Nachfolgend wird die Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) zu den „Hartz IV“-Sanktionen besprochen.
Grundlage ist die Entscheidung BVerfG, Urteil vom 5. November 2019, Az.: 1 BvL
7/16. Die Randnummern in eckigen Klammern [Rdnr. 123] beziehen sich auf diese
Entscheidung.
In den Randnummern 4 bis 9 setzt sich das BVerfG mit der
historischen Entwicklung auseinander. Dabei schlägt das BVerfG den Bogen von
der Verpflichtung zu gemeinnütziger Arbeit (Weimarer Republik 1924) über die
Internierung sogenannter Arbeitsscheuer in Arbeitshäusern ab 1933
(Nazideutschland), was bis zur Einführung des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG)
1961 galt (Bundesrepublik Deutschland). Der Begriff der Arbeitsscheuheit galt
weiter bis 1974.
Vermutung des Autors: die gesellschaftlichen Veränderungen
nach der Studentenrevolte 1967-1969 sowie die zunehmende Pensionierung und
Verrentung der Altnazis machte Platz für Veränderungen.
Ab 1974 wurde die Zwangsunterbringung in Arbeitshäusern bei
beharrlicher Weigerung der Hilfebedürftigen, gemeinnützige Arbeit zu leisten,
aufgehoben. Ab 1996 wurde in § 25 BSHG die Kürzung des Regelsatzes um 25 %
vorgesehen. Durch die anschließende Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichtes (BVerwG) wurde diese Kürzungsregel eingeschränkt.
Inwieweit das BVerfG sich nun die Regelung des § 25 BSHG und
die entsprechende Rechtsprechung des BVerwG zu Eigen gemacht hat, geht nicht
eindeutig aus dem Urteil zu den „Hartz IV“-Sanktionen hervor, hat aber eine
gewisse Wahrscheinlichkeit für sich.
Was in jedem Fall zu kritisieren bleibt, ist, daß das BVerfG
sich von Anfang 2016 bis Ende 2019 fast vier Jahre für seine Entscheidung Zeit
gelassen hat, obwohl es immerhin um die durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Würde
des Menschen ging und in dieser Zeitspanne fortgesetzt viel Leid erzeugt wurde
durch menschenverachtende Handlungen staatlicher Sozialbehörden.
Kurzfassung
Eine Kurzfassung seiner Entscheidung liefert das BVerfG
selbst in Abschnitt D seines Urteils [Rdnrn. 210-222].
– Generell sind die in § 31 Abs. 1 SGB II auferlegten
Pflichten verhältnismäßig, um „an der Überwindung der eigenen Bedürftigkeit
mitzuwirken“ [Rdnr. 211]. Dazu zählen die Erfüllung und der Nachweis der in
einer Eingliederungsvereinbarung (EGV) oder den diese gemäß § 15 SGB II
ersetzenden Verwaltungsakt aufgeführten Pflichten; zumutbare Arbeit,
Ausbildung, Arbeitsgelegenheiten nicht zu verweigern oder zu verhindern; eine
zumutbare Maßnahme zur Eingliederung anzutreten, nicht abzubrechen und nicht zu
verhindern.
– Der Gesetzgeber darf diese Pflichten Hilfebedürftiger auch
mit Hilfe von Sanktionen durchsetzen, sofern „kein wichtiger Grund für ihre
Nichterfüllung vorliegt“ [Rdnr. 211], wobei das BVerfG an anderer Stelle
auf § 10 SGB II Bezug nimmt.
– § 31a Abs. 1 Satz SGB II (Kürzung der Regelleistung um 30
%) ist „verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden“ [Rdnr. 214].
– § 31a Abs. 1 Sätze 2 und 3 SGB II (Kürzung der
Regelleistung um 60 % bei einer ersten wiederholten Pflichtverletzung und
Kürzung der SGB II-Leistung um 100 % bei einer weiteren Pflichtverletzung) „ist
insoweit für mit dem Grundgesetz unvereinbar zu erklären“ [Rdnr. 215].
– § 31a Abs. 1 Sätze 1 bis 3 SGB II „sind
verfassungswidrig und mit dem Grundgesetz unvereinbar“ insoweit es keine
Härtefallregelung gibt [Rdnr. 216].
– § 31b Abs. 1 Satz 3 SGB II (starrer Drei-Monate-Zeitraum
jeder Minderung) „ist verfassungswidrig und mit dem Grundgesetz unvereinbar“
[Rdnr. 217].
– Damit bleiben auch die Mehrbedarfe nach § 21 SGB II und
die Unterkunfts- und Heizkosten nach § 22 SGB II erhalten [Rdnr. 162].
– Für eine Übergangszeit, bis der Gesetzgeber eine Neuregelung
vorgenommen hat, sind die Sanktionsregelungen § 31a Abs. 1 SGB II „mit den
tenorierten Einschränkungen weiter anwendbar“ und § 31b Abs. 1 Satz 3 SGB
II hat sich an § 31a Abs. 1 Satz 6 SGB II (bei Bereitschaft, die Pflichten zu
erfüllen) zu orientieren. Konkret heißt das: eine Kürzung bis 30 % analog § 43
Abs. 3 SGB II [Rdnr. 163] bleibt möglich, eine Kürzung um 60 % oder gar der
komplette Wegfall der Leistung dürfen ab sofort nicht mehr vollzogen werden
(siehe dazu unter „Begründung“). Die Regelung des BVerfG zu § 31b Abs. 1 Satz 3
SGB II ergibt allerdings keinen Sinn.
– Eine rückwirkende Aufhebung der Minderungen nach § 31a SGB
II kommt nicht in Betracht [Rdnr. 219].
– „Für bestandskräftige Verwaltungsakte bleibt es bei der
Regelung des § 40 Abs. 3 SGB II als Sonderregelung zu § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB
X.“ [Rdnr. 220]
Das heißt konkret, nur in den Fällen, in denen eine
Leistungskürzung aufgrund einer Sanktion auch noch nach dem Urteil des BVerfG
fortbesteht, ist diese für die Zukunft zurückzunehmen, soweit die Kürzung
verfassungswidrig ist. Ansonsten gilt: Wer nicht geklagt hat, hat Pech gehabt.
– „Nicht bestandskräftige Bescheide über
Leistungsminderungen nach § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II, die vor der
Urteilsverkündung festgestellt worden sind, bleiben wirksam.“ [Rdnr. 221]
Das heißt konkret: Kürzungen der Regelleistung um 30 %
bleiben in jedem Falle bestehen.
Kürzungsbescheide über mehr als 30 % der Regelleistung sind
aufzuheben [Rdnr. 222].
Begründung
Der eigentliche Begründungsteil des Urteils des BVerfG
befindet sich in Abschnitt C, Randnummern 116 bis 209 und umfaßt gut 40 Prozent
des gesamten Urteils.
Nachfolgend soll die umfangreiche Begründung des BVerfG, die
auch sich wiederholende Passagen enthält, stark auf das Wesentliche gestrafft
werden.
Hierzu wird die Darstellung nicht wie bei der „Kurzfassung“
der Randnummerierung folgen, sondern sich nach Stichworten richten.
– Gestaltungsspielraum
des Gesetzgebers
Der „Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers“ wird auch bei
den Sanktionen vom BVerfG betont, „Einschätzungsspielraum“ [Rdnrn. 134,
145, 166, 179, 180, 187, 207] oder auch „Gestaltungsspielraum“ [Rdnr.
118, 121, 122, 125, 148, 186, 188, 196, 211] oder „Ausgestaltungsspielraum“
[Rdnr. 117] genannt.
So „liegt es im Gestaltungs- und Entscheidungsspielraum
des Gesetzgebers“ die Sanktion um 30 % der Regelleistung bei Verletzung der
Mitwirkungspflichten nach § 31 Abs. 1 SGB II für geeignet zu halten, um das
Ziel der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt zu erreichen [Rdnr. 168].
Wieso einer Kürzung der Regelleistung um 30 % hier eine Lenkungswirkung
zugesprochen wird [Rdnr. 169], hingegen einer Kürzung um 60 % oder gar dem
kompletten Wegfall der Leistung hingegen nicht, erschließt sich aus dem Urteil
des BVerfG nicht wirklich, zumal das BVerfG selbst zur Sachlage festhält:
„Derzeit liegen ausweislich der in dieses Verfahren auf
konkrete Nachfragen eingebrachten Stellungnahmen und der mündlichen Verhandlung
keine eindeutigen empirischen und nach der Höhe der Leistungsminderung
differenzierenden Erkenntnisse zu den Wirkungen der in §§ 31a, 31b SGB II
normierten Sanktionen vor. Die vorliegenden Studien und Untersuchungen trennen
zudem weitgehend nicht nach der verletzten Pflicht, auf die sich eine Sanktion
bezieht, und umfassen vielfach auch die Pflichten nach § 31 Abs. 2 SGB II sowie
die Meldeversäumnisse nach § 32 SGB II. Sie differenzieren weitgehend auch
nicht nach dem Alter der Betroffenen. Zur Praxis der ergänzenden Sachleistungen
nach § 31a Abs. 3 SGB II fehlen jedwede Daten.“ [Rdnr. 60]
„Ob verhängte Sanktionen die Mitwirkungsbereitschaft
durch eine Intensivierung der Arbeitssuche erhöhen, ist bislang empirisch nicht
belegt.“ [Rdnr. 61]
In Randnummern 62 ff. benennt das BVerfG dann u.a. „mehrere
Studien, die positive Wirkungen einer Leistungsminderung benennen“ [Rdnr.
62].
Da das BVerfG auch Studien benennt, welche „negative
Wirkungen der Sanktionen auf Betroffene“ darlegen [Rdnr. 65], erschließt sich
die Wertung des BVerfG nicht, dem Gesetzgeber bei einer 30 %-Kürzung einen
Entscheidungsspielraum einzuräumen, bei 60 %-Kürzung und mehr jedoch nicht.
Erst recht nicht angesichts dieser Wertung durch das BVerfG:
„Es ist ausweislich der derzeit vorliegenden Erkenntnisse
(oben Rn. 57 ff.) zweifelhaft, ob mit der Leistungsminderung tatsächlich in
größerem Umfang erreicht wird, dass Menschen die in § 31 Abs. 1 SGB II
benannten Pflichten erfüllen und letztlich wieder Arbeit suchen und finden.“
[Rdnr. 167]
Angesichts der unklaren Erkenntnislage dürfte es eigentlich
gar keine Sanktionen geben, von deren häufiger konkreter Rechtswidrigkeit mal
abgesehen.
„Doch liegt es im Gestaltungs- und Entscheidungsspielraum
des Gesetzgebers, die in § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II normierte Sanktion in der
Höhe von 30 % der Minderung des maßgebenden Regelbedarfs derjenigen, die eine
Mitwirkungspflicht nach § 31 Abs. 1 SGB II verletzt haben, für geeignet zu
halten, sein Ziel zu erreichen.“ [Rdnr. 168]
Letztlich bleibt als Begründung nur dies:
„Der Gesetzgeber kann den Nachranggrundsatz nicht nur
durch eine Pflicht zum vorrangigen Einsatz aktuell verfügbarer Mittel aus
Einkommen, Vermögen oder Zuwendungen Dritter zur Geltung bringen (...). Das
Grundgesetz steht auch einer Entscheidung des Gesetzgebers nicht entgegen, von
denjenigen, die staatliche Leistungen der sozialen Sicherung in Anspruch
nehmen, zu verlangen, an der Überwindung ihrer Hilfebedürftigkeit selbst aktiv
mitzuwirken oder die Bedürftigkeit gar nicht erst eintreten zu lassen.“ [Rdnr.
126]
– keine Verletzung
anderer Grundrechte gegeben
„Weitere grundrechtliche Maßgaben sind nur dann zu
beachten, wenn deren Schutzbereich berührt ist (...). Insoweit müssen
Sanktionen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten, die auf die eigenständige
Existenzsicherung gerichtet sind, etwa dem Schutz der Familie aus Art. 6 GG,
dem Schutz der Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG und dem Schutz der
Gesundheit nach Art. 2 Abs. 2 GG Rechnung tragen.“ [Rdnr. 135]
Kaum gesagt, wird eine Verletzung der genannten Grundrechte
vom BVerfG bestritten.
So würden die Mitwirkungspflichten aus § 31 Abs. 1 SGB II
nicht gegen das Verbot der Zwangsarbeit (Art. 12 Abs. 2 GG) und auch nicht
gegen die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) [Rdnr. 150] verstoßen.
Auch ein Verstoß gegen den Schutz der Familie (Art. 6 GG)
bestehe nicht, da die Regelungen in § 10 Abs. 1 Nr. 3 und Nr. 4 SGB II
vorschreiben, „dass die Erziehung von Kindern je nach dem Lebensalter und
der Betreuungssituation und die Pflege von Angehörigen durch
Mitwirkungsanforderungen im Sozialrecht nicht gefährdet werden dürfen“
[Rdnr. 152].
Und schließlich bestehe auch keine Verletzung der
körperlichen Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG), „weil nach § 16 Abs. 3a Satz
4 SGB V weiterhin ein Behandlungsanspruch besteht“ [Rdnr. 204]. Hier sieht
das BVerfG lediglich die Gefahr einer Verschuldung hinsichtlich der
Krankenversicherungsbeiträge.
– Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
Auch in diesem Urteil wendet das BVerfG den von ihm
entwickelten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz [hier nur: BVerfG, Beschluß vom 15.
Mai 1995, Az.: 2 BvL 19/91, 2 BvR 1206, 1584/91 und 2601/93, Rdnr. 189] an.
„Derartige Leistungsminderungen sind nur verhältnismäßig,
wenn die Belastungen der Betroffenen auch im rechten Verhältnis zur
tatsächlichen Erreichung des legitimen Zieles stehen, die Bedürftigkeit zu
überwinden, also eine menschenwürdige Existenz insbesondere durch Erwerbsarbeit
eigenständig zu sichern. Ihre Zumutbarkeit richtet sich vor allem danach, ob
die Leistungsminderung unter Berücksichtigung ihrer Eignung zur Erreichung
dieses Zwecks und als mildestes, gleich geeignetes Mittel in einem angemessenen
Verhältnis zur Belastung der Betroffenen steht.“ [Rdnr. 133]
Verhältnismäßig ist es laut BVerfG daher nur, wenn Hilfebedürftige
eine Sanktion durch eigenes Verhalten (Wohlverhalten, Verhaltensänderung)
beeinflussen können [Rdnr. 133].
Demgegenüber läßt es die derzeitige Gesetzeslage nicht zu,
von Sanktionen abzusehen, wenn diese ungeeignet oder gar kontrakproduktiv sind,
um daß angestrebte Ziel der Arbeitsmarktintegration zu erreichen [Rdnr. 176].
Das BVerfG hält deshalb die zwingende Minderung der Regelleistung für
unzumutbar, auch weil es nicht möglich ist, im Härtefall von einer Sanktion abzusehen [Rdnr. 184]. Hier ist
die Leistungsminderung „auch im Rahmen eines vom Gesetzgeber einräumbaren
Beurteilungsspielraums“ unzumutbar, wenn „die Ziele des Gesetzes nur
erreicht werden können, indem eine Sanktion unterbleibt“ [Rdnr. 184].
Das Gleiche gilt für die starre Drei-Monate-Regelung der Sanktion [Rdnr. 177]. Auch
der starre Drei-Monate-Minderungszeitraum unabhängig von der Mitwirkung der
Hilfebedürftigen ist unzumutbar [Rdnr. 186]. Hier knüpft die Forderung des
BVerfG offensichtlich an die Praxis zu § 25 BSHG an, ab Verhaltensänderung die
Hilfeleistungen wieder aufzunehmen.
Ob allerdings der Vorschlag des BVerfG geeignet ist, „die
Zumutbarkeit einer Sanktion im konkreten Einzelfall zu sichern“, indem „er
die Sanktion in das Ermessen der zuständigen Behörde“ stellt [Rdnr. 185],
darf angesichts des menschenverachtenden Verhaltens so mancher „Jobcenter“,
vorallem der Optionskommunen, bezweifelt werden. Da ist der Vorschlag des
BVerfG, dies durch eine Härtefallregelung zu bewerkstelligen [Rdnr. 185] doch
eher geeignet.
– 30 %-Sanktion
Eine Kürzung der Regelleistung um 30 % hält das BVerfG für
verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden [Rdnr. 159]. Dies, obwohl es meint, „Leistungsminderungen
lassen sich auch nicht unter Verweis darauf rechtfertigen, entzogen würden
lediglich Leistungen für soziale Teilhabe“, weil sich „der
verfassungsrechtlich in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG garantierte
Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums
als einheitliche Gewährleistung (...) auch auf Mittel zur Sicherung eines
Mindestmaßes an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen
Leben erstreckt“ [Rdnr. 157]. Denn, hier „kann sich der Gesetzgeber
jedoch auf plausible Annahmen zu ihrer Eignung stützen“ [Rdnr. 159].
– 60 %-Sanktion
Eine 60 %-Sanktion der Regelleistung ist mit dem Grundgesetz
unvereinbar [Rdnr. 189], weil die ohnehin schon „auf einer knappen
Berechnung“ beruhenden Pauschalbeträge, die nur in der Gesamtschau für
noch verfassungsgemäß befunden“ wurden, „so auch die für Nahrung und
Getränke als bedarfsdeckend angesehenen Summen“ berühren [Rdnr. 190].
Hier hält das BVerfG die Leistungsminderung „weder mit
Blick auf das unmittelbare Ziel, die Mitwirkung zu erreichen, noch mit Blick
auf spezial- oder generalpräventive Wirkungen hinreichend“ für erforscht
[Rdnr. 193]. Im Gegenteil, „derzeit vorliegenden Erkenntnisse zeigen zudem,
dass mit der Sanktion nach § 31a Abs. 1 Satz 2 SGB II in vielen Fällen auch
negative Wirkungen verbunden sind, welche die Ziele des Gesetzgebers
konterkarieren (... Rn. 66, 83). Dabei wird auf Wohnungslosigkeit, die Gefahr
der Dequalifizierung, verstärkte Verschuldung, eingeschränkte Ernährung,
unzureichende Gesundheitsversorgung, sozialen Rückzug sowie seelische Probleme
bei erwerbsfähigen Leistungsberechtigten hingewiesen (... Rn. 59)“ [Rdnr.
194].
– 100 %-Sanktion
Hier verweist das BVerfG insbesondere auf die Unzumutbarkeit
des damit verbundenen Wohnungsverlustes. „Nur begrenzten Schutz vor einem
Wohnungsverlust schafft auch § 22 Abs. 8 SGB II, wonach die Miete als Darlehen
übernommen werden kann, denn das gilt erst, wenn die Kündigung bereits erfolgt
ist.“ [Rdnr. 203]
Zwar könne eine Verletzung von Art. 2 Abs. 2 GG (körperliche
Unversehrtheit) ausgeschlossen werden, „weil nach § 16 Abs. 3a Satz 4 SGB V
weiterhin ein Behandlungsanspruch besteht“ [Rdnr. 204], aber Studien
zeigten, daß die Sanktion kontraproduktiv sei, insbesondere im Hinblick auf die
Wohnungslosigkeit und die sich aufbauende Verschuldung. „Zudem besteht die
Gefahr, dass leistungsberechtigte Hilfebedürftige im Fall von Sanktionen nicht
etwa dazu motiviert werden, ihre Mitwirkungspflichten zu erfüllen, sondern den
Kontakt zum Jobcenter ganz abbrechen (... Rn. 65 f.).“ [Rdnr. 206] Ferner
sei es wahrscheinlich, „dass Menschen ihre Bedarfe durch illegale
Erwerbsarbeit und Kriminalität zu decken suchen (ausführlich ... Rn. 65)“
[Rdnr. 206].
Es erschließt sich allerdings nicht, wie das BVerfG dennoch
zu seiner Einschätzung kommt, daß dieses anders zu beurteilen sei, „wenn und
solange Leistungsberechtigte es selbst in der Hand haben, durch Aufnahme einer
ihnen angebotenen zumutbaren Arbeit (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II) ihre
menschenwürdige Existenz tatsächlich und unmittelbar durch die Erzielung von
Einkommen selbst zu sichern. Ihre Situation ist dann im Ausgangspunkt
derjenigen vergleichbar, in der keine Bedürftigkeit vorliegt, weil Einkommen
oder Vermögen aktuell verfügbar und zumutbar einsetzbar sind. Wird eine solche
tatsächlich existenzsichernde und im Sinne des § 10 SGB II zumutbare
Erwerbstätigkeit ohne wichtigen Grund im Sinne des § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II
willentlich verweigert, obwohl im Verfahren die Möglichkeit bestand, dazu auch
etwaige Besonderheiten der persönlichen Situation vorzubringen, die einer
Arbeitsaufnahme bei objektiver Betrachtung entgegenstehen könnten, ist daher
ein vollständiger Leistungsentzug zu rechtfertigen.“ [Rdnr. 209]
Wieso hier „Wohnungslosigkeit, die Gefahr der
Dequalifizierung, verstärkte Verschuldung, eingeschränkte Ernährung,
unzureichende Gesundheitsversorgung, sozialen Rückzug sowie seelische Probleme
bei erwerbsfähigen Leistungsberechtigten“ [Rdnr. 194] keine Rolle spielen
sollen, erschließt sich nicht, vorallem nicht, wieso hier „die Gefahr von
Kleinkriminalität, Schwarzarbeit“ [Rdnr. 65] nicht gegeben sein soll, zumal
es bei der 100 %-Sanktion wahrscheinlich erscheint, „dass Menschen ihre
Bedarfe durch illegale Erwerbsarbeit und Kriminalität zu decken suchen“
[Rdnr. 206].
Fazit
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zu den „Hartz
IV“-Sanktionen ist einerseits positiv, indem nunmehr Sanktionen oberhalb von 30
% der Regelleistung und über einen starren dreimonatigen Zeitraum hinweg nicht
mehr möglich sind. Auch muß eine Härtefallregelung eingeführt werden.
Die Begründung des Urteils ist allerdings nicht durchgehend
schlüssig wie gezeigt.
Im Hinblick darauf, daß überhaupt sanktioniert werden darf,
angesichts der Tatsache, daß bis auf Einzelfälle gar keine
sozialversicherungspflichtigen und von staatlicher Unterstützung unabhängig
machende und eine spätere auskömmliche Rente garantierende Arbeitsplätze angeboten
werden, sondern in der Regel die hilfebedürftigen Menschen in schwachsinnige
Maßnahmen zur Beschönigung der Statistik über Arbeitslosigkeit gesteckt werden,
hätte es dem Bundesverfassungsgericht gut angestanden, sich mal hierzu zu
äußern.