Herbert Masslau

Bundesverfassungsgericht zu „Hartz IV“-Sanktionen

(8. November 2019)

 

 

Vorbemerkung

Nachfolgend wird die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) zu den „Hartz IV“-Sanktionen besprochen. Grundlage ist die Entscheidung BVerfG, Urteil vom 5. November 2019, Az.: 1 BvL 7/16. Die Randnummern in eckigen Klammern [Rdnr. 123] beziehen sich auf diese Entscheidung.

In den Randnummern 4 bis 9 setzt sich das BVerfG mit der historischen Entwicklung auseinander. Dabei schlägt das BVerfG den Bogen von der Verpflichtung zu gemeinnütziger Arbeit (Weimarer Republik 1924) über die Internierung sogenannter Arbeitsscheuer in Arbeitshäusern ab 1933 (Nazideutschland), was bis zur Einführung des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) 1961 galt (Bundesrepublik Deutschland). Der Begriff der Arbeitsscheuheit galt weiter bis 1974.

Vermutung des Autors: die gesellschaftlichen Veränderungen nach der Studentenrevolte 1967-1969 sowie die zunehmende Pensionierung und Verrentung der Altnazis machte Platz für Veränderungen.

Ab 1974 wurde die Zwangsunterbringung in Arbeitshäusern bei beharrlicher Weigerung der Hilfebedürftigen, gemeinnützige Arbeit zu leisten, aufgehoben. Ab 1996 wurde in § 25 BSHG die Kürzung des Regelsatzes um 25 % vorgesehen. Durch die anschließende Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes (BVerwG) wurde diese Kürzungsregel eingeschränkt.

Inwieweit das BVerfG sich nun die Regelung des § 25 BSHG und die entsprechende Rechtsprechung des BVerwG zu Eigen gemacht hat, geht nicht eindeutig aus dem Urteil zu den „Hartz IV“-Sanktionen hervor, hat aber eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich.

Was in jedem Fall zu kritisieren bleibt, ist, daß das BVerfG sich von Anfang 2016 bis Ende 2019 fast vier Jahre für seine Entscheidung Zeit gelassen hat, obwohl es immerhin um die durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Würde des Menschen ging und in dieser Zeitspanne fortgesetzt viel Leid erzeugt wurde durch menschenverachtende Handlungen staatlicher Sozialbehörden.

 

Kurzfassung

Eine Kurzfassung seiner Entscheidung liefert das BVerfG selbst in Abschnitt D seines Urteils [Rdnrn. 210-222].

– Generell sind die in § 31 Abs. 1 SGB II auferlegten Pflichten verhältnismäßig, um „an der Überwindung der eigenen Bedürftigkeit mitzuwirken“ [Rdnr. 211]. Dazu zählen die Erfüllung und der Nachweis der in einer Eingliederungsvereinbarung (EGV) oder den diese gemäß § 15 SGB II ersetzenden Verwaltungsakt aufgeführten Pflichten; zumutbare Arbeit, Ausbildung, Arbeitsgelegenheiten nicht zu verweigern oder zu verhindern; eine zumutbare Maßnahme zur Eingliederung anzutreten, nicht abzubrechen und nicht zu verhindern.

– Der Gesetzgeber darf diese Pflichten Hilfebedürftiger auch mit Hilfe von Sanktionen durchsetzen, sofern „kein wichtiger Grund für ihre Nichterfüllung vorliegt“ [Rdnr. 211], wobei das BVerfG an anderer Stelle auf § 10 SGB II Bezug nimmt.

– § 31a Abs. 1 Satz SGB II (Kürzung der Regelleistung um 30 %) ist „verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden“ [Rdnr. 214].

– § 31a Abs. 1 Sätze 2 und 3 SGB II (Kürzung der Regelleistung um 60 % bei einer ersten wiederholten Pflichtverletzung und Kürzung der SGB II-Leistung um 100 % bei einer weiteren Pflichtverletzung) „ist insoweit für mit dem Grundgesetz unvereinbar zu erklären“ [Rdnr. 215].

– § 31a Abs. 1 Sätze 1 bis 3 SGB II „sind verfassungswidrig und mit dem Grundgesetz unvereinbar“ insoweit es keine Härtefallregelung gibt [Rdnr. 216].

– § 31b Abs. 1 Satz 3 SGB II (starrer Drei-Monate-Zeitraum jeder Minderung) „ist verfassungswidrig und mit dem Grundgesetz unvereinbar“ [Rdnr. 217].

– Damit bleiben auch die Mehrbedarfe nach § 21 SGB II und die Unterkunfts- und Heizkosten nach § 22 SGB II erhalten [Rdnr. 162].

– Für eine Übergangszeit, bis der Gesetzgeber eine Neuregelung vorgenommen hat, sind die Sanktionsregelungen § 31a Abs. 1 SGB II „mit den tenorierten Einschränkungen weiter anwendbar“ und § 31b Abs. 1 Satz 3 SGB II hat sich an § 31a Abs. 1 Satz 6 SGB II (bei Bereitschaft, die Pflichten zu erfüllen) zu orientieren. Konkret heißt das: eine Kürzung bis 30 % analog § 43 Abs. 3 SGB II [Rdnr. 163] bleibt möglich, eine Kürzung um 60 % oder gar der komplette Wegfall der Leistung dürfen ab sofort nicht mehr vollzogen werden (siehe dazu unter „Begründung“). Die Regelung des BVerfG zu § 31b Abs. 1 Satz 3 SGB II ergibt allerdings keinen Sinn.

– Eine rückwirkende Aufhebung der Minderungen nach § 31a SGB II kommt nicht in Betracht [Rdnr. 219].

„Für bestandskräftige Verwaltungsakte bleibt es bei der Regelung des § 40 Abs. 3 SGB II als Sonderregelung zu § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X.“ [Rdnr. 220]

Das heißt konkret, nur in den Fällen, in denen eine Leistungskürzung aufgrund einer Sanktion auch noch nach dem Urteil des BVerfG fortbesteht, ist diese für die Zukunft zurückzunehmen, soweit die Kürzung verfassungswidrig ist. Ansonsten gilt: Wer nicht geklagt hat, hat Pech gehabt.

„Nicht bestandskräftige Bescheide über Leistungsminderungen nach § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II, die vor der Urteilsverkündung festgestellt worden sind, bleiben wirksam.“ [Rdnr. 221]

Das heißt konkret: Kürzungen der Regelleistung um 30 % bleiben in jedem Falle bestehen.

Kürzungsbescheide über mehr als 30 % der Regelleistung sind aufzuheben [Rdnr. 222].

 

Begründung

Der eigentliche Begründungsteil des Urteils des BVerfG befindet sich in Abschnitt C, Randnummern 116 bis 209 und umfaßt gut 40 Prozent des gesamten Urteils.

Nachfolgend soll die umfangreiche Begründung des BVerfG, die auch sich wiederholende Passagen enthält, stark auf das Wesentliche gestrafft werden.

Hierzu wird die Darstellung nicht wie bei der „Kurzfassung“ der Randnummerierung folgen, sondern sich nach Stichworten richten.

Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers

Der „Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers“ wird auch bei den Sanktionen vom BVerfG betont, „Einschätzungsspielraum“ [Rdnrn. 134, 145, 166, 179, 180, 187, 207] oder auch „Gestaltungsspielraum“ [Rdnr. 118, 121, 122, 125, 148, 186, 188, 196, 211] oder „Ausgestaltungsspielraum“ [Rdnr. 117] genannt.

So „liegt es im Gestaltungs- und Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers“ die Sanktion um 30 % der Regelleistung bei Verletzung der Mitwirkungspflichten nach § 31 Abs. 1 SGB II für geeignet zu halten, um das Ziel der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt zu erreichen [Rdnr. 168]. Wieso einer Kürzung der Regelleistung um 30 % hier eine Lenkungswirkung zugesprochen wird [Rdnr. 169], hingegen einer Kürzung um 60 % oder gar dem kompletten Wegfall der Leistung hingegen nicht, erschließt sich aus dem Urteil des BVerfG nicht wirklich, zumal das BVerfG selbst zur Sachlage festhält:

„Derzeit liegen ausweislich der in dieses Verfahren auf konkrete Nachfragen eingebrachten Stellungnahmen und der mündlichen Verhandlung keine eindeutigen empirischen und nach der Höhe der Leistungsminderung differenzierenden Erkenntnisse zu den Wirkungen der in §§ 31a, 31b SGB II normierten Sanktionen vor. Die vorliegenden Studien und Untersuchungen trennen zudem weitgehend nicht nach der verletzten Pflicht, auf die sich eine Sanktion bezieht, und umfassen vielfach auch die Pflichten nach § 31 Abs. 2 SGB II sowie die Meldeversäumnisse nach § 32 SGB II. Sie differenzieren weitgehend auch nicht nach dem Alter der Betroffenen. Zur Praxis der ergänzenden Sachleistungen nach § 31a Abs. 3 SGB II fehlen jedwede Daten.“ [Rdnr. 60]

„Ob verhängte Sanktionen die Mitwirkungsbereitschaft durch eine Intensivierung der Arbeitssuche erhöhen, ist bislang empirisch nicht belegt.“ [Rdnr. 61]

In Randnummern 62 ff. benennt das BVerfG dann u.a. „mehrere Studien, die positive Wirkungen einer Leistungsminderung benennen“ [Rdnr. 62].

Da das BVerfG auch Studien benennt, welche „negative Wirkungen der Sanktionen auf Betroffene“ darlegen [Rdnr. 65], erschließt sich die Wertung des BVerfG nicht, dem Gesetzgeber bei einer 30 %-Kürzung einen Entscheidungsspielraum einzuräumen, bei 60 %-Kürzung und mehr jedoch nicht. Erst recht nicht angesichts dieser Wertung durch das BVerfG:

„Es ist ausweislich der derzeit vorliegenden Erkenntnisse (oben Rn. 57 ff.) zweifelhaft, ob mit der Leistungsminderung tatsächlich in größerem Umfang erreicht wird, dass Menschen die in § 31 Abs. 1 SGB II benannten Pflichten erfüllen und letztlich wieder Arbeit suchen und finden.“ [Rdnr. 167]

Angesichts der unklaren Erkenntnislage dürfte es eigentlich gar keine Sanktionen geben, von deren häufiger konkreter Rechtswidrigkeit mal abgesehen.

„Doch liegt es im Gestaltungs- und Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers, die in § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II normierte Sanktion in der Höhe von 30 % der Minderung des maßgebenden Regelbedarfs derjenigen, die eine Mitwirkungspflicht nach § 31 Abs. 1 SGB II verletzt haben, für geeignet zu halten, sein Ziel zu erreichen.“ [Rdnr. 168]

Letztlich bleibt als Begründung nur dies:

„Der Gesetzgeber kann den Nachranggrundsatz nicht nur durch eine Pflicht zum vorrangigen Einsatz aktuell verfügbarer Mittel aus Einkommen, Vermögen oder Zuwendungen Dritter zur Geltung bringen (...). Das Grundgesetz steht auch einer Entscheidung des Gesetzgebers nicht entgegen, von denjenigen, die staatliche Leistungen der sozialen Sicherung in Anspruch nehmen, zu verlangen, an der Überwindung ihrer Hilfebedürftigkeit selbst aktiv mitzuwirken oder die Bedürftigkeit gar nicht erst eintreten zu lassen.“ [Rdnr. 126]

keine Verletzung anderer Grundrechte gegeben

„Weitere grundrechtliche Maßgaben sind nur dann zu beachten, wenn deren Schutzbereich berührt ist (...). Insoweit müssen Sanktionen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten, die auf die eigenständige Existenzsicherung gerichtet sind, etwa dem Schutz der Familie aus Art. 6 GG, dem Schutz der Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG und dem Schutz der Gesundheit nach Art. 2 Abs. 2 GG Rechnung tragen.“ [Rdnr. 135]

Kaum gesagt, wird eine Verletzung der genannten Grundrechte vom BVerfG bestritten.

So würden die Mitwirkungspflichten aus § 31 Abs. 1 SGB II nicht gegen das Verbot der Zwangsarbeit (Art. 12 Abs. 2 GG) und auch nicht gegen die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) [Rdnr. 150] verstoßen.

Auch ein Verstoß gegen den Schutz der Familie (Art. 6 GG) bestehe nicht, da die Regelungen in § 10 Abs. 1 Nr. 3 und Nr. 4 SGB II vorschreiben, „dass die Erziehung von Kindern je nach dem Lebensalter und der Betreuungssituation und die Pflege von Angehörigen durch Mitwirkungsanforderungen im Sozialrecht nicht gefährdet werden dürfen“ [Rdnr. 152].

Und schließlich bestehe auch keine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG), „weil nach § 16 Abs. 3a Satz 4 SGB V weiterhin ein Behandlungsanspruch besteht“ [Rdnr. 204]. Hier sieht das BVerfG lediglich die Gefahr einer Verschuldung hinsichtlich der Krankenversicherungsbeiträge.

Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

Auch in diesem Urteil wendet das BVerfG den von ihm entwickelten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz [hier nur: BVerfG, Beschluß vom 15. Mai 1995, Az.: 2 BvL 19/91, 2 BvR 1206, 1584/91 und 2601/93, Rdnr. 189] an.

„Derartige Leistungsminderungen sind nur verhältnismäßig, wenn die Belastungen der Betroffenen auch im rechten Verhältnis zur tatsächlichen Erreichung des legitimen Zieles stehen, die Bedürftigkeit zu überwinden, also eine menschenwürdige Existenz insbesondere durch Erwerbsarbeit eigenständig zu sichern. Ihre Zumutbarkeit richtet sich vor allem danach, ob die Leistungsminderung unter Berücksichtigung ihrer Eignung zur Erreichung dieses Zwecks und als mildestes, gleich geeignetes Mittel in einem angemessenen Verhältnis zur Belastung der Betroffenen steht.“ [Rdnr. 133]

Verhältnismäßig ist es laut BVerfG daher nur, wenn Hilfebedürftige eine Sanktion durch eigenes Verhalten (Wohlverhalten, Verhaltensänderung) beeinflussen können [Rdnr. 133].

Demgegenüber läßt es die derzeitige Gesetzeslage nicht zu, von Sanktionen abzusehen, wenn diese ungeeignet oder gar kontrakproduktiv sind, um daß angestrebte Ziel der Arbeitsmarktintegration zu erreichen [Rdnr. 176]. Das BVerfG hält deshalb die zwingende Minderung der Regelleistung für unzumutbar, auch weil es nicht möglich ist, im Härtefall von einer Sanktion abzusehen [Rdnr. 184]. Hier ist die Leistungsminderung „auch im Rahmen eines vom Gesetzgeber einräumbaren Beurteilungsspielraums“ unzumutbar, wenn „die Ziele des Gesetzes nur erreicht werden können, indem eine Sanktion unterbleibt“ [Rdnr. 184].

Das Gleiche gilt für die starre Drei-Monate-Regelung der Sanktion [Rdnr. 177]. Auch der starre Drei-Monate-Minderungszeitraum unabhängig von der Mitwirkung der Hilfebedürftigen ist unzumutbar [Rdnr. 186]. Hier knüpft die Forderung des BVerfG offensichtlich an die Praxis zu § 25 BSHG an, ab Verhaltensänderung die Hilfeleistungen wieder aufzunehmen.

Ob allerdings der Vorschlag des BVerfG geeignet ist, „die Zumutbarkeit einer Sanktion im konkreten Einzelfall zu sichern“, indem „er die Sanktion in das Ermessen der zuständigen Behörde“ stellt [Rdnr. 185], darf angesichts des menschenverachtenden Verhaltens so mancher „Jobcenter“, vorallem der Optionskommunen, bezweifelt werden. Da ist der Vorschlag des BVerfG, dies durch eine Härtefallregelung zu bewerkstelligen [Rdnr. 185] doch eher geeignet.

30 %-Sanktion

Eine Kürzung der Regelleistung um 30 % hält das BVerfG für verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden [Rdnr. 159]. Dies, obwohl es meint, „Leistungsminderungen lassen sich auch nicht unter Verweis darauf rechtfertigen, entzogen würden lediglich Leistungen für soziale Teilhabe“, weil sich „der verfassungsrechtlich in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG garantierte Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums als einheitliche Gewährleistung (...) auch auf Mittel zur Sicherung eines Mindestmaßes an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben erstreckt“ [Rdnr. 157]. Denn, hier „kann sich der Gesetzgeber jedoch auf plausible Annahmen zu ihrer Eignung stützen“ [Rdnr. 159].

60 %-Sanktion

Eine 60 %-Sanktion der Regelleistung ist mit dem Grundgesetz unvereinbar [Rdnr. 189], weil die ohnehin schon „auf einer knappen Berechnung“ beruhenden Pauschalbeträge, die nur in der Gesamtschau für noch verfassungsgemäß befunden“ wurden, „so auch die für Nahrung und Getränke als bedarfsdeckend angesehenen Summen“ berühren [Rdnr. 190].

Hier hält das BVerfG die Leistungsminderung „weder mit Blick auf das unmittelbare Ziel, die Mitwirkung zu erreichen, noch mit Blick auf spezial- oder generalpräventive Wirkungen hinreichend“ für erforscht [Rdnr. 193]. Im Gegenteil, „derzeit vorliegenden Erkenntnisse zeigen zudem, dass mit der Sanktion nach § 31a Abs. 1 Satz 2 SGB II in vielen Fällen auch negative Wirkungen verbunden sind, welche die Ziele des Gesetzgebers konterkarieren (... Rn. 66, 83). Dabei wird auf Wohnungslosigkeit, die Gefahr der Dequalifizierung, verstärkte Verschuldung, eingeschränkte Ernährung, unzureichende Gesundheitsversorgung, sozialen Rückzug sowie seelische Probleme bei erwerbsfähigen Leistungsberechtigten hingewiesen (... Rn. 59)“ [Rdnr. 194].

100 %-Sanktion

Hier verweist das BVerfG insbesondere auf die Unzumutbarkeit des damit verbundenen Wohnungsverlustes. „Nur begrenzten Schutz vor einem Wohnungsverlust schafft auch § 22 Abs. 8 SGB II, wonach die Miete als Darlehen übernommen werden kann, denn das gilt erst, wenn die Kündigung bereits erfolgt ist.“ [Rdnr. 203]

Zwar könne eine Verletzung von Art. 2 Abs. 2 GG (körperliche Unversehrtheit) ausgeschlossen werden, „weil nach § 16 Abs. 3a Satz 4 SGB V weiterhin ein Behandlungsanspruch besteht“ [Rdnr. 204], aber Studien zeigten, daß die Sanktion kontraproduktiv sei, insbesondere im Hinblick auf die Wohnungslosigkeit und die sich aufbauende Verschuldung. „Zudem besteht die Gefahr, dass leistungsberechtigte Hilfebedürftige im Fall von Sanktionen nicht etwa dazu motiviert werden, ihre Mitwirkungspflichten zu erfüllen, sondern den Kontakt zum Jobcenter ganz abbrechen (... Rn. 65 f.).“ [Rdnr. 206] Ferner sei es wahrscheinlich, „dass Menschen ihre Bedarfe durch illegale Erwerbsarbeit und Kriminalität zu decken suchen (ausführlich ... Rn. 65)“ [Rdnr. 206].

Es erschließt sich allerdings nicht, wie das BVerfG dennoch zu seiner Einschätzung kommt, daß dieses anders zu beurteilen sei, „wenn und solange Leistungsberechtigte es selbst in der Hand haben, durch Aufnahme einer ihnen angebotenen zumutbaren Arbeit (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II) ihre menschenwürdige Existenz tatsächlich und unmittelbar durch die Erzielung von Einkommen selbst zu sichern. Ihre Situation ist dann im Ausgangspunkt derjenigen vergleichbar, in der keine Bedürftigkeit vorliegt, weil Einkommen oder Vermögen aktuell verfügbar und zumutbar einsetzbar sind. Wird eine solche tatsächlich existenzsichernde und im Sinne des § 10 SGB II zumutbare Erwerbstätigkeit ohne wichtigen Grund im Sinne des § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II willentlich verweigert, obwohl im Verfahren die Möglichkeit bestand, dazu auch etwaige Besonderheiten der persönlichen Situation vorzubringen, die einer Arbeitsaufnahme bei objektiver Betrachtung entgegenstehen könnten, ist daher ein vollständiger Leistungsentzug zu rechtfertigen.“ [Rdnr. 209]

Wieso hier „Wohnungslosigkeit, die Gefahr der Dequalifizierung, verstärkte Verschuldung, eingeschränkte Ernährung, unzureichende Gesundheitsversorgung, sozialen Rückzug sowie seelische Probleme bei erwerbsfähigen Leistungsberechtigten“ [Rdnr. 194] keine Rolle spielen sollen, erschließt sich nicht, vorallem nicht, wieso hier „die Gefahr von Kleinkriminalität, Schwarzarbeit“ [Rdnr. 65] nicht gegeben sein soll, zumal es bei der 100 %-Sanktion wahrscheinlich erscheint, „dass Menschen ihre Bedarfe durch illegale Erwerbsarbeit und Kriminalität zu decken suchen“ [Rdnr. 206].

 

Fazit

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zu den „Hartz IV“-Sanktionen ist einerseits positiv, indem nunmehr Sanktionen oberhalb von 30 % der Regelleistung und über einen starren dreimonatigen Zeitraum hinweg nicht mehr möglich sind. Auch muß eine Härtefallregelung eingeführt werden.

Die Begründung des Urteils ist allerdings nicht durchgehend schlüssig wie gezeigt.

Im Hinblick darauf, daß überhaupt sanktioniert werden darf, angesichts der Tatsache, daß bis auf Einzelfälle gar keine sozialversicherungspflichtigen und von staatlicher Unterstützung unabhängig machende und eine spätere auskömmliche Rente garantierende Arbeitsplätze angeboten werden, sondern in der Regel die hilfebedürftigen Menschen in schwachsinnige Maßnahmen zur Beschönigung der Statistik über Arbeitslosigkeit gesteckt werden, hätte es dem Bundesverfassungsgericht gut angestanden, sich mal hierzu zu äußern.

 

 

 

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