(31. Oktober 2012 / überarb. u. erw. F. 15. September 2018)
„Abstrakte Angemessenheit“ einer Wohnung
Der Bundesgesetzgeber hat keine KdU-Kriterien erlassen, im Gegenteil, der Ermächtigungsparagraph 27 SGB II a.F. wurde abgeschafft mit Wirkung 1. April 2011.
Wenn trotz Kritik [s. BSG, Urteil vom 19. Februar 2009, Az.: B 4 AS 30/08 R, Rdnrn. 16 ff] auf die Länderbestimmungen (§ 10 WoFG, WFB’s) zurückgegriffen wird, dann müssen WoFG/WFB abstrakt so gelten, wie sie sind, dann kann nicht das BSG hingehen und die allgemeinen Flächen- und Personenzahlen nehmen, aber die Regelungen für Behinderte und Alleinerziehende verweigern bei der „abstrakten Angemessenheit“ – das ist wider Art. 3 Abs. 1 GG, weil es sich nicht sachlich begründen läßt und weil hier, so die Konsequenz aus BSG, Urteil vom 22. August 2012, Az.: B 14 AS 13/12 R, eine Mischung aus pauschaler Regelung als „abstrakte Angemessenheit“ und subjektiver Regelung als „Härtefall“ konstruiert wird, die sich so nicht aus der Anwendung der WoFG/WFB herleiten läßt.
Im Übrigen würde die Härtefallregelung [stellvertretend: BSG, Urteil vom 19. Februar 2009, Az.: B 4 AS 30/08 R, Rdnr. 35] nur im spezifischen Einzelfall greifen, nicht jedoch pauschal für alle Alleinerziehenden gelten, und, sie würde die vermeintlich unangemessene Wohnung im Einzelfall übernehmbar machen, jedoch den Alleinerziehenden nicht generell schon bei der „abstrakten Angemessenheit“ eine größere Wohnfläche, die immerhin in das Produkt aus Wohnfläche und Quadratmeterpreis eingehen würde, zugestehen.
Wenn also wegen der sog. Wohnzimmerregelung Alleinerziehenden – und Behinderten wegen Beweglichkeit – Mehrflächenbedarf zuzugestehen ist und in den WFB zugestanden wird, dann muß dies auch imRahmen des SGB II gelten, solange mangels anderer Kritierien auf die WFB zurückgegriffen wird, oder das BSG darf die länderspezifischen WoFG/WFB-Regelungen nicht seiner Rechtsprechung zugrunde legen.
Und, das BSG hat mit seiner Entscheidung B 14 AS 13/12 R die Grundsicherungsträger wie die Hilfebedürftigen im Dunkeln stehen lassen: Muß eine pubertierende Tochter mit ihrem alleinerziehenden Vater in einem gemeinsamen Schlafzimmer schlafen, damit noch ein Wohnzimmer möglich ist? Oder muß das Kindergarten- oder Schulkind auf Geburtagsfeiern verzichten, weil es ein eigenes Zimmer hat und die Mutter auch und deswegen kein Wohnzimmer zum Gästeempfang existiert? Mit derlei Fragen, die sich zwangsläufig aufdrängen, hat sich das BSG nicht auseinandergesetzt. Allein schon deswegen ist die BSG-Entscheidung B 14 AS 13/12 R willkürlich.
Angemessenheitsprüfung nur für Mitglieder einer „Bedarfsgemeinschaft“
Hierzu wird auf den Artikel „SGB II - der Begriff ‚Bedarfsgemeinschaft’“ vom 12. Februar 2017 verwiesen. Die dort vertretene Rechtsauffassung des Autors wurde inzwischen
bestätigt durch die Entscheidung BSG, Urteil vom 25. April 2018, Az.: B
14 AS 14/17 R.
Unter Hinweis auf die schon ältere Entscheidung BSG, Urteil
vom 18. Februar 2010, Az.: B 14 AS 73/08 R hat jetzt das BSG in seiner
Entscheidung BSG, Urteil vom 25. April 2018, Az.: B 14 AS 14/17 R endgültig
klargestellt, daß die KdU-Angemessenheitsprüfung nur gegenüber den Mitgliedern
der „Bedarfsgemeinschaft“ zu erfolgen hat.
Zwar war auch schon die Entscheidung BSG, Az.: B 14 AS 73/08
R, Rdnr. 23 eigentlich eindeutig:
„Abzustellen
ist bei der Bestimmung der angemessenen Wohnungsgröße nicht auf die Zahl der
Familienmitglieder, die eine Wohnung gemeinsam nutzen, sondern allein auf die
Zahl der Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft. Der Senat hat bereits entschieden,
dass die Frage der Angemessenheit der Kosten der Unterkunft stets nur im
Hinblick auf den Hilfebedürftigen nach dem SGB II und den mit ihm in einer
Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen beantwortet werden kann (...). Nur für
diesen Personenkreis ergeben sich durch dieses Kriterium Begrenzungen.“
Aber weder die Grundsicherungsträger noch die Sozialgerichte
erster und zweiter Instanz haben sich hieran gehalten.
Mit der Revisionsklage und der neuen Entscheidung BSG, Az.:
B 14 AS 14/17 R wurde diese Rechtsfrage nun explizit aufgeworfen und zugunsten
Alleinerziehender beantwortet:
„Allerdings
ist im SGB II nicht auf die Anzahl der Mitglieder eines Haushalts, sondern der
Bedarfsgemeinschaft abzustellen, denn die Frage der Angemessenheit kann stets
nur im Hinblick auf den Leistungsberechtigten nach dem SGB II und den mit ihm
in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen beantwortet werden. Nur für
diesen Personenkreis ergeben sich im Hinblick auf die Angemessenheit
Begrenzungen (...). Lebt ein erwerbsfähiger Leistungsberechtigter nicht mit
anderen Personen in einer Bedarfsgemeinschaft, ist demnach bei der Bestimmung
der angemessenen Aufwendungen der Unterkunft nach der Produkttheorie allein auf
ihn als Einzelperson abzustellen (vgl BSG vom 18.6.2008 - B 14/11b AS 61/06 R -
...RdNr 20 ff). Dies gilt auch für den Fall, dass zwar alle Bewohner einer
Familie angehören, dazu gehörende Kinder aber deshalb nach § 7 Abs 3 Nr 4 SGB
II nicht zur Bedarfsgemeinschaft gehören, weil sie über bedarfsdeckendes
Einkommen verfügen (BSG vom 18.2.2010 - B 14 AS 73/08 R - ... RdNr 23).“ [Rdnr. 18]
„Das
Ergebnis, dass bei einem alleinerziehenden Elternteil, der mit einem
minderjährigen Kind zusammen lebt, das seinen eigenen Bedarf decken kann, für
die Ermittlung der angemessenen Aufwendungen für Unterkunft von einem
eigenständigen Ein-Personen-Haushalt bzw einer ‚EinPersonen-Bedarfsgemeinschaft’
auszugehen ist, folgt aus dem ‚Konstrukt’ der Bedarfsgemeinschaft (...) als
Besonderheit des SGB II. Auf eine Haushaltsgemeinschaft kann in diesem
Zusammenhang nicht abgestellt werden, weil eine solche von Verwandten nur in §
9 Abs 5 SGB II geregelt wird (...).“ [Rdnr. 22]
Eigentlich war dies bereits durch die Entscheidung BSG, Az.:
B 14 AS 73/08 R geklärt, weshalb das BSG in seiner neuen Entscheidung hierauf
auch besonders Bezug nahm. Schon BSG, Az.: B 14 AS 73/08 R, Rdnr. 24 lautete:
„Die
absolute Zahl der Nutzer einer Wohnung erlangt Bedeutung bei der Aufteilung der
tatsächlichen Wohnkosten nach Kopfzahl (...). Die auf die Mitglieder einer
Bedarfsgemeinschaft danach entfallenden tatsächlichen Kosten sind an den
abstrakt angemessenen Kosten zu messen. Diese sind jeweils nur für die Bedarfsgemeinschaft
festzustellen.“
Schon die Entscheidungen BSG, Az.: B 14 AS 45/11 R und Az.:
B 14 AS 53/12 R wiesen in diese Richtung:
„Der
Kläger gehört nach § 7 Abs 3 Nr 4 SGB II als volljähriges, unter 25-jähriges, leibliches
Kind eines der erwerbsfähigen Partner der Bedarfsgemeinschaft seiner Mutter nur
an, wenn er zum einen in Ansehung seines eigenen Einkommens und Vermögens
hilfebedürftig ist.“ [BSG, Urteil vom 14. März 2012, Az.: B 14 AS 45/11 R, Rdnr. 15]
In der Entscheidung BSG, Urteil vom 20. Februar 2014, Az.: B
14 AS 53/12 R zählte das BSG eine Tochter der Klägerin wegen ausreichenden
eigenen Einkommens aus Unterhalt und Kindergeld nicht zur „Bedarfsgemeinschaft“
[Rdnr. 14], hingegen die hilfebedürftige andere Tochter, deren Unterhalt und
Kindergeld nicht ausreichte, wohl [Rdnr. 15].
„Auszugehen
ist vielmehr bei der Bedarfsberechnung vom Kopfteil der tatsächlichen
Aufwendungen, denn wenn und soweit das Kind diese und seine übrigen Bedarfe
decken kann, gehört es nicht zur Bedarfsgemeinschaft und unterliegt auch nicht
den Beschränkungen des SGB II hinsichtlich der Angemessenheit. Eine
Beschränkung der Angemessenheitsgrenze für die Mutter auf die Hälfte der
Aufwendungen eines Zwei-Personen-Haushalts hätte auch nicht gerechtfertigte
Auswirkungen auf die Wohnverhältnisse des Kindes, denn wenn die Mutter eine
geforderte Kostensenkung durch Umzug oder eine andere Einschränkung ihrer
Wohnverhältnisse umsetzen will, wirkt sich dies unmittelbar auf das Kind aus, obwohl
dieses seine Hälfte der tatsächlichen Aufwendungen decken kann. Führt die
Mutter keine Kostensenkung durch, muss sie den fehlenden Teil der Aufwendungen
für die Unterkunft systemwidrig entweder aus ihrem Regelbedarf finanzieren oder
entgegen der Intention des § 9 Abs 2 Satz 2 SGB II aus dem Einkommen des
Kindes.“ [BSG,
Az.: B 14 AS 14/17 R, Rdnr. 24]
Damit ist jetzt eindeutig höchstrichterliche Rechtsprechung,
daß Alleinerziehende, die mit Kindern zusammenleben, von denen alle oder mindestens
eines wegen entsprechend hoher Unterhaltsleistungen (plus Wohngeld, plus
Kindergeld) gemäß § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II nicht leistungsberechtigt ist,
entweder als Alleinerziehende als Ein-Personen-Bedarfsgemeinschaft gelten oder
mit entsprechend verringerter Personenzahl.
Beispielrechnung anhand der Tabelle § 12 Wohngeldgesetz
(2016) plus 10%-Sicherheitsaufschlag [BSG, Urteil vom 12. Dezember 2013, Az.: B
4 AS 87/12 R, Rdnr. 27] für Göttingen (Mietenstufe IV):
Alleinerziehende mit drei Kindern, tatsächliche KdU
bruttokalt € 1000,-
tatsächlicher Kopfteil € 1000,- : 4 Personen = € 250,- pro
Person
KdU-Anspruch 4-Personen-Haushalt: € 803,-
KdU-Anspruch 3-Personen-Haushalt: € 688,60
KdU-Anspruch 2-Personen-Haushalt: € 578,60
KdU-Anspruch 1-Personen-Haushalt: € 477,40
Ein 4-Personen-Haushalt würde „unangemessen“ (€ 1000,-)
wohnen.
Eine Alleinerziehende mit zwei hilfebedürftigen von drei
Kindern würde „unangemessen“ (€ 750,-) wohnen.
Eine Alleinerziehende mit einem bedürftigen von drei Kindern
würde schon „angemessen“ (€ 500,-) wohnen, erst recht, wenn die
„Bedarfsgemeimschaft“ nur aus der Alleinerziehenden bestehen würde (€ 250,-).
Entscheidend ist die Regelung § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II: sie
gibt vor, welche Kinder zur „Bedarfsgemeinschaft“ gehören und welche nicht [[BSG,
Az.: B 14 AS 14/17 R, Rdnr. 25].