Neue SGB II-Regelleistung – Bundessozialgericht konterkariert Bundesverfassungsgerichtsentscheidung
(30. September 2012)
Das Bundessozialgericht (BSG) hat erstmals mit seiner Entscheidung im Verfahren B 14 AS 153/11 R vom 12. Juli 2012 zur neuen, ab 1. Januar 2011 (rückwirkend) geltenden Regelleistung inhaltlich Stellung bezogen. Für das BSG ist die neue Regelleistung nicht verfassungswidrig.
Dabei wird deutlich, daß dort, wo es nicht um konkrete Detailrechtsprobleme geht, die Qualität der BSG-Entscheidungen mittlerweile gegen Null tendiert.
Wie schon bei der BSG-Entscheidung B 4 AS 16/11 R vom 22. März 2012 zu den Unterkunftskosten (KdU) – s. meinen Artikel hier – so auch hier bei der Grundsatzfrage der Verfassungsgemäßheit der neuen Regelleistung 2011 hat sich das BSG nicht einmal ansatzweise die Mühe gemacht, mit der Rechtsfrage zwangsläufig verbundene Grundsatzprobleme zu erörtern. Andernfalls hätte sich das nicht nur im Urteil wiederfinden, sondern zu einer ganz anderen Entscheidung führen müssen.
Und anders als der damalige Senatsvorsitzende und Präsident des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) Papier (CSU) wird sich der bald scheidende Senatsvorsitzende des 14. BSG-Senats Udsching (FDP) nicht mit einem Paukenschlag verabschieden.
Fazit: Die BSG-Entscheidung zur Frage der Verfassungsgemäßheit der neuen Regelleistung 2011 ist das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt ist!
Abgesehen von Punkt II.11 der BSG-Entscheidung (Rdnrn. 62-78) enthält das Urteil keinerlei inhaltlich konkret werdende Bemerkungen zur Rechtsfrage der Verfassungsgemäßheit der neuen Regelleistung 2011. Dafür wird pausenlos nur behauptet, die neue Regelleistung 2011 sei verfassungsgemäß, stelle keinen Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 (Menschenwürde) i.V.m. Art. 20 Abs. 1 (Sozialstaatsgebot) GG dar (so Rdnrn. 8, 14, 17, 19, 21, 26).
Die BSG-Entscheidung im einzelnen:
Dort, wo es um die Streichung von Positionen der EVS 2008 (Verbrauchsstatistik) geht, die dem Teilhabebereich zuzuordnen sind, meint das BSG, der vom BVerfG dem Gesetzgeber zugestandene größere Gestaltungsspielraum im Gegensatz zu Positionen des physischen Existenzminimums erlaube dieses. Mit anderen Worten: das BSG setzt größeren Gestaltungsspielraum gleich mit Vollausschluß (so Rdnrn. 75, 77). Daß es sich bei dem Begriff größerer Gestaltungsspeilraum um einen relationalen Begriff handelt, übersteigt offensichtlich die geistigen Fähigkeiten des 14. Senats. Auch beläßt es das BSG bei der isolierten Betrachtung der Summanden (Positionen EVS), ohne eine Gesamtbetrachtung der Summe (Regelleistung) vorzunehmen und sich damit die Frage zu stellen, ob die verfassungsrechtlich gebotene interne Ausgleichmöglichkeit zwischen den einzelnen Positionen noch gegeben ist.
– Reduzierung der untersten 20 % auf die untersten 15 % Einkommensbezieher bei der EVS 2008
„Es obliegt seiner [i.e. Gesetzgeber, H.M.] Wertung, die Größe der Referenzgruppe zu bestimmten. Diese Wertung muß hinreichend deutlich offengelegt und inhaltlich sachgerecht und vertretbar sein. Die rein nominelle Herabsetzung des Prozentsatzes ist dem Gesetzgeber nicht grundsätzlich verwehrt.“ [Rdnr. 37]
Wer die BSG-Entscheidung böswillig liest, kann dies so interpretieren, daß der Gesetzgeber das Recht hat, willkürlich den zu berücksichtigenden Bevölkerungsanteil nach unten zu schrauben, Hauptsache, er tut dies kund. Aber auch die weiterführende Argumentation des BSG führt den kritischen Betrachter nicht weiter. Die Zirkelschlußargumentation wird vom BSG sogar ad absurdum geführt, wenn es behauptet, die statistische Berücksichtigung von BAföG- und BAB-Empfängerinnen und -Empfänger führe nicht zur Hereinnahme von Haushalten mit Einkommen unterhalb des Existenzminimums, denn „[d]urch den Anspruch nach § 22 Abs 7 SGB II [jetzt § 27 SGB II, H.M.] ist – bei gleichzeitiger teilweiser Freistellung des Einkommens [gemeint ist wohl der 20%-Anteil am BAföG für Bildungsausgaben, H.M.] – gesichert, dass diese Haushalte im Erhebungszeitraum über Einkommen oberhalb des Existenzminimums verfügten ... .“ [Rdnr. 47] Der Zirkelschluß entsteht – unabhängig von der Frage der Berücksichtigung rechtswidrig zu niedriger KdU –, wenn die Regelleistung selber verfassungswidrig zu niedrig ist, weil dies Einfluß daraufhin hat, ob Auszubildende nach BAföG und BAB nicht doch unterhalb des Existenzminimums liegen. Und, angesichts des neuen Bildungsparagraphen § 28 SGB II n.F. den Bildungsanteil an der Ausbildungshilfe als übersteigendes Einkommen bei der Regelleistung zu bewerten, ist schlichtweg eine Frechheit.
Geradezu zynisch wird der Udsching-Senat, wenn er im Hinblick auf das Argument der verdeckten Armen, die einen Leistungsanspruch hätten, diesen aber nicht wahrnähmen, argumentiert, der Gesetzgeber sei nicht verpflichtet gewesen, diese verdeckt Armen zu berücksichtigen, denn „[d]er Auftrag des BVerfG bezog sich auf die Auswertung künftiger EVS, nicht auf die künftige Auswertung der EVS 2008.“ [Rdnr. 44] Das Bundesverfassungsgericht hatte den 1. Januar 2011 als Stichtag gesetzt und nicht einen Termin irgendwann in der Zukunft.
– Abschaffung des Warmwasserabzugs und Übernahme der Warmwasserkosten
Um 1990 wurde vom Deutschen Verein die Ideologie des Warmwasseranteils von 30 % an dem Energiekostenanteil des Regelsatzes der alten Sozialhilfe (BSHG) entwickelt. Dies sollte der finanziellen Entlastung der Kommunen aufgrund der wegen der Massenarbeitslosigkeit in den 1980er Jahren enorm gestiegenen Zahl der Sozialhilfe beziehenden Menschen dienen. Bundesweit wurde diese Regelung dann vom OVG Lüneburg gepuscht und wurde zum Standard, der sich auch auf das SGB II übertrug, rechtlich letztlich festgeschrieben durch die BSG-Entscheidung im Verfahren B 14/11b AS 15/07 R vom 27. Februar 2008. [Siehe dazu meine ausführliche Kritik auf meiner website.] Dieser behauptete, aber nie nachgewiesene Warmwasseranteil an der Regelleistung wurde zur Vermeidung von Doppelleistungen von den Unterkunfts- bzw. Heizkosten abgezogen. Der Punkt dabei ist nicht, daß der Warmwasseranteil, der früher in der Regelleistung enthalten sein sollte und von den KdU abgezogen wurde, nun aus der Regelleistung herausgenommen und bei den KdU berücksichtigt wird. Der Punkt ist auch nicht, daß sich das BSG nachwievor in diesem Zusammenhang nicht die Frage der Auswirkungen eines bisher nur behaupteten und nicht nachgewiesenen Warmwasseranteils bei der alten Regelleistung stellt. Der entscheidende Punkt ist, daß das BSG es so darstellt, als würde der Wegfall des Warmwasserabzugs bei zentraler Versorgung und die Gewährung des Zuschusses nach § 21 Abs. 7 SGB II n.F. bei dezentraler Versorgung eine „Erhöhung des Regelbedarfs für Alleinstehende“ [Rdnr. 61] bedeuten. Denn mit der vor 2011 geltenden EVS 2003 war der Warmwasseranteil gar nicht statistisch erhoben, alles andere pure fiktive Berechnung des BSG, die das sakrosankte Axiom der Existenz eines solchen Warmwasseranteils in der Regelleistung gar nicht erst hinterfragte. So gesehen ist mit der Neuregelung ab 2011 lediglich ein verfassungskonformer Zustand hinsichtlich der Warmwasserkosten eingetreten. Dies als frei verfügbare Gewinnmasse bei der Regelleistung zu verkaufen ist eine Frechheit.
– die einzelnen Bedarfsabteilungen der EVS 2008 [Rdnrn. 65-78]
Die Auseinandersetzung hiermit soll nur anhand weniger Beispiele erfolgen, da das BSG bei einzelnen Positionen nicht über eine bloße Beschreibung hinausgeht (so Rdnr. 65 zu Abteilung 1, Rdnr. 68 zu Abteilung 4, Rdnr. 69 zu Abteilung 5, Rdnr. 74 zu Abteilung 8, Rdnr. 76 zu Abteilung 10, Rdnr. 78 zu Abteilung 12).
Andererseits muß man/frau sich mit Sätzen wie „[s]oweit das SG Berlin (…) die Reduzierung des Bedarfs in diesem Punkt [Abteilung 3, Bekleidung, Wegfall chemische Reinigung u. dergl., H.M.] als nicht hinreichend begründet ansieht, geht es von einem unzutreffenden Inhalt der Begründung des Gesetzentwurfs aus.“ [Rdnr. 67] tautologischen Blödsinn zu Gemüte führen. Da mag man/frau sich genüßlich zurücklehnen und einmal kräftig lachen, aber sich mit solch einem BSG-Schwachsinn auseinanderzusetzen ist nun wirklich zuviel des Guten.
Soweit mit der Regelleistung 2011 ein Totalausschluß einzelner Positionen vom Gesetzgeber vorgenommen wurde, rechtfertigt dies das BSG, wie oben schon erwähnt, mit dem größeren Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers. So für den Ausschluß alkoholischer Getränke in Abteilung 2 [Rdnr. 66]. Das BSG setzt sich nicht wirklich, d.h. gar nicht, mit den möglichen sozialen Folgen auseinander, weil es nur auf das „Feierabendbier“ abhebt, nicht aber auch auf die Bewirtung von häuslichen Gästen oder das gemeinsame Glas Bier oder Wein mit Freunden in einer Gaststätte. Ebenso betrifft dies den Totalausschluß in Abteilung 9. Dort gesteht das BSG immerhin zu, daß die Kritik an der Herausnahme der Position Schnittblumen „sozialpolitisch nachvollziehbar sein [mag]“, aber „[d]er Gesetzgeber durfte diesen dem soziokulturellen Bereich zuzuordnenden Bedarf aufgrund seines insofern größeren Entscheidungsspielraums als nicht existenzsichernd von der Berücksichtigung im Regelbedarf ausschließen… .“ [Rdnr. 75]. Daß diese Begründung, weil nicht existenzsichernd, was ja wohl das rein physische Existenzminimum meint, den Weg zur völligen Abschaffung sämtlicher Teilhabekomponenten des sozio-kulturellen Existenzminimums freimacht, dürfte dem BSG klar gewesen sein. Hier dürfte das BSG schon den Weg vorgezeichnet haben für die immer wieder von bestimmten Interessen geforderte Kürzung der Regelleistung um 30 Prozent, was in etwa dem gesellschaftlichen Teilhabeanteil entsprechen dürfte. Insofern ist es auch nur konsequent, wenn das BSG soziale Kontakte von „Hartz IV“ beziehenden Menschen auf den häuslichen Wohnbereich beschränken will. Denn nicht anders ist die Bemerkung zu interpretieren, daß hinsichtlich des Totalausschlusses der auswärtigen Verpflegung in Restaurants und Cafés in Abteilung 11, weil dies „nicht Teil des physischen Existenzminimums ist“ [Rdnr. 77] „stattdessen der entsprechende häusliche Verpflegungsaufwand“ berücksichtigt wurde. Auch hier wieder die lapidare Begründung des BSG mit dem „größeren Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers“ [Rdnr. 77].
Hinsichtlich der Abteilung 7 (Verkehr) und die dortzu erfolgte Sonderauswertung verlangt das BSG, da diese „Sonderauswertungen unter einem für empirisch-statistische Methoden erheblichen Zeitdruck durchzuführen waren“ [Rdnr. 73], daß die Hilfeempfängerinnen und -empfänger auf „etwa 5,50 Euro monatlich“ [Rdnr. 73] verzichten. Also, solch ein BSG-Richter verdient etwa 15.000 Euro monatlich – aus dem Steuersäckel! Was für Frechheiten maßen sich diese Personen eigentlich hinsichtlich Menschen, für die jeder „Heiermann“ von Bedeutung ist, an!
Die BSG-Entscheidung zur Regelleistung 2011 ist qualitativ dermaßen schlecht, daß einem im Hinblick auf eine verfassungsgerichtliche Überprüfung nicht bange sein muß.