Herbert Masslau

Antragstellung im SGB II – Form und Reichweite

(7. August 2010)

 

 

Vorbemerkung

Eindeutig war von Anfang an seit Inkrafttreten des SGB II nur, daß es im Gegensatz zum SGB XII zur Erlangung von SGB II-Leistungen notwendig sein würde, diese zu beantragen (§ 37 Abs. 1 SGB II), und daß nicht für Zeiträume vor erfolgter Antragstellung geleistet werden würde (§ 37 Abs. 2 SGB II).

Daraus folgte unmißverständlich, daß, wer Leistungen nach dem SGB II begehrte, diese auch beantragen mußte.

Damit endete aber auch schon die Klarheit.

Insbesondere die zuständigen Sozialleistungsbehörden (Arbeitsagenturen, ARGEn, Optionskommunen) – unzweifelhaft getrieben von dem Motiv, möglichst Kosten zu sparen und daher möglichst viele Anspruchsberechtigte von den SGB II-Leistungen auszuschließen – bearbeiteten Anträge auf SGB II-Leistungen nur, wenn die von ihnen herausgegebenen Antragsvordrucke richtig und vollständig ausgefüllt wurden, oder aber die SGB II-Leistung wurde mit der Begründung fehlender Mitwirkung (§ 66 SGB I) verweigert.

Dieser Form der Totalversagung hat das Bundessozialgericht (BSG) eine klare Absage erteilt. Und dies hinsichtlich der beiden wesentlichen Aspekte dieser Rechtsfrage in zwei Entscheidungen:

– zum Umfang des Hauptantrages (Erstantrag, Wiederholungsantrag) und

– zur Frage, ob die Benutzung der behördlichen Antragsvordrucke zwingend ist.

Damit hat das Bundessozialgericht gleichzeitig die bestehende unterschiedliche sozialgerichtliche Rechtsprechung (s.u.) vereinheitlicht.

 

Umfang des Hauptantrages

„Als beantragt sind dementsprechend alle Leistungen anzusehen, die nach Lage des Falles ernsthaft in Betracht kommen (…).“ [BSG, Urteil vom 23. März 2010, Az.: B 14 AS 6/09 R, Rdnr. 15]

So auch schon das Sozialgericht Düsseldorf in einem Streit um Kosten einer mehrtägigen Klassenfahrt [SG Düsseldorf, Urteil vom 18. August 2008, Az.: S 28 AS 197/06, zit.n. www.sozialgerichtsbarkeit.de]:

„Da der Antrag … eine ausdrückliche Beschränkung auf bestimmte Leistungen (Regelleistung und Kosten der Unterkunft und Heizung) nicht enthält, sondern gerichtet ist auf die Zahlung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, wird von ihm auch die Gewährung der in § 23 SGB II genannten Leistungen umfasst und beantragt, sofern ein entsprechender Bedarf in dem Bewilligungsabschnitt anfällt.“

„Schließlich war bei der Auslegung des Antrages … die Vorgabe des § 2 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - (SGB I) zu beachten, der bei der Auslegung der Vorschriften der Sozialgesetzbücher sichergestellt sehen möchte, dass soziale Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden.“

Dies sah das LSG Baden-Württemberg, dessen Entscheidung schließlich in der Revision durch das BSG aufgehoben wurde, anders. Im Verfahren L 2 AS 6052/07 urteilte das LSG Baden-Württemberg am 26. November 2008, die Übernahme der Kosten einer mehrtägigen Klassenfahrt scheitere daran, daß nach dem Gesetz Leistungen nicht für die Zeit vor Antragstellung erbracht würden.

Dazu das Bundessozialgericht:

„Entgegen der Auffassung des LSG scheitert ein Anspruch nicht bereits an einer fehlenden Antragstellung nach § 37 SGB II. Zwar hat die Klägerin ihren Bedarf nach § 23 Abs 3 Satz 1 Nr 3 SGB II zu einem Zeitpunkt zur Kenntnis der Beklagten gebracht, als die Klassenfahrten bereits durchgeführt worden waren. Der Antrag auf Leistungen für Klassenfahrten war aber bereits von dem Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts umfasst.“ [BSG, a.a.O., Rdnr. 14]

Denn:

„Der Antragsteller bringt zum Ausdruck, dass Leistungen vom Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende begehrt werden. Welche Leistungen ein Antrag umfasst, ist durch Auslegung zu ermitteln. Dabei ist der Antrag so auszulegen, dass das Begehren des Antragstellers möglichst weitgehend zum Tragen kommt (Grundsatz der Meistbegünstigung, …).“ [BSG, a.a.O., Rdnr. 15]

Das BSG beurteilt dabei die Tatsache, daß es sich bei einer mehrtägigen Klassenfahrt um einen einmaligen Sonderbedarf handelt im Gegensatz zu den laufenden Bedarfen wie Regelleistung, Mehrbedarf und Unterkunfts- und Heizkosten, anders und verneint die Notwendigkeit einer getrennten zusätzlichen Antragstellung:

„Das Erfordernis einer besonderen Bedarfslage ändert aber nichts an der Zuordnung dieser Leistungen zu den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Auch ihre prozessuale Behandlung als eigenständiger Streitgegenstand führt nicht dazu, dass die Leistung gesondert beantragt werden müsste. Ein solches Erfordernis lässt sich § 37 SGB II nicht entnehmen. Die Vorschrift enthält keine Antragsbestimmungen für einzelne Leistungen, sondern fordert lediglich unspezifisch einen Antrag.“ [BSG, a.a.O., Rdnr. 15]

In seiner Entscheidung äußert sich das BSG auch zu der Frage, wie weit denn nun der Leistungsumfang des Hauptantrages (Erstantrag, Wiederholungsantrag) zu Beginn eines Bewilligungszeitraumes geht:

„Das sind bei einem Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts regelmäßig alle im 1. und 2. Unterabschnitt des 2. Abschnitts des 3. Kapitels SGB II genannten Leistungen (…).“

Damit sind von einem Hauptantrag (Erstantrag wie Wiederholungsantrag) auf SGB II-Leistungen konkret umfaßt:

– § 20 (Regelleistung Arbeitslosengeld II)

– § 21 (Mehrbedarfe)

– § 22 (Unterkunfts- und Heizkosten)

– § 23 (Einmalleistungen, auch Kosten mehrtägiger Klassenfahrten)

– § 24 (befristeter Zuschlag – soll abgeschafft werden –)

– § 24a (Schulbeihilfe)

– § 25

– § 26 (Sozialversicherungszuschuß)

– § 28 (Regelleistung Sozialgeld)

Nicht umfaßt sind die Eingliederungsleistungen § 16 - § 16f SGB II.

Dies ergibt sich zunächst nur indirekt aus der gerade zitierten Rechtsprechung des BSG, wurde so aber schon vom LSG NRW ausgeurteilt:

„Ein Antrag auf Alg II erfasst allerdings nicht automatisch einen Antrag auf Eingliederungsleistungen nach § 16 SGB II. Diese Leistungen müssen gesondert beantragt werden (…).“ [LSG NRW, Beschluß vom 16. Juli 2009, Az.: L 7 B 373/08 AS NZB, zit.n. www.sozialgerichtsbarkeit.de]

Damit ist nun eindeutig geklärt, daß Leistungen des SGB II, die nicht jeden Monat anfallen, wie die Kosten mehrtägiger Klassenfahrten und die einmal jährlich anfallende Schulbeihilfe, nicht extra beantragt werden müssen, sondern während des laufenden Bewilligungszeitraumes lediglich dem Sozialleistungsträger zur Kenntnis gebracht werden müssen. Da das Erfordernis der Antragstellung in einem solchen Fall wegfällt, besteht auch kein Zeitdruck und muß die Leistung auch noch gewährt werden, wenn, wie im Falle der Klassenfahrt, diese schon stattgefunden hat. Da die Betroffenen im Falle der verspäteten Mitteilung die Kosten in der Regel ersteinmal selber vorschießen müssen, sollte mit der Mitteilung an den Sozialleistungsträger nicht allzulange gewartet werden, da sich dieser sonst fragen könnte – jedenfalls in Fällen, wo kein Schonvermögen vorhanden ist –, wovon die Kosten denn bezahlt wurden.

 

Kein Formularzwang

Schon vorher hatte das Bundessozialgericht entschieden, daß es für die Beantragung von SGB II-Leistungen nicht automatisch der Benutzung der behördlichen Antragsvordrucke zwingend bedarf:

„Es gilt insofern der Grundsatz der Nichtförmlichkeit des Verwaltungsverfahrens (vgl § 9 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch <SGB X>; …).“ [BSG, Urteil vom 28. Oktober 2009, Az.: B 14 AS 56/08 R, Rdnr. 14]

Und weiter:

„Mit der Willenserklärung des Antragstellenden muss mithin lediglich zum Ausdruck gebracht werden, dass Leistungen vom Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende begehrt werden. Bei der Beurteilung, ob und welche Leistungen beantragt werden sollen, ist dabei der wirkliche Wille des Antragstellers zu erforschen.“ [BSG, a.a.O., Rdnr. 14]

Neben dem konstitutiven Element der Antragstellung (§ 37 Abs. 1 SGB II), wonach SGB II-Leistungen nur erhält, wer diese grundsätzlich beantragt hat, gibt es laut BSG auch ein verfahrensrechtliches Element der Antragstellung, mit welchem der oder die Hilfebedürftige „dem Grundsicherungsträger signalisiert, dass er nunmehr die Einleitung eines Verwaltungsverfahrens (§§ 8 ff SGB X iVm § 40 Abs 1 SGB II) begehrt, das grundsätzlich mit dem Erlass eines Verwaltungsaktes (Ablehnung oder Bewilligung der Leistungen) abgeschlossen wird“ [BSG, a.a.O., Rdnr. 16].

Dabei treffen nicht nur diejenigen, welche SGB II-Leistungen beantragen, sogenannte Obliegenheitspflichten, wie die Vorlage bestimmter Beweismittel gemäß § 60 SGB I, sondern auch die Sozialleistungsbehörde treffen Obliegenheitspflichten:

„So muss der Grundsicherungsträger gemäß § 16 Abs 3 SGB I darauf hinwirken, dass der Antragsteller unverzüglich klare und sachdienliche Anträge stellt und unvollständige Angaben ergänzt. Weiterhin treffen den Grundsicherungsträger gemäß §§ 14 ff SGB I weitgehende Beratungs- und Aufklärungspflichten.“ [BSG, a.a.O., Rdnr. 16]

Dementsprechend kann die Sozialleistungsbehörde vom Antragsteller, der Antragstellerin verlangen, bestimmte Antragsvordrucke zu benutzen und vollständig ausgefüllt vorzulegen. Im Weigerungsfalle stände der Sozialleistungsbehörde dann die Sanktionierung durch Leistungsversagung gemäß § 66 SGB I zu. Antragstellerinnen und Antragsteller müssen dabei darauf vertrauen können, daß sie von der zuständigen Sozialleistungsbehörde „auf Mitwirkungsversäumnisse schriftliche hingewiesen [werden] und zudem die Gelegenheit [erhalten], das Versäumte nachzuholen“ [BSG, a.a.O., Rdnr. 16].

 

 

 

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