Alg II-Verordnung: Gesetz gegen Gerichtsentscheidungen
(2. März 2008)
Schon in dem Artikel „Alg II-Optimierung: Gesetz gegen Gerichtsentscheidungen“ vom Juni 2006 hatte ich mich mit der gesetzlichen Nachregelung von für die Alg II-Empfängerinnen und -empfänger positiven Gerichtsentscheidungen eben zu Lasten der Betroffenen auseinandergesetzt.
Aufgrund der aktuellen Entwicklung habe ich mich zu einem weiteren Artikel, diesmal die Neuregelung der Alg II-Verordnung betreffend, entschlossen. Die neue Alg II-Verordnung mit Gültigkeit ab 1. Januar 2008 konterkariert die bis dahin zugenommen habende Rechtsprechung gegen den pauschalen Kostenabzug für die Verpflegung während eines Krankenhausaufenthalts (u.Ä.).
Nachdem sich schon aufgrund der Rechtsprechung verschiedener Sozialgerichte Anfang 2007 – siehe auch meinen Artikel „Arbeitslosengeld II und Sachbezugsverordnung“ – die Nichtanrechnung der während eines Krankenhausaufenthaltes (von weniger als 6 Monaten – vergleiche § 7 Abs. 4 SGB II) erhaltenen Essensverpflegung abzeichnete, wurde in der zweiten Jahreshälfte Ende 2007 die Rechtsprechung noch deutlicher.
Dabei schälte sich als zentrales Argument immer mehr heraus, daß aufgrund der Pauschalierung der Regelleistung, was durch die Einfügung von § 3 Abs. 3 S. 2 und § 23 Abs. 1 S. 4 SGB II vom 1. August 2006, wonach weitere Leistungen ausgeschlossen seien, nochmals ausdrücklich bestätigt werde, es zu keiner Anrechnung der Verpflegung kommen könne, so wie umgekehrt ein höherer Bedarf ebenfalls keine Berücksichtigung fände.
Es wurde gefolgert, daß die Essensverpflegung während eines Krankenhausaufenthaltes (u.Ä.) weder zu einer Veränderung auf der Bedarfsseite führe noch eine Anrechnung als Einkommen in Frage käme.
So entschieden dann: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluß vom 30. Juli 2007, Az.: L 8 AS 186/07 ER; SG Lüneburg, Urteil vom 22. August 2007, Az.: S 25 AS 1455/06 mit weiteren Nachweisen und einer sehr ausführlichen Begründung; ebenso: SG Lüneburg, Beschluß vom 11. Dezember 2007, Az.: S 25 AS 1715/07 ER; Sächsisches LSG, Beschluß vom 22. Oktober 2007, Az.: L 2 B 422/07 AS-PKH in Anlehnung an LSG Niedersachsen; SG Berlin, Beschluß vom 14. November 2007, Az.: S 37 AS 28904/07 ER mit etwas anderer Begründung.
Da sich immer mehr eine Vereintheitlichung der sozialgerichtlichen und landessozialgerichtlichen Rechtsprechung abzeichnete, die sich argumentativ zunehmend an der Pauschalierung der Regelleistung SGB II orientierte, um eine Nichtanrechnung der Krankenhausverpflegung (u.Ä.) zu rechtfertigen, entschlossen sich Exekutive und Legislative offensichtlich kurzerhand, die Rechtsgrundlage zu ändern, um die Sozialgerichte, die ja als Fachgerichte zunächst an den Wortlaut des Gesetzes gebunden sind, zu blockieren.
Mit Wirkung 1. Januar 2008 wurde die Alg II-Verordnung geändert, wo es jetzt in (§ 4 i.V.m.) § 2 Abs. 5 Alg II-V heißt:
„Bereitgestellte Vollverpflegung ist pauschal in Höhe von monatlich 35 Prozent der nach § 20 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch maßgebenden monatlichen Regelleistung als Einkommen zu berücksichtigen.“ [BGBl. I, 2007, Nr. 65, S. 2942 ff.]
Damit ist zukünftig bei Krankenhausaufenthalten wie auch bei Reha-Maßnahmen, „Mutter-Kind-Kuren“ u.Ä. mit einer Reduzierung der Regellesitung um 35 % (oder tagesgenau anteilig) zu rechnen.
Bezeichnend, daß immer dann, wenn die Rechtsprechung zu Gunsten der Hilfeempfängerinnen und Hilfeempfänger ausgeht, diese durch entsprechende Nachregelung im Gesetz gekippt wird.
Andererseits eröffnet dies aber auf einem anderen Feld neue Möglichkeiten: ernährungsbedingter Mehrbedarf und das ganze Thema Schulbedarf müßte jetzt leichter vor Gericht durchsetzbar sein.
Im Übrigen ist noch nicht ausgemacht, ob die Änderung der Alg II-V in dem hier dargestellten Punkt höchstrichterlich Bestand hat, weil ja wie einige Sozialgerichte richtig argumentierten, beim Krankenhausaufenthalt „höhere Aufwendungen für zwangsläufig auf dem Krankenhausgelände zu erwerbende Genussmittel oder die Miete von Telefon und Fernseher“ [SG Lüneburg, Beschluß vom 11. Dezember 2007, Az.: S 25 AS 1715/07 ER] anfielen.
Weil das SG Lüneburg aber noch auf einen anderen Aspekt hingewiesen hatte, daß nämlich bei einer Anrechnung der Essensverpflegung als Einkommen dann auch die Zuzahlungen für den Krankenhausaufenthalt (= 10 EUR pro Tag gemäß § 61 SGB V) „als mit der Erzielung des Einkommens verbundene notwendige Ausgaben“ abzusetzen sein müßten [SG Lüneburg, Urteil vom 22. August 2007, Az.: S 25 AS 1455/06], wollten sich Exekutive und Legislative offensichtlich vor soviel gesetzlichem Rechtsbruch schützen und fügten in § 2 Abs. 5 Alg II-V noch folgenden Passus ein:
„Übersteigt das Einkommen … in einem Monat den sich nach § 62 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch als Belastungsgrenze für nicht chronisch Kranke mit ganzjährigem Bezug von Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch ergebenden Betrag [= 83 EUR; H.M.] nicht, so bleibt es als Einkommen unberücksichtigt.“ [BGBl. I, 2007, Nr. 65, S. 2942 ff.]
Gleichwohl hinterläßt diese Flickschuster-Politik des Stopfens von Regelungslücken zu Lasten der Betroffenen soviel üblen Nachgeschmack, daß sich der Klageweg lohnen sollte.