Den Entscheidungen des Bundessozialgerichtes (BSG) vom 8.
Mai 2019 zu den Schulbuchkosten lagen zwei für die Betroffenen positive
Entscheidungen des LSG Niedersachsen-Bremen vom Dezember 2017 zugrunde [1].
Deshalb soll an dieser Stelle eine erläuternde Betrachtung
der Situation der Lernmittelfreiheit in Niedersachsen erfolgen.
Bereits zu Beginn von „Hartz IV“ wurde mit Runderlaß des
Niedersächsischen Kultusministers vom 11. März 2005 eine die Schulen bindende
Regelung „Entgeltliche Ausleihe von Lernmitteln“ geschaffen. Dieser Runderlaß
wurde dann ersetzt durch den Runderlaß vom 23. Februar 2011 und dieser wiederum
ohne inhaltliche Änderungen ersetzt durch den Runderlaß vom 1. Januar 2013,
welcher bis Ende 2020 gelten soll [2].
Nach Nr. 1 dieses Runderlasses bieten die einzelnen Schulen
den Erziehungsberechtigten bzw. den volljährigen Schülerinnen und Schülern die
entgeltliche Ausleihe von Lernmitteln an.
Nach Nr. 2 dieses Runderlasses und weiteren
Konkretisierungen sind davon schon mal ausgenommen „Lektürehefte, Literatur
und Atlanten“ sowie „Arbeitshefte und das Mathematikbuch im ersten
Schuljahr“ [2], weil in Letzteren Eintragungen vorgenommen werden können
und diese damit für die Ausleihe nicht geeignet seien.
Nach Nr. 7 dieses Runderlasses sind Empfängerinnen und
Empfänger folgender Leistungen von der Zahlung des Entgelts für die Ausleihe
ausgenommen:
SGB II („Hartz IV“), SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe), SGB
XII (Sozialhilfe), § 6a BKGG (Kindergeld), WoGG (Wohngeld) – inzwischen
präzisiert durch § 6b BKGG in Verbindung mit § 28 SGB II – und AsylbewLG
(Asylbewerber) [2].
Ergänzt werden muß, daß offensichtlich die unentgeltliche
Ausleihe von Schulbüchern in Niedersachsen dann auch noch von jeder Schule
einzeln abhängt. Während die Kinder des Autors auch in der Oberstufe
(Gesamtschule in Göttingen) von der Schulbuchmiete befreit waren, liegt der
hier behandelten Entscheidung offensichtlich ein Fall zugrunde, bei dem die
betreffende Schule „ab der 11. Klasse in der Oberstufe beim Gymnasium I.
eine Ausleihe von Schulbüchern nicht mehr“ ermöglichte [3].
Insgesamt kann festgehalten werden, daß es in Niedersachsen keine
allgemeine Lernmittelfreiheit gibt und daß die Befreiung von der Schulbuchmiete
von Schule zu Schule unterschiedlich ist, je nachdem, ob die betreffende Schule
überhaupt eine Ausleihe vornimmt.
Vorbemerkung 2
Wer sich zu erinnern glaubt, das BSG habe doch schon mal die
Übernahme von Schulbuchkosten ausgeschlossen, der bzw. die hat recht [4] [5].
Dies ist aber auch dem BSG bei seinen Entscheidungen klar
gewesen:
„Soweit das BSG in seiner früheren Rechtsprechung sich
ablehnend oder zweifelnd zur Übernahme von Bedarfen für die Schulbildung im
Rahmen des SGB II geäußert hat, lag den Entscheidungen zunächst die Rechtslage
vor Einführung des § 21 Abs 6 SGB II zugrunde (...) und sodann allgemein die
Sorge vor der Rolle der Jobcenter als Ausfallbürgen für über §§ 20 und 28 SGB
II hinausgehende Bildungsbedarfe (...).“ [6]
In den ersten beiden Fällen ging es um Schulbuchkosten vor
Einführung des § 24a SGB II alt, jetzt § 28 SGB II, nämlich aus den Jahren 2005
bis 2007. Im letzten Fall ging es um Leihgebühren für ein Musikinstrument,
wobei das BSG seinerzeit trotz gegenteiliger Ansichten in der Kommentierung und
teilweise der obergerichtlichen Rechtsprechung die Auffassung vertrat: „Die
Deckung von Bedarfen für den Schulunterricht, die der Durchführung des Unterrichts
selber dienen, liegt in der Verantwortung der Schule und darf von den Schulen
oder Schulträgern nicht auf das Grundsicherungssystem abgewälzt werden.“
[7]
Und dies trotz der hinsichtlich des letzten Falles bereits
existierenden Norm § 21 Abs. 6 SGB II (analog zu § 73 SGB XII) und der
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) vom 9. Februar 2010,
wonach Schulkosten zum vom Staat zu garantierenden Existenzminimum gehören: „Ein
zusätzlicher Bedarf ist vor allem bei schulpflichtigen Kindern zu erwarten.
Notwendige Aufwendungen zur Erfüllung schulischer Pflichten gehören zu ihrem
existentiellen Bedarf.“ [8].
Immerhin hält das BSG an seiner bisherigen Rechtsauffassung
nicht mehr fest:
„In der Sondersituation des vom Regelbedarf nicht
zutreffend erfassten Bedarfs für Schulbücher, wenn keine Lernmittelfreiheit
besteht, sind indes die Kosten durch die Jobcenter auf der Grundlage des § 21
Abs 6 SGB II bei dessen verfassungskonformer Auslegung zu übernehmen. Den
Jobcentern kommt (auch) insoweit die Stellung als ‚Ausfallbürgen’ zu (...).“ [6]
§ 28 Abs. 3 und § 20 SGB II unzureichend
Bei der Schaffung des Bildungs- und Teilhabepaketes in
Gefolge der BVerfG-Entscheidung vom 9. Februar 2010 [8], verortete der
Gesetzgeber die Schulbuchkosten als mit der Regelleistung abgedeckt:
„Die Leistungen für Bildung und Teilhabe ergänzen den
Regelbedarf, der weitergehende typische Bedarfslagen im Zusammenhang mit dem
Schulbesuch abdeckt. So ist insbesondere die Anschaffung von Schulbüchern vom
Regelbedarf umfasst, soweit die Länder nicht ohnehin Lehrmittelfreiheit
gewähren.“ [9]
Damit standen für das BSG die Leistungen gemäß § 28 Abs. 3
SGB II (Schulbeihilfe) nicht im Widerspruch zum Begehren der Klägerin.
§ 28 Abs. 3 SGB II kam also bereits aufgrund der
gesetzgeberischen Definition nicht als Anspruchsgrundlage in Frage.
Aber auch § 24 Abs. 1 SGB II, welcher Spitzen abdecken soll
bei Leistungen, welche dem Grunde nach von der Regelleistung § 20 SGB II umfaßt
sind, kommt nicht in Frage: „Denn dieser
Bedarf ist im Regelbedarf der Höhe nach strukturell unzutreffend erfasst für
Schüler, die mangels Lernmittelfreiheit in ihrem Bundesland ihre Schulbücher
selbst kaufen müssen.“ [10]
Und dies, weil in der EVS-Position 0951 000 weniger als 3
Euro eingestellt sind. Hierzu bereits 2014 das BVerfG bezogen auf z.B.
Waschmaschinen: „Nach der vorliegenden
Berechnungsweise des Regelbedarfs ergibt sich beispielsweise die Gefahr einer
Unterdeckung hinsichtlich der akut existenznotwendigen, aber langlebigen
Konsumgüter, die in zeitlichen Abständen von mehreren Jahren angeschafft
werden, eine sehr hohe Differenz zwischen statistischem Durchschnittswert und
Anschaffungspreis. So wurde für die Anschaffung von Kühlschrank, Gefrierschrank
und -truhe, Waschmaschine, Wäschetrockner, Geschirrspül- und Bügelmaschine
(Abteilung 05; BTDrucks 17/3404, S. 56, 140) lediglich ein Wert von unter 3 €
berücksichtigt.“ [11]
Für einen solchen Fall sah das BVerfG vor: „Auf ein nach § 24 Abs. 1 SGB II mögliches
Anschaffungsdarlehen, mit dem zwingend eine Reduzierung der Fürsorgeleistung um
10 % durch Aufrechnung nach § 42a Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit § 24 Abs. 1
SGB II ab dem Folgemonat der Auszahlung verbunden ist, kann nur verwiesen
werden, wenn die Regelbedarfsleistung so hoch bemessen ist, dass entsprechende
Spielräume für Rückzahlungen bestehen.“ [12]
Im hier besprochenen Fall der Schulbuchkosten hatte sich das
BSG über die Lernmittelfreiheit bei den einzelnen Bundesländern erkundigt und
festgestellt:
„Der Bedarf für
Schulbücher ist im Regelbedarf aufgrund der Lernmittelfreiheit in der Mehrzahl
der Bundesländer strukturell nicht realitätsgerecht und der Höhe nach zu
niedrig erfasst, wenn keine Lernmittelfreiheit besteht.“ [13]
Und:
„Die Ermittlung des
Regelbedarfs aufgrund des bundesweiten durchschnittlichen Verbrauchsverhaltens
ist insoweit strukturell unzutreffend für Haushalte in den Ländern, in denen
keine Lernmittelfreiheit besteht. Das Ergebnis der Regelbedarfsermittlung für
Schulbücher ist folglich nicht auf Schüler übertragbar, soweit für diese anders
als in den meisten Bundesländern keine Lernmittelfreiheit gilt.“ [14]
„Zur Deckung des
Bedarfs für Schulbücher kann danach weder auf den Regelbedarf nach § 20 SGB II
und die mit ihm verbundene Ansparkonzeption verwiesen werden noch auf ein
Darlehen nach § 24 Abs 1 SGB II, denn auch die Verweisung hierauf setzt voraus,
dass ein Bedarf bei der Ermittlung des Regelbedarfs in strukturell
realitätsgerechter Weise zutreffend erfasst worden ist und nicht bloß ein
individuell vom Regelbedarf abweichender Bedarf im Streit steht. Hieran fehlt
es aufgrund der aufgezeigten strukturell zu niedrigen Regelbedarfsermittlung
für Schulbücher bei fehlender Lernmittelfreiheit.“ [15]
Um das Problem zu lösen hat sich das BSG anders als noch
2013 [7], wo die BVerfG-Entscheidung von 2014 noch nicht vorlag, für eine
Interpretation folgender Passage entschieden: „Fehlt es aufgrund der vorliegend zugrunde gelegten Berechnung des
Regelbedarfs an einer Deckung der existenzsichernden Bedarfe, haben die
Sozialgerichte Regelungen wie § 24 SGB II über gesondert neben dem Regelbedarf
zu erbringende einmalige, als Zuschuss gewährte Leistungen verfassungskonform
auszulegen (....).“ [12]
Dieses „wie § 24 SGB
II“ des BVerfG löste das BSG, indem es die Anwendung des § 21 Abs. 6 SGB II
als gegeben ansah [16].
Rechtsgrundlage vielmehr § 21 Abs. 6 SGB II
Um eine Anwendung des § 21 Abs. 6 SGB II zu ermöglichen,
bedurfte es der Interpretation der vom Gesetz vorgegebenen Begriffe „unabweisbarer
Bedarf“, „besonderer Bedarf“ und „laufender Bedarf“. Hierzu im Einzelnen:
– unabweisbarer Bedarf
„Der Mehrbedarf ist
nach § 21 Abs 6 Satz 2 SGB II unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die
Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der
Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem
durchschnittlichen Bedarf abweicht.“ [17]
– besonderer Bedarf
„Der Bedarf für
Schulbücher ist ein besonderer Bedarf, denn er ist zwar der Art nach, aber der
Höhe nach strukturell unzutreffend vom Regelbedarf erfasst, wenn keine
Lernmittelfreiheit besteht (...).“ [18]
– laufender Bedarf
„Der Bedarf für
Schulbücher ist zudem bei verfassungskonformer Auslegung prognostisch
typischerweise ein laufender, nicht nur einmaliger Bedarf. Maßgeblich ist in
dieser Perspektive nicht, ob der Bedarf erstmals geltend gemacht wird, und auch
nicht, ob er retrospektiv nur einmal geltend gemacht worden ist, sondern ob der
geltend gemachte Mehrbedarf prognostisch typischerweise nicht nur ein
einmaliger Bedarf ist (...). Dies trifft auf den Bedarf für Schulbücher zu, die
bei fehlender Lernmittelfreiheit typischerweise nicht nur überhaupt einmalig
und auch nicht nur einmalig in einem Schuljahr anzuschaffen sind, sondern
prognostisch laufend während des Schulbesuchs und je nach dessen Verlauf.“ [19]
Auch sei die Kultushoheit der Bundesländer durch eine solche
Entscheidung nicht berührt, da der Bundesgesetzgeber hinsichtlich des SGB II
von seiner Gesetzgebungskompetenz (Art. 74 GG) abschließend Gebrauch gemacht
habe. Damit sieht das BSG unter Hinweis auf die BVerfG-Entscheidung vom 9. Februar
2010 den Bundesgesetzgeber in der Pflicht, das Existenzminimum sicherzustellen
[20].
Nachbemerkung
Die wohl wichtigste Bemerkung ist diese:
„Der Bedarf für
Schulbücher ist zudem bei verfassungskonformer Auslegung prognostisch
typischerweise ein laufender, nicht nur einmaliger Bedarf. Maßgeblich ist in
dieser Perspektive nicht, ob der Bedarf erstmals geltend gemacht wird, und auch
nicht, ob er retrospektiv nur einmal geltend gemacht worden ist, sondern ob der
geltend gemachte Mehrbedarf prognostisch typischerweise nicht nur ein
einmaliger Bedarf ist (...). Dies trifft auf den Bedarf für Schulbücher zu, die
bei fehlender Lernmittelfreiheit typischerweise nicht nur überhaupt einmalig
und auch nicht nur einmalig in einem Schuljahr anzuschaffen sind, sondern
prognostisch laufend während des Schulbesuchs und je nach dessen Verlauf.“ [19]
Dies weist in die gleiche Richtung wie eine Entscheidung des
Schleswig-Holsteinischen LSG, mit welcher einem Schüler die Kosten eines
schulisch zu nutzenden PC zugesprochen wurden. Das
Schleswig-Holsteinische LSG hat unter ausdrücklichem Bezug auf die vor dem BSG
verhandelten Entscheidungen des LSG Niedersachsen-Bremen erklärt:
„Der PC/Laptop wird zwar nur einmal bezahlt, er erfüllt
jedoch einen laufenden Bedarf, und zwar den, sachgerecht eine Schule besuchen,
gleichberechtigt am Unterricht teilnehmen und die Hausaufgaben erledigen zu
können, ohne gegenüber Mitschülern benachteiligt zu sein.“ [21]
Übrigens: Während der mündlichen Verhandlung am 8. Mai 2019 hat
das BSG durch mehrmaliges Erwähnen des Begriffs „iPad“ deutlich gemacht, daß es
für die Anschaffungskosten schulisch genutzter tablet-PCs eine Analogie zur
Entscheidung über die Schulbuchkosten sieht! In Niedersachsen sind diese Kosten
von den Eltern bzw. den Schülern privat zu tragen.
Fußnoten:
[1] LSG
Niedersachsen-Bremen, Urteile vom 11. Dezember 2017, Az.: L 11 AS 1503/15 und L
11 AS 349/17
[2] RdErl. d. MK vom
1. Januar 2013 – VORIS 22410
[3] LSG
Niedersachsen-Bremen, Az.: L 11 AS 1503/15, Rdnr. 3
[4] BSG, Urteil vom
19. August 2010, Az.: B 14 AS 47/09 R
[5] BSG, Urteil vom
10. Mai 2011, Az.: B 4 AS 11/10 R
[6] BSG, Urteil vom
8. Mai 2019, Az.: B 14 AS 13/18 R, Rdnr. 31
[7] BSG, Urteil vom
10. September 2013, Az.: B 4 AS 12/13 R, Rdnr. 27
[8] BVerfG, Urteil
vom 9. Februar 2010, Az.: 1 BvL 1/09 u.a., Rdnr. 192
[9] BTDrs. 17/3404,
Seite 104 zu § 28 SGB II
[10] = [6], Rdnr. 16
[11] BVerfG, Beschluß vom 23. Juli 2014, Az.: 1 BvL 10/12, 1
BvL 12/12, 1 BvR 1691/13, Rdnr. 120
[12] = [11], Rdnr. 116
[13] = [6], Rdnr. 20
[14] = [6], Rdnr. 21
[15] = [6], Rdnr. 23
[16] = [6], Rdnr. 25
[17] = [6], Rdnr. 26
[18] = [6], Rdnr. 27
[19] = [6], Rdnr. 29
[20] = [6], Rdnr. 30
[21] Schleswig-Holsteinisches LSG, Beschluß vom 11. Januar
2019, Az.: L 6 AS 238/18 B ER