Schulbedarf und SGB II/SGB XII – Bundesrat fordert kindspezifische Regelleistung
(30. August 2008)
Der Schulbedarf und dessen Kosten sind in der Regelleistung (SGB II) bzw. im Regelsatz (SGB XII) nicht enthalten. Folglich ist der Schulbedarf auch nicht in der Kinder-Regelleistung § 28 SGB II enthalten.
Weder ist es Sinn und Zweck einer existenzsichernden staatlichen Sozialleistung, daß fehlende Bedarfsdeckung auf freiwilliger Basis, etwa durch kommunale Zuschuß-Regelungen wie die Einschulungshilfen in manchen Städten, gedeckt wird noch können Hilfsparagraphen überstrapaziert werden, und zwar weder der Darlehensparagraph 23 Abs. 1 SGB II, der nur kurzzeitige Spitzen abdecken soll noch der Auffangparagraph 73 SGB XII, der nicht für Regelbedarfe gedacht ist. (Siehe hierzu auch meinen Artikel „Alg II und Schulkosten – ein fortgesetzter Verfassungsverstoß“.) Im SGB XII wäre eine vorübergehende Regelung über die Öffnungsklausel § 28 Abs. 1 SGB XII möglich, die im SGB II völlig fehlt.
Da die Kinder-Regelleistung § 28 SGB II lediglich prozentual von der Erwachsenen-Regelleistung § 20 SGB II abgeleitet ist und Erwachsene keinen Schulbedarf mehr haben, ist der Schulbedarf auch in der Kinder-Regelleistung nicht berücksichtigt.
Offensichtlich angeregt durch die Abmeldung vieler „Hartz IV“-Kinder vom Schulmittagessen, aber auch dem Erscheinen ohne Schulmaterialien in den Schulen, sind nicht nur einzelne Kommunen dazu übergegangen, das Schulessen gegen die häusliche Ersparnis eines Mittagessens anzubieten, sondern haben auch Zuschüsse für die Einschulung und den Wechsel nach der Grundschule eingeführt. Gleichwohl deckt das nicht alle Kosten des Schulbesuchs, zumal nicht alle Bundesländer die Befreiung von der Schulbuchmiete für „Hartz IV“-Kinder eingeführt haben. In 2007 hat dann das Saarland eine Bundesratsinitiative zur Kostenübernahme beim Schulmittagessen gestartet (BRatDrs. 33/07), das Bundesland Rheinland-Pfalz wollte, daß zu Beginn eines jeden Schulhalbjahres durch einen zusätzlichen Paragraphen 23 Abs. 3a SGB II 20 Prozent der Regelleistung für Lernmittel erlangt werden könnten (BRatDrs. 676/07), das Bundesland Nordrhein-Westfalen wollte durch Erweiterung (§ 23 Abs. 3 Nr. 4 SGB II bzw. § 31 Abs. 1 Nr. 4 SGB XII) Leistungen für die Beschaffung von Unterrichtsmaterialien gesondert erbringen lassen (BRatDrs. 906/07) wie auch einen sonstigen kindspezifischen Bedarf in der Regelleistung SGB II bzw. im Regelsatz SGB XII berücksichtigt wissen (BRatDrs. 907/07).
Schließlich beschloß der Bundesrat auf seiner Sitzung am 23. Mai 2008 einen gemeinsamen Antrag der Bundesländer Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen (BRatDrs. 329/08), in welchem die Bundesregierung aufgefordert wird, bis Ende 2008 einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem der kindspezifische Bedarf, insbesondere der Lernmittelbedarf in der Regelleistung SGB II bzw. dem Regelsatz SGB XII berücksichtigt wird und mit dem des Weiteren auch ins SGB II eine Öffnungsklausel für abweichende Bedarfe analog § 28 Abs. 1 SGB XII eingeführt wird.
Dieser Beschluß des Bundesrates zum Schulbedarf ist unten dokumentiert.
Die bisher vorliegende sozialgerichtliche Rechtsprechung, auch dort, wo sie den Betroffenen Leistungen für Schulbedarf zugesprochen hat, ist nicht einheitlich und vor allem rechtlich zum Teil nicht nachvollziehbar (siehe hierzu ebenfalls meinen Artikel „Alg II und Schulkosten – ein fortgesetzter Verfassungsverstoß“).
Mittlerweile liegen im Hinblick auf die Kinder-Regelleistung § 28 SGB II und den Schulbedarf auch schon Revisionsverfahren beim Bundessozialgericht (BSG) vor (B 14/11b AS 9/07 R, B 14 AS 5/08 R, B 4/14 AS 7/08 R, B 4/14 AS 27/08 R, B 14 AS 44/08 R).
Allerdings zeugt auch die Grundsatzentscheidung des BSG zur Erwachsenen-Regelleistung § 20 SGB II und dessen doch eher kotau-mäßige Begründung (BSG-Urteil vom 23. November 2006, Az.: B 11b AS 1/06 R) davon, daß das BSG allzugern bereit ist, dem Gesetz statt dem Recht zu folgen. Dies wird auch dadurch untermauert, daß das BSG gerne darauf verweist (BSG, Urteil vom 27. Februar 2008, Az.: B 14/7b AS 64/06 R, Rdnr. 22 und Urteil vom 27. Februar 2008, Az.: B 14/7b AS 32/06 R), daß das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) eine Verfassungsbeschwerde zur Höhe der Regelleistung nicht angenommen hat (Nichtannahmebeschluß vom 7. November 2007, Az.:1 BvR 1840/07). Dabei verschweigt das BSG, daß das BVerfG selber bemerkte, daß mit der Nichtannahme noch keine Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der Regelleistung getroffen sei:
„Wegen der offensichtlichen Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde war es im vorliegenden Fall nicht mehr möglich, zur bisher verfassungsrechtlich noch nicht entschiedenen, materiellen Frage Stellung zu nehmen, ob die Höhe der Regelleistung nach § 20 SGB II vom Gesetzgeber hinreichend ermittelt und festgesetzt worden ist.“ [BVerfG, Beschluß vom 7. November 2007, Az.: 1 BvR 1840/07, Rdnr. 24 – Hervorh. H.M.]
Immerhin hat mit dem Hessischen LSG und dessen Beweis-Beschluß vom 8. August 2008 (Az.: L 6 AS 336/07) zum kindspezifischen Bedarf (Fragen 4, 16 und 17) und zum Schulbedarf (Frage 15) erstmals ein Sozialgericht sich an die konkrete Ermittlung der Regelleistung gemacht.
Abschließend kann nur allen Eltern, insbesondere denen mit Schulkindern, an dieser Stelle geraten werden, in jedem Falle alle Leistungsbescheide wegen fehlender Berücksichtigung von Schulbedarf und kindspezifischem Bedarf zu beklagen. Die Gleichstellung von Grundschülern mit Säuglingen und die Nichtberücksichtigung von wachstumsbedingtem Bedarf der 11- bis 14-Jährigen, den es zu Zeiten der alten Sozialhilfe (BSHG) bis Ende 2004 noch gab, kann nicht mit Verfassungsrecht übereinstimmen, zumal die Schulpflicht in Art. 7 GG festgelegt ist und damit nicht zur freien Disposition der Eltern steht.
Dokumentation:
Bundesrat Drucksache 329/08 (Beschluss) (Grunddrucksache 907/07) 23.05.08 Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Amsterdamer Str. 192, 50735 Köln Telefon: (02 21) 97 66 83 40, Telefax: (02 21) 97 66 83 44 ISSN 0720-2946 Beschluss des Bundesrates Entschließung des Bundesrates zur Berücksichtigung des kinderspezifischen Bedarfs bei der Bemessung der Regelleistungen nach dem SGB II und der Regelsätze nach dem SGB XII Der Bundesrat hat in seiner 844. Sitzung am 23. Mai 2008 die aus der Anlage ersichtliche Entschließung gefasst.
Drucksache 329/08 (Beschluss) (Grunddrucksache 907/07) Anlage Entschließung des Bundesrates zur Berücksichtigung des kinderspezifischen Bedarfs bei der Bemessung der Regelleistungen nach dem SGB II und der Regelsätze nach dem SGB XII Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, die Regelleistung für Kinder nach dem SGB II sowie die Regelsätze nach dem SGB XII unverzüglich neu zu bemessen und als Grundlage dafür eine spezielle Erfassung des Kinderbedarfes vorzusehen. Dabei ist auch sicherzustellen, dass die besonderen Bedarfe der Kinder im Hinblick auf die Mittagsverpflegung in Ganztagsschulen oder Schulen mit einem Bildungs- und Betreuungsangebot am Nachmittag und in Kindertageseinrichtungen sowie bei der Beschaffung von besonderen Lernmitteln für Schülerinnen und Schüler durch die Leistungen nach dem SGB II und SGB XII abgedeckt werden. Zudem ist eine Öffnungsklausel entsprechend § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII in das SGB II zur abweichenden Bedarfsbemessung in Einzelfällen aufzunehmen. Außerdem soll geprüft werden, in welchen Bereichen Sachleistungen besser als Geldleistungen eine chancengerechte Teilhabe der Kinder am gesellschaftlichen Leben gewährleisten. Die Beteiligung der Länder an der Überprüfung ist sicherzustellen. Der Bundesrat erwartet, dass die Bundesregierung bis Ende 2008 eine Regelung vorlegt. Begründung: Die Ministerinnen und Minister, Senatorinnen und Senatoren für Arbeit und Soziales der Länder haben bei der 84. Arbeits- und Sozialministerkonferenz am 15./16. November 2007 einstimmig die Auffassung vertreten, dass die Regelleistung für Kinder neu zu bemessen und als Grundlage dafür eine spezielle Erfassung des Kinderbedarfes vorzusehen ist. Drucksache 329/08 (Beschluss) - 2 - Grund dafür ist u. a., dass eine nachvollziehbare und wissenschaftliche Ableitung der jetzigen Regelleistungen für Kinder und Jugendliche nach dem SGB II und der Regelsätze nach dem SGB XII nicht erkennbar ist. Insbesondere die aktuelle Einteilung in zwei Altersklassen und die prozentuale Ableitung von der Regelleistung eines allein stehenden Erwachsenen wird den besonderen Bedarfen von Kindern und Jugendlichen nicht hinreichend gerecht. In der Regelsatzverordnung zum Bundessozialhilfegesetz waren drei Altersstufen vorgesehen, die der Gesetzgeber im Rahmen des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt jedoch nicht übernommen hat. Mit dem jetzigen System können besondere entwicklungsbedingte Bedarfe der Kinder und Jugendlichen, insbesondere im Zusammenhang mit der Teilhabe an Bildung, nicht hinreichend abgebildet werden. Grund dafür ist u.a., dass die bisherigen statistischen Modelle nicht am Bedarf der Kinder ausgerichtet sind, sondern sich allein an den Ausgaben der einkommensschwachen Haushalte orientieren und als Bezugspunkt der Bedarf eines allein stehenden Erwachsenen dient. Eine große Anzahl von Kindern und Jugendlichen nimmt an der Mittagsverpflegung in Ganztagsschulen oder Schulen mit einem Bildungs- und Betreuungsangebot am Nachmittag und in Kindertageseinrichtungen nicht teil, weil ihre Eltern die erforderlichen Finanzmittel aus der Regelleistung nach dem SGB II oder dem Regelsatz nach dem SGB XII nicht aufbringen können. Dieser Umstand birgt die Gefahr der sozialen Ausgrenzung und kann dazu führen, dass die betroffenen Kinder die genannten Einrichtungen nicht mehr besuchen und ihnen damit ein wichtiges Bildungs- und Entwicklungsangebot vorenthalten wird. Darüber hinaus zeigt die Lebenswirklichkeit der Kinder, die Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII erhalten, dass notwendige Aufwendungen für besondere Lernmittel (mit Ausnahme von Schulbüchern) für die Schule aus der Regelleistung und Regelsatz für die Kinder nicht getragen werden können. Eine Neuregelung der Leistungen für Kinder im SGB II und SGB XII muss damit sicherstellen, dass diese besonderen Bedarfe für Kinder im Zusammenhang mit ihrer Entwicklung und Bildung hinreichend – im SGB II durch die in der Zuständigkeit der Bundesagentur für Arbeit liegenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts – gedeckt werden. Die Einführung einer Öffnungsklausel in das SGB II, entsprechend der Vorschrift des § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII, ist notwendig, um eine abweichende Bemessung der Regelleistung in atypischen Einzelfällen innerhalb des SGB II zu ermöglichen und die von der obergerichtlichen Rechtsprechung beschriebene Schnittstelle zu dem SGB XII sachgerecht zu lösen. Bei der Ausgestaltung der Leistungen für Kinder und Jugendliche im SGB II und SGB XII ist zu gewährleisten, dass die Mittel tatsächlich den Kindern und Jugendlichen zweckentsprechend zugutekommen und nicht im allgemeinen Haushaltsbudget der Bedarfsgemeinschaft aufgehen und ggf. für andere Ausgaben verwendet werden. Deshalb soll geprüft werden, in welchen Bereichen Sachleistungen besser als Geldleistungen eine chancengerechte Teilhabe der Kinder am gesellschaftlichen Leben gewährleisten.