
u. a. –, …, Rn. 135>). Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin
enthält das Grundrecht keinen Anspruch auf Leistungen zur Rücklagenbildung oder
zur Finanzierung der Aufwendungen für den Besuch einer Privatschule. Wenn die
Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein der Bürger
sichergestellt sind, liegt es allein in der Entscheidung des Gesetzgebers, in
welchem Umfang darüber hinaus soziale Hilfe gewährt wird (…).“[Rdnr. 9]
„Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen
Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip
des Art. 20 Abs. 1 GG) wird durch die Anrechnung von Einkommen nicht verletzt.
Dieses Grundrecht greift dann ein, wenn und soweit andere Mittel zur
Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht zur Verfügung
stehen (vgl. BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010 – 1 BvL 1/09 u. a. –, …, Rn.
134>; …). Die Verfassung gebietet nicht die Gewährung von
bedarfsunabhängigen, voraussetzungslosen Sozialleistungen. Der Gesetzgeber hat
vielmehr einen weiten Spielraum, wenn er Regelungen darüber trifft, ob und in
welchem Umfang bei der Gewährung von Sozialleistungen, die an die Bedürftigkeit
des Empfängers anknüpfen, sonstiges Einkommen des Empfängers auf den
individuellen Bedarf angerechnet wird (…).“ [Rdnr. 13]
„Das Bundessozialgericht durfte nach dem oben
Ausgeführten davon ausgehen, dass ein Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des
Existenzminimums nur besteht, soweit andere Mittel nicht zur Verfügung stehen.
Solche Mittel waren hier jedoch in Gestalt der Leistungen nach dem
Bundesausbildungsförderungsgesetz verfügbar. Durch diese Leistungen einerseits
und die gekürzte Regelleistung andererseits hat die Beschwerdeführerin im
Ergebnis sogar mehr staatliche Leistungen erhalten, als aufgrund § 20 Abs. 2
Satz 2, § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II im streitgegenständlichen Zeitraum gesetzlich
vorgesehen waren, weil die Anrechnung der Leistungen nach dem
Bundesausbildungsförderungsgesetz in den angegriffenen Entscheidungen nur
teilweise erfolgte.“ [Rdnr. 25]
Also nicht nur, daß der dortigen Beschwerdeführerin vom
BVerfG Sozialleistungen oberhalb des „Hartz IV“-Existenzminimums konstatiert
wurden– „im Ergebnis sogar mehr staatliche Leistungen erhalten, als aufgrund §
20 Abs. 2 Satz 2, § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II im streitgegenständlichen Zeitraum
gesetzlich vorgesehen waren“ – und damit gerade keine (!) Absenkung
der für die Sicherung des Existenzminimums nötigen Mittel vorlag, wie es bei
einer Sanktion gemäß §§ 31 ff. SGB II der Fall ist, das BVerfG selbst macht
deutlich, worum es geht, wenn es von nicht „bedarfsunabhängigen,
voraussetzungslosen Sozialleistungen“ spricht:
Es geht um die Anrechnung vorhandenen Einkommens und „dass
ein Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums nur besteht,
soweit andere Mittel nicht zur Verfügung stehen“.
Dies rechtfertigt sich daher, daß ansonsten selbst
Millionäre „Hartz IV“-Leistungen beantragen könnten. Dessen bedürfen aber
Personen nicht, deren Existenzminimum-Bedarf gedeckt ist. Es geht also –
„lediglich“ – darum, daß Einkommen und Vermögen einer Person berücksichtigt
werden. Sind solchermaßen ausreichende Gelder vorhanden, gibt es in der Tat
keinen Anspruch auf staatliche Sozialleistungen, die der Sicherung des
Existenzminimums dienen, um den Grundrechtsschutz (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20
Abs. 1 GG) zu gewährleisten.
Die Kürzung von bereits das Existenzminimum darstellende
Sozialleistungen ist damit nicht zu begründen! Genau das aber tun die oben
genannten Landessozialgerichte.
Und entweder sind die Richter obiger LSG-Entscheidungen zu
dumm zum Lesen oder sie haben absichtlich die Worte aus dem Sinnzusammenhang
gerissen, um damit eine menschenverachtende Gerichtspolitik mit Hilfe einer
Lüge zu betreiben. In beiden Fällen gehören solche Richter nicht an ein
Gericht, das über die grundlegenden Lebensbedingungen von Menschen entscheidet.