Herbert Masslau

BSG zu Schulbuchkosten

(19. Juli 2019)

 

 

Vorbemerkung 1

Den Entscheidungen des Bundessozialgerichtes (BSG) vom 8. Mai 2019 zu den Schulbuchkosten lagen zwei für die Betroffenen positive Entscheidungen des LSG Niedersachsen-Bremen vom Dezember 2017 zugrunde [1].

Deshalb soll an dieser Stelle eine erläuternde Betrachtung der Situation der Lernmittelfreiheit in Niedersachsen erfolgen.

Bereits zu Beginn von „Hartz IV“ wurde mit Runderlaß des Niedersächsischen Kultusministers vom 11. März 2005 eine die Schulen bindende Regelung „Entgeltliche Ausleihe von Lernmitteln“ geschaffen. Dieser Runderlaß wurde dann ersetzt durch den Runderlaß vom 23. Februar 2011 und dieser wiederum ohne inhaltliche Änderungen ersetzt durch den Runderlaß vom 1. Januar 2013, welcher bis Ende 2020 gelten soll [2].

Nach Nr. 1 dieses Runderlasses bieten die einzelnen Schulen den Erziehungsberechtigten bzw. den volljährigen Schülerinnen und Schülern die entgeltliche Ausleihe von Lernmitteln an.

Nach Nr. 2 dieses Runderlasses und weiteren Konkretisierungen sind davon schon mal ausgenommen „Lektürehefte, Literatur und Atlanten“ sowie „Arbeitshefte und das Mathematikbuch im ersten Schuljahr“ [2], weil in Letzteren Eintragungen vorgenommen werden können und diese damit für die Ausleihe nicht geeignet seien.

Nach Nr. 7 dieses Runderlasses sind Empfängerinnen und Empfänger folgender Leistungen von der Zahlung des Entgelts für die Ausleihe ausgenommen:

SGB II („Hartz IV“), SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe), SGB XII (Sozialhilfe), § 6a BKGG (Kindergeld), WoGG (Wohngeld) – inzwischen präzisiert durch § 6b BKGG in Verbindung mit § 28 SGB II – und AsylbewLG (Asylbewerber) [2].

Ergänzt werden muß, daß offensichtlich die unentgeltliche Ausleihe von Schulbüchern in Niedersachsen dann auch noch von jeder Schule einzeln abhängt. Während die Kinder des Autors auch in der Oberstufe (Gesamtschule in Göttingen) von der Schulbuchmiete befreit waren, liegt der hier behandelten Entscheidung offensichtlich ein Fall zugrunde, bei dem die betreffende Schule „ab der 11. Klasse in der Oberstufe beim Gymnasium I. eine Ausleihe von Schulbüchern nicht mehr“ ermöglichte [3].

Insgesamt kann festgehalten werden, daß es in Niedersachsen keine allgemeine Lernmittelfreiheit gibt und daß die Befreiung von der Schulbuchmiete von Schule zu Schule unterschiedlich ist, je nachdem, ob die betreffende Schule überhaupt eine Ausleihe vornimmt.

 

Vorbemerkung 2

Wer sich zu erinnern glaubt, das BSG habe doch schon mal die Übernahme von Schulbuchkosten ausgeschlossen, der bzw. die hat recht [4] [5].

Dies ist aber auch dem BSG bei seinen Entscheidungen klar gewesen:

„Soweit das BSG in seiner früheren Rechtsprechung sich ablehnend oder zweifelnd zur Übernahme von Bedarfen für die Schulbildung im Rahmen des SGB II geäußert hat, lag den Entscheidungen zunächst die Rechtslage vor Einführung des § 21 Abs 6 SGB II zugrunde (...) und sodann allgemein die Sorge vor der Rolle der Jobcenter als Ausfallbürgen für über §§ 20 und 28 SGB II hinausgehende Bildungsbedarfe (...).“ [6]

In den ersten beiden Fällen ging es um Schulbuchkosten vor Einführung des § 24a SGB II alt, jetzt § 28 SGB II, nämlich aus den Jahren 2005 bis 2007. Im letzten Fall ging es um Leihgebühren für ein Musikinstrument, wobei das BSG seinerzeit trotz gegenteiliger Ansichten in der Kommentierung und teilweise der obergerichtlichen Rechtsprechung die Auffassung vertrat: „Die Deckung von Bedarfen für den Schulunterricht, die der Durchführung des Unterrichts selber dienen, liegt in der Verantwortung der Schule und darf von den Schulen oder Schulträgern nicht auf das Grundsicherungssystem abgewälzt werden.“ [7]

Und dies trotz der hinsichtlich des letzten Falles bereits existierenden Norm § 21 Abs. 6 SGB II (analog zu § 73 SGB XII) und der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) vom 9. Februar 2010, wonach Schulkosten zum vom Staat zu garantierenden Existenzminimum gehören: „Ein zusätzlicher Bedarf ist vor allem bei schulpflichtigen Kindern zu erwarten. Notwendige Aufwendungen zur Erfüllung schulischer Pflichten gehören zu ihrem existentiellen Bedarf.“ [8].

Immerhin hält das BSG an seiner bisherigen Rechtsauffassung nicht mehr fest:

„In der Sondersituation des vom Regelbedarf nicht zutreffend erfassten Bedarfs für Schulbücher, wenn keine Lernmittelfreiheit besteht, sind indes die Kosten durch die Jobcenter auf der Grundlage des § 21 Abs 6 SGB II bei dessen verfassungskonformer Auslegung zu übernehmen. Den Jobcentern kommt (auch) insoweit die Stellung als ‚Ausfallbürgen’ zu (...).“ [6]

 

§ 28 Abs. 3 und § 20 SGB II unzureichend

Bei der Schaffung des Bildungs- und Teilhabepaketes in Gefolge der BVerfG-Entscheidung vom 9. Februar 2010 [8], verortete der Gesetzgeber die Schulbuchkosten als mit der Regelleistung abgedeckt:

„Die Leistungen für Bildung und Teilhabe ergänzen den Regelbedarf, der weitergehende typische Bedarfslagen im Zusammenhang mit dem Schulbesuch abdeckt. So ist insbesondere die Anschaffung von Schulbüchern vom Regelbedarf umfasst, soweit die Länder nicht ohnehin Lehrmittelfreiheit gewähren.“ [9]

Damit standen für das BSG die Leistungen gemäß § 28 Abs. 3 SGB II (Schulbeihilfe) nicht im Widerspruch zum Begehren der Klägerin.

§ 28 Abs. 3 SGB II kam also bereits aufgrund der gesetzgeberischen Definition nicht als Anspruchsgrundlage in Frage.

Aber auch § 24 Abs. 1 SGB II, welcher Spitzen abdecken soll bei Leistungen, welche dem Grunde nach von der Regelleistung § 20 SGB II umfaßt sind, kommt nicht in Frage: „Denn dieser Bedarf ist im Regelbedarf der Höhe nach strukturell unzutreffend erfasst für Schüler, die mangels Lernmittelfreiheit in ihrem Bundesland ihre Schulbücher selbst kaufen müssen.“ [10]

Und dies, weil in der EVS-Position 0951 000 weniger als 3 Euro eingestellt sind. Hierzu bereits 2014 das BVerfG bezogen auf z.B. Waschmaschinen: „Nach der vorliegenden Berechnungsweise des Regelbedarfs ergibt sich beispielsweise die Gefahr einer Unterdeckung hinsichtlich der akut existenznotwendigen, aber langlebigen Konsumgüter, die in zeitlichen Abständen von mehreren Jahren angeschafft werden, eine sehr hohe Differenz zwischen statistischem Durchschnittswert und Anschaffungspreis. So wurde für die Anschaffung von Kühlschrank, Gefrierschrank und -truhe, Waschmaschine, Wäschetrockner, Geschirrspül- und Bügelmaschine (Abteilung 05; BTDrucks 17/3404, S. 56, 140) lediglich ein Wert von unter 3 € berücksichtigt.“ [11]

Für einen solchen Fall sah das BVerfG vor: „Auf ein nach § 24 Abs. 1 SGB II mögliches Anschaffungsdarlehen, mit dem zwingend eine Reduzierung der Fürsorgeleistung um 10 % durch Aufrechnung nach § 42a Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit § 24 Abs. 1 SGB II ab dem Folgemonat der Auszahlung verbunden ist, kann nur verwiesen werden, wenn die Regelbedarfsleistung so hoch bemessen ist, dass entsprechende Spielräume für Rückzahlungen bestehen.“ [12]

Im hier besprochenen Fall der Schulbuchkosten hatte sich das BSG über die Lernmittelfreiheit bei den einzelnen Bundesländern erkundigt und festgestellt:

„Der Bedarf für Schulbücher ist im Regelbedarf aufgrund der Lernmittelfreiheit in der Mehrzahl der Bundesländer strukturell nicht realitätsgerecht und der Höhe nach zu niedrig erfasst, wenn keine Lernmittelfreiheit besteht.“ [13]

Und:

„Die Ermittlung des Regelbedarfs aufgrund des bundesweiten durchschnittlichen Verbrauchsverhaltens ist insoweit strukturell unzutreffend für Haushalte in den Ländern, in denen keine Lernmittelfreiheit besteht. Das Ergebnis der Regelbedarfsermittlung für Schulbücher ist folglich nicht auf Schüler übertragbar, soweit für diese anders als in den meisten Bundesländern keine Lernmittelfreiheit gilt.“ [14]

„Zur Deckung des Bedarfs für Schulbücher kann danach weder auf den Regelbedarf nach § 20 SGB II und die mit ihm verbundene Ansparkonzeption verwiesen werden noch auf ein Darlehen nach § 24 Abs 1 SGB II, denn auch die Verweisung hierauf setzt voraus, dass ein Bedarf bei der Ermittlung des Regelbedarfs in strukturell realitätsgerechter Weise zutreffend erfasst worden ist und nicht bloß ein individuell vom Regelbedarf abweichender Bedarf im Streit steht. Hieran fehlt es aufgrund der aufgezeigten strukturell zu niedrigen Regelbedarfsermittlung für Schulbücher bei fehlender Lernmittelfreiheit.“ [15]

Um das Problem zu lösen hat sich das BSG anders als noch 2013 [7], wo die BVerfG-Entscheidung von 2014 noch nicht vorlag, für eine Interpretation folgender Passage entschieden: „Fehlt es aufgrund der vorliegend zugrunde gelegten Berechnung des Regelbedarfs an einer Deckung der existenzsichernden Bedarfe, haben die Sozialgerichte Regelungen wie § 24 SGB II über gesondert neben dem Regelbedarf zu erbringende einmalige, als Zuschuss gewährte Leistungen verfassungskonform auszulegen (....).“ [12]

Dieses „wie § 24 SGB II“ des BVerfG löste das BSG, indem es die Anwendung des § 21 Abs. 6 SGB II als gegeben ansah [16].

 

Rechtsgrundlage vielmehr § 21 Abs. 6 SGB II

Um eine Anwendung des § 21 Abs. 6 SGB II zu ermöglichen, bedurfte es der Interpretation der vom Gesetz vorgegebenen Begriffe „unabweisbarer Bedarf“, „besonderer Bedarf“ und „laufender Bedarf“. Hierzu im Einzelnen:

unabweisbarer Bedarf

„Der Mehrbedarf ist nach § 21 Abs 6 Satz 2 SGB II unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht.“ [17]

besonderer Bedarf

„Der Bedarf für Schulbücher ist ein besonderer Bedarf, denn er ist zwar der Art nach, aber der Höhe nach strukturell unzutreffend vom Regelbedarf erfasst, wenn keine Lernmittelfreiheit besteht (...).“ [18]

laufender Bedarf

„Der Bedarf für Schulbücher ist zudem bei verfassungskonformer Auslegung prognostisch typischerweise ein laufender, nicht nur einmaliger Bedarf. Maßgeblich ist in dieser Perspektive nicht, ob der Bedarf erstmals geltend gemacht wird, und auch nicht, ob er retrospektiv nur einmal geltend gemacht worden ist, sondern ob der geltend gemachte Mehrbedarf prognostisch typischerweise nicht nur ein einmaliger Bedarf ist (...). Dies trifft auf den Bedarf für Schulbücher zu, die bei fehlender Lernmittelfreiheit typischerweise nicht nur überhaupt einmalig und auch nicht nur einmalig in einem Schuljahr anzuschaffen sind, sondern prognostisch laufend während des Schulbesuchs und je nach dessen Verlauf.“ [19]

Auch sei die Kultushoheit der Bundesländer durch eine solche Entscheidung nicht berührt, da der Bundesgesetzgeber hinsichtlich des SGB II von seiner Gesetzgebungskompetenz (Art. 74 GG) abschließend Gebrauch gemacht habe. Damit sieht das BSG unter Hinweis auf die BVerfG-Entscheidung vom 9. Februar 2010 den Bundesgesetzgeber in der Pflicht, das Existenzminimum sicherzustellen [20].

 

Nachbemerkung

Die wohl wichtigste Bemerkung ist diese:

„Der Bedarf für Schulbücher ist zudem bei verfassungskonformer Auslegung prognostisch typischerweise ein laufender, nicht nur einmaliger Bedarf. Maßgeblich ist in dieser Perspektive nicht, ob der Bedarf erstmals geltend gemacht wird, und auch nicht, ob er retrospektiv nur einmal geltend gemacht worden ist, sondern ob der geltend gemachte Mehrbedarf prognostisch typischerweise nicht nur ein einmaliger Bedarf ist (...). Dies trifft auf den Bedarf für Schulbücher zu, die bei fehlender Lernmittelfreiheit typischerweise nicht nur überhaupt einmalig und auch nicht nur einmalig in einem Schuljahr anzuschaffen sind, sondern prognostisch laufend während des Schulbesuchs und je nach dessen Verlauf.“ [19]

Dies weist in die gleiche Richtung wie eine Entscheidung des Schleswig-Holsteinischen LSG, mit welcher einem Schüler die Kosten eines schulisch zu nutzenden PC zugesprochen wurden. Das Schleswig-Holsteinische LSG hat unter ausdrücklichem Bezug auf die vor dem BSG verhandelten Entscheidungen des LSG Niedersachsen-Bremen erklärt:

„Der PC/Laptop wird zwar nur einmal bezahlt, er erfüllt jedoch einen laufenden Bedarf, und zwar den, sachgerecht eine Schule besuchen, gleichberechtigt am Unterricht teilnehmen und die Hausaufgaben erledigen zu können, ohne gegenüber Mitschülern benachteiligt zu sein.“ [21]

Übrigens: Während der mündlichen Verhandlung am 8. Mai 2019 hat das BSG durch mehrmaliges Erwähnen des Begriffs „iPad“ deutlich gemacht, daß es für die Anschaffungskosten schulisch genutzter tablet-PCs eine Analogie zur Entscheidung über die Schulbuchkosten sieht! In Niedersachsen sind diese Kosten von den Eltern bzw. den Schülern privat zu tragen.

 

 

Fußnoten:

  [1] LSG Niedersachsen-Bremen, Urteile vom 11. Dezember 2017, Az.: L 11 AS 1503/15 und L 11 AS 349/17

  [2] RdErl. d. MK vom 1. Januar 2013 – VORIS 22410

  [3] LSG Niedersachsen-Bremen, Az.: L 11 AS 1503/15, Rdnr. 3

  [4] BSG, Urteil vom 19. August 2010, Az.: B 14 AS 47/09 R

  [5] BSG, Urteil vom 10. Mai 2011, Az.: B 4 AS 11/10 R

  [6] BSG, Urteil vom 8. Mai 2019, Az.: B 14 AS 13/18 R, Rdnr. 31

  [7] BSG, Urteil vom 10. September 2013, Az.: B 4 AS 12/13 R, Rdnr. 27

  [8] BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010, Az.: 1 BvL 1/09 u.a., Rdnr. 192

  [9] BTDrs. 17/3404, Seite 104 zu § 28 SGB II

[10] = [6], Rdnr. 16

[11] BVerfG, Beschluß vom 23. Juli 2014, Az.: 1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/13, Rdnr. 120

[12] = [11], Rdnr. 116

[13] = [6], Rdnr. 20

[14] = [6], Rdnr. 21

[15] = [6], Rdnr. 23

[16] = [6], Rdnr. 25

[17] = [6], Rdnr. 26

[18] = [6], Rdnr. 27

[19] = [6], Rdnr. 29

[20] = [6], Rdnr. 30

[21] Schleswig-Holsteinisches LSG, Beschluß vom 11. Januar 2019, Az.: L 6 AS 238/18 B ER

 

 

 

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