In der Nachbemerkung meines Artikels „KdU-Chaos Vergleichsraum“
schrieb ich:
Als das BSG das Konstrukt Vergleichsraum schuf, ohne es
zu definieren, eröffnete es nicht nur den unteren sozialgerichtlichen Instanzen
die Möglichkeit willkürlich – auch mithilfe von Gutachten und (sic!) einer
falsch verstandenen „Methodenvielfalt“ – Vergleichsräume festzulegen, sondern
es schuf damit insbesondere ein verfassungsrechtliches Problem.
Dieses Problem ist nun mit den im Volltext veröffentlichten
Entscheidungen BSG, Urteile vom 30. Januar 2019, Az.: B 14 AS 10/18 R, B 14 AS
24/18 R, B 14 AS 41/18 R, B 14 AS 11/18 R und B 14 AS 12/18 R nicht wirklich
gelöst worden, auch wenn dem BSG eine weitere juristische Spezifizierung nicht
abgesprochen werden kann.
Diese Spezifizierung eröffnet nämlich neue Wege der Willkür,
indem sie alte Wege der Willkür verschließt; letztendlich tauscht sie die
Willkürlichkeit sozialgerichtlicher Entscheidungen [1] gegen die
Willkürlichkeit sozialbehördlicher Entscheidungen ein.
Es wird abzuwarten sein, was die einzelnen
Grundsicherungsträger (SGB II wie SGB XII) daraus machen. Aber schon heute
dürfte klar sein, daß das Thema KdU die Sozialgerichte auch in Zukunft gewichtig
beschäftigen wird. Klar ist nur, daß KdU-Gutachten, wie sie jahrelang von
„Analyse&Konzepte“ gefertigt wurden, so nicht mehr möglich sind. Und die
klarste Regelung in diesem Zusammenhang dürfte sein, daß die Sozialgerichte
nicht befugt sind, selbst Vergleichsräume anstelle der
Grundsicherungsträger zu bilden.
Nachfolgend wird um der Klarheit willen nicht auf jeden
Aspekt der genannten BSG-Entscheidungen eingegangen, insbesondere nicht auf
Einzelfallaspekte, sondern ich beschränke mich auf jene relevanten Aspekte,
welche allen Verfahren gemeinsam sind.
Die Vergleichsraumbildung
„Der Vergleichsraum ist der Raum, für den ein grundsätzlich
einheitlicher abstrakter Angemessenheitswert zu ermitteln ist (...), innerhalb
dessen einer leistungsberechtigten Person ein Umzug zur Kostensenkung
grundsätzlich zumutbar ist (...) und ein nicht erforderlicher Umzug nach § 22
Abs 1 Satz 2 SGB II zu einer Deckelung der Aufwendungen auf die bisherigen
führt (...). Der Vergleichsraum ist ein ausgehend vom Wohnort der
leistungsberechtigten Person bestimmter ausreichend großer Raum der
Wohnbebauung, der aufgrund räumlicher Nähe, Infrastruktur und insbesondere
verkehrstechnischer Verbundenheit einen insgesamt betrachtet homogenen Lebens-
und Wohnbereich bildet (...).“ [2] [3] [4] [5] [6]
Der Vergleichsraum ist also in erster Linie jenes
Gebiet, indem die gleiche „Referenzmiete“ als Produkt aus Personenanzahl
bezogener Wohnungsgröße und „angemessenem“ Quadratmeterpreis (bruttokalt) gilt.
Auch die Deckelung der KdU bei einem nicht bewilligten Umzug ist an denselben Vergleichsraum
gebunden; ansonsten gilt die freie Wohnsitzwahl (Art. 11 GG) [7].
Neben diesen Bestimmungen haben die Entscheidungen vom 30.
Januar 2019 nur eine einzige wirkliche Klarheit geschaffen:
„Ist die Ermittlung dieses abstrakten
Angemessenheitswerts rechtlich zu beanstanden, ist dem Jobcenter Gelegenheit zu
geben, diese Beanstandungen durch Stellungnahmen, ggf nach weiteren eigenen
Ermittlungen, auszuräumen (...).“ [8] [9] [10] [11] [12]
Auf gar keinen Fall dürfen die Sozialgerichte anstelle der
Grundsicherungsbehörden Vergleichsräume bilden:
„Gelingt es dem Jobcenter nicht, die Beanstandungen des
Gerichts auszuräumen, ist das Gericht zur Herstellung der Spruchreife der Sache
(...) nicht befugt, seinerseits eine eigene Vergleichsraumfestlegung
vorzunehmen (...) oder ein schlüssiges Konzept - ggf mit Hilfe von
Sachverständigen - zu erstellen. Beide Entscheidungen korrespondieren
miteinander, denn die Bildung des Vergleichsraums kann nicht von der Erstellung
des Konzepts getrennt werden, einschließlich der anzuwendenden Methode, und
sind dem Jobcenter vorbehalten (vgl zu den Auswirkungen dieser Entscheidungen
auf den örtlichen Wohnungsmarkt nur § 22a Abs 3 Satz 2 SGB II).“ [13] [14]
[15] [16] [17]
Die Folge ist aber nicht unbedingt die Übernahme der
tatsächlichen Unterkunftskosten. Hier bleibt es bei der Deckelung durch die
Tabellenwerte § 12 WoGG:
„Vielmehr kann das Gericht zur Herstellung der
Spruchreife, wenn ein qualifizierter Mietspiegel vorhanden ist, auf diesen
zurückgreifen; andernfalls sind mangels eines in rechtlich zulässiger Weise
bestimmten Angemessenheitswerts die tatsächlichen Aufwendungen für die
Unterkunft dem Bedarf für die Unterkunft zugrunde zu legen, begrenzt durch die
Werte nach dem WoGG plus Zuschlag von 10 % (...). Dadurch soll den
Gegebenheiten des örtlichen Wohnungsmarkts zumindest ansatzweise gemäß
gesetzgeberischer Entscheidungen - wenn auch für einen anderen Personenkreis -
durch eine ‚Angemessenheitsobergrenze’ Rechnung getragen werden, die die
Finanzierung extrem hoher und per se unangemessener Mieten verhindert (...).“
[18] [19] [20] [21] [22]
Damit ist allerdings auch klar, daß die Hilfebedürftigen von
den Sozialgerichten nicht jahrelang im Regen stehen gelassen werden dürfen,
sondern ihnen im Eilrechtsverfahren zumindest die KdU gemäß Tabellenwerte § 12
WoGG plus 10%-Sicherheitsaufschlag vorläufig zu bewilligen sind.
Was völlig ungeklärt bleibt bei dieser BSG-Rechtsprechung
ist die Antwort auf die Frage, wie Vergleichsräume gebildet werden
dürfen oder gar müssen. Schelm, wer denkt, das BSG habe sich mit seinen
Entscheidungen vom 30. Januar 2019 quasi selbst eine
Arbeitsbeschaffungsmaßnahme erstellen wollen!
Aus eigener prozessualer Erfahrung mit der Optionskommune
Landkreis Göttingen weiß ich zu genau, daß dieses zur Kostensenkung gerne
Kommunen zusammen gelegt hätte, die einfach nicht zusammen gehören. Als
Argumentationshilfe wurde das Regionale Raumordnungsprogramm (RROP), welches
der Landkreis im Rahmen des Landesraumordnungsprogrammes (LROP) selbst
erstellt, herangezogen. Diese Politik wurde schließlich durch das LSG
Niedersachsen-Bremen und in dessen Gefolge von verschiedenen Kammern des SG
Hildesheim einhellig gestoppt.
Wie aber ist diese Politik der Grundsicherungsträger zu
bewerten, wenn diese nach den BSG-Urteilen vom 30. Januar 2019 die einzig
Befugten sind, Vergleichsräume festzulegen?
Grenzen der Vergleichsraumbildung
Zunächst ist bemerkenswert, daß das BSG in seinen
Entscheidungen vom 30. Januar 2019 nicht wie die Grundsicherungsträger von
„Methodenfreiheit“, sondern von „Methodenvielfalt“ spricht [23] [24] [25] [26]
[27]. Damit wird zumindest klargestellt seitens des höchsten Sozialgerichtes,
daß es keine Beliebigkeit der Vergleichsraumbildung geben darf, wie ihn
der Begriff der „Methodenfreiheit“ nicht nur suggeriert.
Nachfolgend wird kurz dargestellt, welche Einschränkungen das
BSG bei der Vergleichsraumbildung neben dem bisherigen wenig aussagenden
Allgemeinplatz – „Der Vergleichsraum ist ein ausgehend vom Wohnort der
leistungsberechtigten Person bestimmter ausreichend großer Raum der
Wohnbebauung, der aufgrund räumlicher Nähe, Infrastruktur und insbesondere
verkehrstechnischer Verbundenheit einen insgesamt betrachtet homogenen Lebens-
und Wohnbereich bildet (...).“ [2] [3] [4] [5] [6] – sieht, um der wohl
geahnten Willkürlichkeit der Grundsicherungsträger zumindest die Spitze zu
brechen.
Da wäre, „das der Senat ausgehend von der bisherigen
Rechtsprechung unter Einbeziehung der Rechtsentwicklung wie folgt zusammenfasst
und konkretisiert (...): (1) Bestimmung der (abstrakt) angemessenen
Wohnungsgröße für die leistungsberechtigte(n) Person(en), (2) Bestimmung des
angemessenen Wohnungsstandards, (3) Ermittlung der aufzuwendenden
Nettokaltmiete für eine nach Größe und Wohnungsstandard angemessene Wohnung in
dem maßgeblichen örtlichen Vergleichsraum nach einem schlüssigen Konzept, (4)
Einbeziehung der angemessenen kalten Betriebskosten.“ [28] [29] [30] [31]
[32]
Der Knackpunkt ist dabei der Punkt Nr. 2, die Bestimmung des
„angemessenen“ Wohnungsstandards. Aus der großen Anzahl mir bekannter
sozialgerichtlicher Entscheidungen ist ersichtlich, daß die überwiegende
Mehrheit der Grundsicherungsträger sowie die von ihnen beauftragten
KdU-Gutachten-Firmen behaupten, über den gesamten Wohnungsmarkt ermittelt zu
haben. Weiterhin findet aber keine positive Definition des Wohnungsstandards
statt, sondern lediglich der Ausschluß bestimmter Wohnungen, wie auf der einen
Seite der Ausschluß von Luxus-Wohnungen und auf der anderen Seite von Wohnungen
untersten Wohnstandards wie Wohnungen mit Ofen, ohne Bad und WC [33]. Ferner
werden dann noch Wohnungen ausgeschlossen, die möbliert vermietet werden,
Heimwohnungen, Ferienwohnungen, Wohnungen zu Freundschaftsmieten [34].
Aber es findet keine positive Definition dessen statt, was
Wohnungen einfachen, mittleren oder gehobenen Standards sind, obwohl behauptet
wird, über den gesamten Wohnungsmarkt ermittelt zu haben.
Dies ist aber besonders wichtig, da die Kappungsgrenze über die
Höhe der „angemessenen“ KdU entscheidet und diese umso geringer ausfallen, je
höher der Anteil von Wohnungen unteren Wohnungsstandards am Gesamtbestand der
Untersuchung ist [35].
Ausblick
Was folgt nun überhaupt aus den BSG-Entscheidungen vom 30.
Januar 2019?
Für die sozialgerichtliche Rechtsprechung ist nur eines
klar: Aufgrund des BSG-Verbots, gerichtlich Vergleichsräume festzulegen,
folgt, daß den Sozialgerichten unterer Instanzen nur die Möglichkeit bleibt,
über die gerichtliche Überprüfung der „abstrakten Angemessenheit“ des
„schlüssigen Konzepts“ auch über die richtige Wahl des Vergleichsraumes
bzw. der Vergleichsräume mitzubefinden, denn, „[e]s ist gerichtlich
voll überprüfbar - ... -, ob die Ermittlung der abstrakt angemessenen
Nettokaltmiete, insbesondere die Festlegung des Vergleichsraums und die
Erstellung eines schlüssigen Konzepts im Rahmen der Methodenvielfalt zutreffend
erfolgt ist. Die volle gerichtliche Überprüfung des Angemessenheitswerts und
des Verfahrens zu seiner Ermittlung schließt nicht aus, dass bei dieser
Kontrolle der Verwaltung deren in der Methodenvielfalt zum Ausdruck kommenden
Eigenverantwortung Rechnung getragen und die gerichtliche Kontrolle als eine
nachvollziehende Kontrolle ausgestaltet wird (...).“ [36] [37] [38] [39]
[40].
Das heißt, nur wenn die gerichtliche Überprüfung der
„abstrakten Angemessenheit“ ergibt, daß ein Vergleichsraum vom
Grundsicherungsträger in seinem „schlüssigen Konzept“ nicht richtig bestimmt
sein kann, ergibt sich die Möglichkeit, das „schlüssige Konzept“ zu kippen.
Zuerst muß dabei aber dem Grundsicherungsträger die Möglichkeit der
Nachbesserung gegeben werden. Erst wenn diese nicht möglich ist, erfolgt die
urteilsmäßige Festlegung der KdU aufgrund gerichtlich festgestellten totalen
Ermittlungsausfalls anhand der Tabellenwerte § 12 WoGG plus
10%-Sicherheitsaufschlag.
Insofern ist von Bedeutung, daß die Festlegung der
Tabellenwerte § 12 WoGG nicht mehr realitätsfremd über Jahre erfolgt, ohne
jährliche Angleichung zumindest mit der allgemeinen Inflationsrate, wie 2001,
2009 und 2016, wobei am Beispiel Göttingen (Stadt) die WoGG-Werte nur im ersten
Jahr 2016 angemessen waren. Vielmehr sollen ab 2020 die Tabellenwerte § 12 WoGG
alle zwei Jahre dynamisiert werden anhand der Entwicklung der Mieten und
Einkommen sowie teilweise der Verbraucherpreise (allgemeine Inflationsrate)
[41]
Dies dürfte ab 2020 zumindest in den Groß- und
Universitätsstädten die Mietpreisentwicklung halbwegs abbilden. Daß nun auch
das Wohngeld analog der für Mietspiegel geltenden Regelungen (§ 558c Abs. 3, §
558d Abs. 2 BGB) zukünftig regelmäßig erhöht werden soll, ist mehr als
überflüssig – nach 15 Jahren „Hartz IV“. Und nur so läßt sich der weiterhin
lediglich 10%-ige Sicherheitsaufschlag noch rechtfertigen.
Fußnoten
[1] Siehe die Darstellung verschiedener
LSG-Entscheidungen im Artikel „KdU-Chaos Vergleichsraum“
[http://www.herbertmasslau.de/kdu-vergleichsraum.html]
[2] BSG, Urteil vom 30. Januar 2019, Az.: B
14 AS 10/18 R, Rdnr. 24
[3] BSG, Urteil vom 30. Januar 2019, Az.: B
14 AS 24/18 R, Rdnr. 22
[4] BSG, Urteil vom 30. Januar 2019, Az.: B
14 AS 41/18 R, Rdnr. 21
[5] BSG, Urteil vom 30. Januar 2019, Az.: B 14 AS 11/18 R,
Rdnr. 21
[6] BSG, Urteil vom 30. Januar 2019, Az.: B 14
AS 12/18 R, Rdnr. 24
[7] BSG, Urteil vom 1. Juni 2010, Az.: B 4 AS
60/09 R, Rdnr. 18
[8] = [2], Rdnr. 30
[9] = [3], Rdnr. 28
[10] = [4], Rdnr. 27
[11] = [5], Rdnr. 27
[12] = [6], Rdnr. 30
[13] = [2], Rdnr. 31
[14] = [3], Rdnr. 29
[15] = [4], Rdnr. 28
[16] = [5], Rdnr. 28
[17] = [6], Rdnr. 31
[18] = [2], Rdnr. 32
[19] = [3], Rdnr. 30
[20] = [4], Rdnr. 29
[21] = [5], Rdnr. 29
[22] = [6], Rdnr. 32
[23] = [2], Rdnr. 26, 27
[24] = [3], Rdnr. 24, 25
[25] = [4], Rdnr. 23, 24
[26] = [5], Rdnr. 23, 24
[27] = [6], Rdnr. 26, 27
[28] = [2], Rdnr. 22
[29] = [3], Rdnr. 20
[30] = [4], Rdnr. 19
[31] = [5], Rdnr. 19
[32] = [6], Rdnr. 22
[33] in Anlehnung an BSG, Urteil
vom 19. Oktober 2010, Az.: B 14 AS 2/10 R, Rdnr. 24
[34] in Anlehnung an BSG, Urteil
vom 22. September
2009, Az.: B 4 AS 18/09 R, Rdnr. 22
[35] siehe stellvertretend LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil
vom 2. April 2019, Az.: L 6 AS 467/17, Rdnr. 35: „Die Beurteilung des SG,
dass in der Stichprobe preisgünstiger Wohnraum, also das untere Segment überrepräsentiert
ist, hat sich im Berufungsverfahren bestätigt.“