Herbert Masslau

Alg II : Das SG Hildesheim

(Neufassung 6. April 2007 / überarb. u. erw. F. 21. Juni 2018)

 

 

„Lieber schnöder Mammon als ganz gesund“ – so die Überschrift eines Berichtes im Göttinger Tageblatt vom 4. Januar 1997 über die Arbeit der Richter des Sozialgerichtes Hildesheim, welches mittlerweile auch für die Alg II-Fälle im Bereich Göttingen-Hildesheim zuständig ist.

Dieses Überschrift-Zitat stammt aus dem Munde eines dieser Richter und ist symptomatisch für die geistige Haltung dieses Gerichtes gegenüber Sozialleistungen einklagenden Personen, genauer Arbeitslosen, Kranken, Rentnern etc.

Wenn einmal nicht unterstellt sein soll, daß der Verfasser des Zeitungsartikels nur die Bürgerschelte der Richter veröffentlicht, hingegen deren eventuell auch formulierte Behördenschelte unterdrückt hat, dann ist dem Artikel in der Tat eine durchgängige ablehnende Haltung des Gerichts gegenüber den Anliegen der klagenden Bürgerinnen und Bürger eindeutig zu entnehmen:

So heißt es aus Sicht der Richter des SG Hildesheim – und Interviewpartner war immerhin auch der damalige Direktor des Gerichts –, daß Gründe für die zunehmende Zahl der Rechtsstreitigkeiten zahlreiche Gesetzesänderungen seien, deren Ziel es sei, Leistungen einzusparen oder zu kürzen. Als Beispiel nannte der damalige Direktor des SG Hildesheim Leistungen für „Akkupunktur“ oder „alternative Medizin“, „ob Blindheit eindeutig festgestellt ist oder ob Sehreste vorhanden sind. Da geht es beim Blindengeld um monatlich 1000 Mark“, „(n)icht selten beharrten Kläger auf einen Rollstuhl, obwohl Ärzte ihn nicht empfehlen“, „(i)nsbesondere bei Berufsunfähigkeitsrenten komme es immer wieder zu Streit. Speziell dann, wenn eine anerkannte Berufskrankheit … wieder aberkannt werden muß“, „(z)unehmend auch die Zahl der Klagen um zurückverlangtes Arbeitslosengeld“.

Wehe dem, der da an das SG Hildesheim gelangt!

Zwar sind in dem Zeitungsartikel benannte Personen mittlerweile zum Teil pensioniert, indes hat sich an der Geisteshaltung dieses Gerichtes nichts geändert.

Die Art und Weise des verhandelten Verfahrensablaufes läßt den Eindruck bestehen, daß sich dieses Gericht eher als verlängerter Arm der Verwaltung betrachtet, als Zweite Widerspruchsbehörde denn als Dritte Gewalt.

Dazu gehört dann auch, die Verwaltung nicht zu verurteilen, sondern Verfahren bis zur faktischen Erledigung liegen zu lassen. Der Vorteil: der Kläger hat sein Ziel erreicht, ohne daß es zu einer Verurteilung der beklagten Behörde gekommen ist; und im Gegensatz zur Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) kennt das Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein Anerkenntnisurteil nicht.

Beispiel: Der Autor dieser Zeilen begehrte im Mai 2003 für zwei Bahnfahrten zu Vorstellungsgesprächen im Rahmen der Arbeitslosenhilfe vom Arbeitsamt die Übernahme der Fahrtkosten, welches das Arbeitsamt verweigerte, weil es sich um Beamtenstellen gehandelt hätte, für die es keine Förderung nach § 45 SGB III gäbe, dies, obwohl vom Autor darauf hingewiesen, daß in Niedersachsen bei Überschreiten der Altersgrenze von 40 Jahren dann nicht mehr im Beamtenverhältnis, sondern im Angestelltenverhältnis in den Schuldienst eingestellt werde. Nicht nur bemerkenswert, daß das Arbeitsamt die Arbeitsmarktverhältnisse beim eigenen Staatsdienst nicht gekannt haben soll, interessant auch, daß die im Juni 2003 erhobene Klage (Az.: S 3 AL 239/03) trotz der Einfachheit der zu behandelnden Rechtsfrage sich hinzog. Den Charakter des Verfahrensablaufes gibt folgendes Zitat aus dem klägerischen Schriftsatz des Autors vom 25. März 2004 gut wieder: „Im Übrigen möchte ich anmerken, daß dem amtlichen Ermittlungsgrundsatz [des Gerichts gemäß § 103 SGG, H.M.] nicht durch ‚demoskopische Umfragen’ darüber, was der Kläger denn meine, Genüge getan wird, sondern durch Ermittlung der Fakten. Hierzu wäre eine Erkundigung zu den objektiven Einstellungskriterien seitens der erkennenden Kammer beim Kultusministerium sicherlich eher angebracht.“

So auf seine Pflichten hingewiesen, holt das SG Hildesheim die Stellungnahme der Bezirksregierung Lüneburg vom 6. April 2004 ein, die die obige Ansicht des Autors und Klägers zu den Einstellungskriterien in den niedersächsischen Schuldienst bestätigt. Diese Stellungsnahme der Bezirksregierung bekommt der Autor vom Gericht erst mit Schreiben vom 2. Juni 2004, also zwei Monate später, zugeschickt. Noch im Juni 2004 zahlt das Arbeitsamt Göttingen dann die Fahrtkosten für die zwei Vorstellungsgespräche an den Autor und Kläger – ein Jahr nach Klageerhebung!

(Nur zur Vollständigkeit: Die vom Autor in eine Fortsetzungsfeststellungsklage umgewandelte Klage wird im April 2005 abweisend beschieden; das Gericht geht davon aus, daß die nach SGB II zuständige Behörde sich in Zukunft rechtmäßig verhält. Dabei war der formelle Übergang vom Arbeitsamt Göttingen auf die Optionskommune Landkreis Göttingen, vom SGB III auf das SGB II nicht das Problem, da in diesem Fall eine Rechtsnachfolge eingetreten ist.)

Das Sozialgericht Hildesheim taucht in der juristischen Fachliteratur eigentlich nicht auf. Und das führt zu Nachteilen für die betroffenen Klägerinnen und Kläger, denn es ist einfacher, sich als verlängerter Arm der Verwaltung zu verstehen, als durch spektakuläre Urteile Rechtsgeschichte zu schreiben.

Entsprechend von intellektueller Armut gekennzeichnet sind die Begründungen der Gerichtsentscheidungen. Selbst dort, wo es mal zu einer für die Betroffenen positiven Entscheidung kommt, wie im Beschluß zum Thema Arbeitslosengeld II und eheähnliche Gemeinschaft (Az.: S 43 AS 188/05 ER): Durch Verweis auf Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes, des Bundessozialgerichtes, des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichtes, des Sächsischen Oberverwaltungsgerichtes, des Sozialgerichtes Saarland, des Sozialgerichtes Düsseldorf macht sich die entscheidende Richterin den eigenen Entscheidungsspielraum so eng, daß er quasi gegen Null tendiert; der Rest der Begründung ist in einem auffälligen Konjunktiv gehalten. Hier will jemand einerseits den Klägern nicht klar Rechte zusprechen, andererseits aber auch nicht gegen eine bis dahin schon erkennbare Tendenz vieler sozialgerichtlicher Entscheidungen zum Arbeitslosengeld II durch eine Gegenposition auffallen. Hier ist nicht entschieden worden durch das SG Hildesheim, hier wurde für das SG Hildesheim durch andere Gerichte entschieden. Erreicht wurde damit allerdings, daß jetzt auch das SG Hildesheim anderweitig zitiert wird.

Dennoch ist die manchmal sogar an den Haaren herbeigezogene Begründung von Entscheidungen zugunsten von Verwaltungen, Leistungsträgern klar.

Beispiel: Nach dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) zu den Unterkunftskosten, in welchem das BSG die pauschale Anwenung der Tabellenwerte § 8 Wohngeldgesetz (WoGG) zur Bestimmung der sog. Angemesenheit der Unterkunftskosten (KdU) für rechtswidrig erklärte und damit insbesondere die niedersächsische Rechtsprechung aufhob, argumentierte die Sozialleistungsbehörde im Falle des Autors nicht mehr pauschal mit dem Tabellenwert § 8 WoGG, sondern behauptete, die realen Wohnungsmarktdaten wären diesbezüglich durch die Tabellenwerte § 8 WoGG abgedeckt. Zum angeblichen Beleg wurde eine angebliche Datenermittlung seitens der Sozialverwaltung präsentiert, von der selbst die zuständige Richterin im Verfahren S 13 AS 1486/06 ER meinte:

„Dies [die Angemessenheit der KdU, H.M.] ergibt sich zwar nicht aus den vom Antragsgegner vorgelegten Auflistungen von Wohnungsannocen, da diese in nicht ausreichendem Maße Auskunft über die Wohnungen bieten.“

Dennoch springt selbige Sozialrichterin der SGB II-Behörde bei Seite zu Lasten des Alg II-Empfängers und seiner Familie:

Bezogen auf ein Gutachten heißt es: „Auch wenn der zugrunde liegende Datenbestand für ein Hauptsacheverfahren nicht ausreichend sein dürfte, genügt sie der Glaubhaftmachung.“

Und um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, fügte Sozialrichterin Schwabe vom SG Hildesheim hinzu:

„Hierbei ist zu berücksichtigen, dass seitens der Antragsteller keine Angemessenheitsgrenze glaubhaft gemacht wurde.“

Eine klare Beweislastumkehr zu Gunsten der Sozialleistungsbehörde und zu Lasten der Betroffenen, abgesehen davon, daß eine Privatperson schon rechtlich, finanziell, technisch und personell die nötigen Wohnungsmarktdaten gar nicht erheben kann – und im krassen Widerspruch zum Bundessozialgericht, welches am 7. November 2006 im Verfahren B 7b AS 18/06 R eindeutig urteilte:

„Die Grundsicherungsträger und die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit werden bei der Prüfung der Angemessenheit der Kosten der Unterkunft nach § 22 SGB II mithin nicht umhin kommen, jeweils die konkreten örtlichen Gegebenheiten auf dem Wohnungsmarkt zu ermitteln und zu berücksichtigen. Liegen keine entsprechenden Mietspiegel bzw Mietdatenbanken (§§ 558c ff Bürgerliches Gesetzbuch) vor, so wird der Grundsicherungsträger zu erwägen haben, für den jeweiligen Zuständigkeitsbereich eigene - grundsicherungsrelevante - Mietspiegel oder Tabellen zu erstellen.“

Hier kommt es nicht mehr auf Argumente an, hier wird sozialrassistisches Verhalten ausgetobt.

Beispiel: Ein besonders krasses Beispiel mußten der Autor und seine Familie seit 2016 erfahren. Richterin Dr. Alexandra Schindehütte, seit Ende 2014 zuständig für alle Verfahren des Autors und seiner Familie lehnte seit 2016 alle Eilrechtsverfahren ab, auch noch, als der 9. Senat des LSG Niedersachsen-Bremen immer wieder diese Entscheidungen hinsichtlich der KdU aufhob und höhere KdU zusprach. Richterin Schindehütte vertrat eine andere Rechtsuaffassung als der seit 2009 für alle Verfahren des Autors und seiner Familie zuständige 9. LSG-Senat. Aufgrund der im jeweiligen Geschäftsverteilungsplan geregelten Zuständigkeit war klar, daß die Entscheidung der 31. SG-Kammer immer wieder vom 9. LSG-Senat geändert werden würde. Das ist schon an Terror grenzende Nötigung.

Den Vogel abgeschossen, wie ein geflügeltes Wort besagt, aber hat Richterin Schindehütte mit ihrer Eilrechtsentscheidung vom 5. Oktober 2017 im Verfahren S 31 AS 4280/17 ER. Zu diesem Zeitpunkt existierte bereits die BVerfG-Entscheidung 1 BvR 1910/12 vom 1. August 2017, die Folgendes besagte:

„Relevante Nachteile können nicht nur in einer Wohnungs- beziehungsweise Obdachlosigkeit liegen (im Ergebnis ebenso: Bayerisches LSG, Beschluss vom 19. März 2013 - L 16 AS 61/13 B ER -, juris, Rn. 30; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschlüsse vom 28. Januar 2015 - L 11 AS 261/14 B -, juris, Rn. 12 ff., und vom 27. Juli 2015 - L 13 AS 205/15 B ER -, juris, Rn. 12 f.; ...). § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II gibt vielmehr die Übernahme der ‚angemessenen’ Kosten vor und dient im Zusammenwirken mit anderen Leistungen dazu, über die Verhinderung der bloßen Obdachlosigkeit hinaus das Existenzminimum sicherzustellen (...). Dazu gehört es, den gewählten Wohnraum in einem bestehenden sozialen Umfeld nach Möglichkeit zu erhalten (vgl. in diesem Zusammenhang BSG, Urteil vom 7. November 2006 - R 7b AS 18/06 R -, juris, Rn. 21). Daher ist bei der Prüfung, ob ein Anordnungsgrund für den Eilrechtsschutz vorliegt, im Rahmen der wertenden Betrachtung zu berücksichtigen, welche negativen Folgen finanzieller, sozialer, gesundheitlicher oder sonstiger Art ein Verlust gerade der konkreten Wohnung für die Betroffenen hätte. Diesen Anforderungen wird das Landessozialgericht vorliegend nicht gerecht. Es stellt allein und schematisch auf die Erhebung der Räumungsklage ab und legt seiner Entscheidung damit ein der gesetzgeberischen Zwecksetzung nicht entsprechendes, zu enges Verständnis des wesentlichen Nachteils zugrunde.“

Dies wurde vom Autor gegenüber Richterin Schindehütte im Eilrechtsverfahren vorgetragen unter Hinweis auf eben diese BVerfG-Entscheidung. Dazu Richterin Schindehütte im Beschluß vom 5. Oktober 2017 (Az.: S 31 AS 4280/17 ER):

„Der 9. Senat des Landessozialgerichts hat in seinen die erstinstanzlichen Beschlüsse jeweils ändernden Entscheidungen zu den Aktenzeichen L 9 AS 310/16 B ER, L 9 AS 941/16 B ER sowie zuletzt L 9 AS 234/17 B ER einen Anordnungsgrund angenommen. Dem kann sich die Kammer auch nach erneuter Prüfung nicht anschließen.“

„Die o.g. Überlegungen gelten auch im Hinblick auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 1.8.2017 zum Aktenzeichen 1 BvR 1910/12. Bei ihrer Entscheidung hat die erkennende Kammer den konkreten Einzelfall geprüft und nicht schematisch auf die Erhebung einer Räumungsklage abgestellt.“

Herauswinden durch haltlose Behauptungen. Die Zeugenbeweisanträge, die belegen, weswegen der Autor und seine Familie nach Räumungsurteil 2013 und Schufa-Eintrag keine andere als die derzeit bewohnte Wohnung finden konnten, sind seit 2014 liegen gelassen worden.

 

Auch Rechtsmittelbelehrungen zu Lasten der Hilfe suchenden Kläger kommen am SG Hildesheim vor. Auch sonst kommt es vor, daß die Rechtsmittelbelehrungen nicht geeignet sind, Klägern (Nichtjuristen), die sich nicht durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen, den formal korrekten Weg aufzuzeigen.

Beispiel: Weil der Gerichtsbescheid des SG Hildesheim (Richter Dr. Claus) vom 1. Dezember 2006 Formfehler aufwies, insbesondere die Nichtberücksichtigung der Modifizierung des Klageantrages hinsichtlich der Kinder des Autors, hatte selbiger mündliche Verhandlung beantragt, da dieser Verfahrensmangel der Verletzung rechtlichen Gehörs nicht mit der Nichtzulassungsbeschwerde (NZB) angreifbar ist (Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer, SGG, 8. Aufl., Rdnr. 4a zu § 145, Rdnr. 33 zu § 144). Dies führte dazu, daß das SG Hildesheim dies im Urteil vom 16. Januar 2007 korrigierte.

Der Terminsladung zur mündlichen Verhandlung am 15. Dezember 2006 ist dabei Folgendes zu entnehmen:

„Es steht Ihnen frei, zu der Verhandlung zu erscheinen“

„Reisekosten, sonstige Ausgaben und Verdienstausfall werden Ihnen nicht vergütet, es sei denn, dass das Gericht Ihr Erscheinen für geboten hält.“

Das Gericht hatte das Erscheinen freigestellt. Hätte es das Erscheinen für notwendig befunden, hätte es in der Terminsladung darauf hinweisen müssen. Folglich ist der Autor davon ausgegangen, daß Fahrtkosten zum Gericht nicht übernommen werden. Angesichts der Aufklärungspflicht des Gerichts gemäß § 106 SGG stellt sich die Frage, ob es Aufgabe des Klägers ist, wenn das Gericht das Erscheinen freistellt, dies anders zu interpretieren und trotzdem einen Antrag auf Fahrtkostenübernahme zu stellen.

Dazu die vom Autor und seiner Familie erwirkte Entscheidung des LSG Niedersachsen-Bremen (Az.: L 8 AS 6/07 NZB):

Die gemäß § 145 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgemäß eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde gegen das Urteil des Sozialgerichts (SG) Hildesheim vom 16. Januar 2007 ist begründet. 

... 

Die Kläger rügen die Verletzung rechtlichen Gehörs, weil sie mangels ausreichender finanzieller Mittel nicht am ausdrücklich beantragten Termin zur mündlichen Verhandlung hätten teilnehmen können. Der Terminsladung hätten sie entnehmen müssen, dass Reisekosten nicht vergütet würden, es sei denn das Gericht halte ihr Erscheinen für geboten. Das Gericht habe ihr Erscheinen jedoch freigestellt, so dass sie davon hätten ausgehen müssen, dass Fahrtkosten nicht übernommen würden.  

Der Verfahrensmangel einer Verletzung des rechtlichen Gehörs als Ausfluss des Prozessgrundrechts auf ein faires Verfahren liegt hier vor. Das angefochtene Urteil kann auf dem gerügten Verfahrensfehler beruhen. Denn die Kläger waren aus von ihnen nicht zu vertretenden Gründen gehindert, am dem auf den 16. Januar 2007 anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung teilzunehmen.  

Zwar greift die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs als Zulassungsgrund im Rahmen des § 144 Abs 2 Nr 3 SGG grundsätzlich nur durch, wenn durch den Beschwerdeführer aufgezeigt wird oder sonst wie ersichtlich ist, dass entscheidungserhebliches Vorbringen wegen dieses Verfahrensfehlers verhindert worden ist (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 12. Februar 2007 – L 7 SO 2173/06 NZB – m.w.N. (juris)). Indessen sind im Allgemeinen dann keine weiteren Darlegungen zur Entscheidungsrelevanz erforderlich, wenn der Beschwerdeführer behauptet, um sein Recht auf eine mündliche Verhandlung gebracht worden zu sein (vgl. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 21. August 2002 – B 9 VJ 1/02 R – (juris); BSG, Urteil vom 12. Februar 2003 – B 9 SB 5/02 R – (juris)). Denn die mündliche Verhandlung ist „Kernstück“ des gerichtlichen Verfahrens, sie hat zentrale Gewährleistungsfunktion für den Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör und dient der erschöpfenden Erörterung des Streitstoffs mit ihnen (vgl. BSGE 44, 292 f. ; BSGE 53, 83, 85 f.; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr. 33), sodass bei einer aufgrund des Gehörsverstoßes verhinderten Terminswahrnehmung die Ursächlichkeit des gerügten Verfahrensfehlers in der Regel zu vermuten ist.  

So liegt der Fall auch hier. Denn der nicht am Sitz des SG wohnhafte Kläger zu 1) dürfte aufgrund seiner finanziellen Verhältnisse als Empfänger von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nicht ausreichend in der Lage gewesen sein, die Reisekosten zum Termin zur mündlichen Verhandlung zu bestreiten. Zwar wurde den Klägern auf der Ladung mitgeteilt, dass es ihnen frei stehe zur mündlichen Verhandlung zu erscheinen. Es findet sich jedoch der ausdrückliche Hinweis, dass Reisekosten nicht vergütet würden, es sei denn, dass das Gericht das Erscheinen für geboten halte, was ausweislich der Ladung nicht der Fall war. Es fehlte der Hinweis darauf, dass eine Reiseentschädigung an mittellose Personen in Form eines Vorschusses auch ohne Anordnung des persönlichen Erscheinens auf der Grundlage der Allgemeinen Verfügung vom 26. Mai 2006 (AV d. MJ v. 26.5.2006 – 5110-204.26 – Nds.Rpfl. S. 177) für mitellose Parteien möglich ist. Hierauf soll nach der Nr. 1 der Anlage zu der AV in der Ladung hingewiesen werden. Ein entsprechender Hinweis hätte den Klägern bzw. dem Kläger zu 1) die Möglichkeit eröffnet, eine Entscheidung der Gerichtsverwaltung auf der Grundlage der genannten AV herbeizuführen und Reisekosten für die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung zu erhalten. Durch das Fehlen dieses Hinweises ist der mittellose Kläger zu 1) von vornherein an einer Teilnahme an dem Termin zur mündlichen Verhandlung gehindert worden. Da keine Gesichtspunkte ersichtlich sind, die gegen die vermutete Ursächlichkeit des gerügten Verfahrensmangels sprechen, ist der Zulassungsgrund des § 144 Abs 2 Nr 3 SGG gegeben.


Zumindest im Zusammenhang mit dem Autor sticht das SG Hildesheim durch noch etwas hervor: der überlangen Verfahrensdauer.

Beispiel: die bisher entschiedenen Hauptsacheverfahren zu den einzelnen Bewilligungsabschnitten:

S 43 AS   80/05: 65 Monate (Klageerhebung/Urteil: 3.3.2005/23.7.2010)

S 54 AS 349/05: 70 Monate (Klageerhebung/Urteil: 4.7.2005/20.4.2011)

S 45 AS 174/06: 80 Monate (Klageerhebung/Urteil: 18.2.2006/21.9.2012)

S 35 AS 743/06: 56 Monate (Klageerhebung/Urteil: 26.6.2006/13.1.2011)

S 45 AS 185/07: 59 Monate (Klageerhebung/Urteil: 12.2.2007/7.12.2011)

S 36 AS 928/07: 45 Monate (Klageerhebung/Urteil: 19.7.2007/15.3.2011)

– nach der Entscheidung 1 BvR 232/11 und dem Räumungsurteil 2013: –

S 23 AS 1966/09: 50 Monate (Klageerhebung/Urteil: 23.10.2009/28.11.2013)

S 13 AS 856/10: 45 Monate (Klageerhebung/Urteil: 14.5.2010/21.1.2014)

S 54 AS 2344/10: 32 Monate (Klageerhebung/Urteil: 24.11.2010/26.6.2013)

S 15 AS 971/11: 35 Monate (Klageerhebung/Urteil: 6.6.2011/4.4.2014)

S 36 AS 1528/11: 41 Monate (Klageerhebung/Urteil: 1.9.2011/27.1.2015)

S 36 AS 808/12: 33 Monate (Klageerhebung/Urteil: 21.5.2012/27.1.2015)

S 43 AS 1818/12: 23 Monate (Klageerhebung/Urteil: 12.11.2012/26.9.2014)

S 39 AS 699/13: 24 Monate (Klageerhebung/Urteil: 29.4.2013/31.3.2015)

Die Verkürzung der Verfahrensdauer von 5 bis 7 Jahren auf 4 Jahre ist der vom Autor und seiner Familie gewonnenen Verfassungsgerichtsentscheidung BVerfG, Az.: 1 BvR 232/11 geschuldet. Die Verkürzung der Verfahrensdauer in den 2014/2015 entschiedenen Verfahren ist dem erzwungenen Umzug der Familie des Autors durch Räumungsurteil des AG Göttingen 2013 geschuldet – die Entscheidungen über die Unterkunftskosten (KdU) mußten vom SG Hildesheim nicht mehr hinausgezögert werden. Seit dem Umzug dauern die Verfahren bisher wieder 4 Jahre, der Grenze, die die Verfassungsgerichtsentscheidung BVerfG, Az.: 1 BvR 232/11 dem Gericht im konkreten Einzelfall zog, der halt solange gedauert hatte im Zeitpunkt der Verfassungsgerichtsentscheidung – insgesamt sogar 6 Jahre. Die entsprechende Passage aus der Verfassungsgerichtsentscheidung lautet:

„Danach ist es verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar, dass infolge der Untätigkeit des Sozialgerichts über den Abschluss des am 14. Februar 2007 eingeleiteten erstinstanzlichen Verfahrens über Leistungen zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach inzwischen über vier Jahren noch keine Klarheit besteht. Insbesondere ist nicht hinnehmbar, dass das Sozialgericht das Verfahren nunmehr in einem Zeitraum von nahezu drei Jahren in keiner Weise gefördert hat.“

Die Beschwerdeführer selbst haben ebenfalls nicht maßgeblich zur Verzögerung des Verfahrens beigetragen. In ihren Schreiben führten sie regelmäßig neuere Entscheidungen des Bundessozialgerichts zu Leistungen für Kosten der Unterkunft an und gaben deren Inhalt wieder. Hierdurch war das Sozialgericht nicht daran gehindert, Ermittlungen zur Angemessenheit der Kosten der Unterkunft anzustellen. Es ist nicht ersichtlich, dass bei der Kammer, die das zugrunde liegende Verfahren zu bearbeiten hatte beziehungsweise hat, gleichzeitig ein Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes anhängig war, so dass es auch deswegen nicht zu einer Verzögerung gekommen sein kann.“

Die Verzögerungen mögen zu einem gewissen Teil auch durch den Wechsel in der Kammerbesetzung Anfang August 2009 verursacht worden sein. Dem Staat sind solche Verzögerungen zuzurechnen, die durch eine anderweitige Organisation hätten verhindert werden können (...). Insoweit hätte das Sozialgericht durch sein Präsidium prüfen müssen, ob es beispielsweise die Kammer mit einem oder einer erfahreneren Richter oder Richterin besetzt oder ob die Geschäftsverteilung zu ändern ist. Letzteres hat das Präsidium des Sozialgerichts auch mit Wirkung ab 1. Mai 2011 beschlossen.“

Danach war für alle Altverfahren bis 2008 die extra hierfür eingerichtete 45. Kammer des SG Hildesheim unter dem Direktor Michael Gaida zuständig. Das ist sicherlich auch ein Novum in der Rechtsgeschichte, daß die Verfassungsbeschwerde eines „Hartz IV“-Klägers zur Einrichtung einer Extra-Kammer an einem Sozialgericht führte!

Daß die Verfahren des Autors vor dem SG Hildesheim seit dem erzwungenen Umzug (wieder) vier Jahre dauern, während nachweislich Verfahren anderer Klägerinnen und Kläger in kürzerer Zeit vonstatten gehen, hat sicherlich etwas damit zu tun, daß das SG Hildesheim einerseits nicht gegen die vom Autor gewonnene Verfassungsbeschwerde verstoßen möchte, andererseits aber nach dem Motto handelt „Rache ist süß“.

Hinsichtlich der Unterkunftskosten führt dies Verhalten des SG Hildesheim allerdings dazu, daß das 2013 wirksam gewordene KdU-Gutachten von Analyse&Konzepte erst 2017, kurz vor dem Wirksamwerden des neuen KdU-Gutachtens vom IWU, vom SG Hildesheim für rechtswidrig erklärt wurde. Im Hinblick auf die weniger als 1 Jahr dauernden Räumungsklagen ein viel zu langer Zeitraum, zumal das SG die Möglichkeit hat, kurzfristig ein Verfahren als Musterverfahren zu entscheiden, um eine Grundsatzentscheidung zu treffen. Hier drängt sich der Verdacht auf, wie eingangs schon beschrieben, daß sich das SG Hildesheim nicht als Dritte Gewalt, sondern als zweite Widerspruchsbehörde im Interesse der Grundsicherungsträger versteht.

 

 

 

 

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