BGH zur Beratungspflicht der
Sozialbehörden (§ 14 SGB I)
(11. September 2018)
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat zur Beratungspflicht von
Sozialbehörden (§ 14 SGB I) eine wichtige Entscheidung getroffen [BGH, Urteil
vom 2. August 2018, Az.: III ZR 466/16].
Ausgangspunkt war die Klage eines zu 100% Schwerbehinderten,
dem der Grundsicherungsträger Leistungen der Grundsicherung gewährte (§§ 41 ff.
SGB XII), auf Amtshaftung und Schadensersatz (§ 839 BGB) in Höhe von €
50.322,61 wegen fehlender Beratung. Der Betrag ergab sich aus der Differenz
zwischen den Grundsicherungsleistungen nach SGB XII und der ihm zustehenden
Erwerbsminderungsrente gemäß § 43 SGB VI.
Das ist auch der Grund, weswegen zur Frage des § 14 SGB I
der BGH als höchstes Zivilgericht und nicht das Bundessozialgericht (BSG)
entschieden hat.
Die nachfolgend in eckigen Klammer [ ] gesetzten Angaben der
Randnummern beziehen sich alle auf die hier behandelte BGH-Entscheidung.
Vorbemerkung
Die nachfolgende Betrachtung der Entscheidung BGH, Urteil
vom 2. August 2018, Az.: III ZR 466/16 ist wichtig für den Regelfall sich im
Sozialrecht nicht auskennender Leistungsbezieherinnen und -bezieher.
Die BGH-Entscheidung kann aber darüber hinaus keine weitere
Bedeutung zukommen. D.h. selber rechtskundige oder fachkundig außerhalb der
Behörden beratene Bedürftige können sich nicht auf diese BGH-Entscheidung
berufen, da ihnen zugemutet werden kann, selbst entsprechend tätig zu werden.
Dies ergibt sich daraus, daß die hier behandelte
BGH-Entscheidung mehrfach auf die Unkunde der (potentiellen)
Leistungsempfängerinnen und -empfänger verweist. Als Beispiel:
„Wenn Rechts- und Fachkenntnisse über den Gegenstand der
Auskunft beim Empfänger nicht vorausgesetzt werden können, muss die Auskunft
nach Form und Inhalt so klar und eindeutig sein, dass Missverständnisse und
Zweifel, wie sie bei unerfahrenen Personen leicht entstehen können, möglichst
ausgeschlossen sind.“ [Rdnr. 13]
Der Fall
Der Kläger ist seit seiner Kindheit zu 100 %
schwerbehindert, besuchte zunächst eine Förderschule, anschließend arbeitete er
in einer Behindertenwerkstatt. Ende 2004 beantragte die als Betreuerin
bestellte Mutter des Klägers Leistungen der Grundsicherung, weil das
Erwerbseinkommen des Klägers nicht den Bedarf deckte. Dabei verneinte sie die
Frage im Antragsformular, ob Anspruch auf eine Rente bestünde [Rdnr. 2]
Daraufhin gewährte der zuständige Grundsicherungsträger von
Ende 2004 bis Mitte 2011 Grundsicherungsleistungen.
Erstmals 2011, durch eine neue Sachbearbeiterin, wurde die
Mutter des Klägers darüber informiert, daß dem Kläger Leistungen aus der
gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) wegen voller Erwerbsminderung zustünden
[Rdnr. 3].
Auf den daraufhin gestellten Antrag bewilligte die
Rentenversicherung dem Kläger Ende 2011 eine Erwerbsunfähigkeitsrente.
„In dem Rentenbescheid wurde unter anderem festgestellt,
dass die Anspruchsvoraussetzungen bereits seit dem 10. November 2004 erfüllt
seien.“ [Rdnr. 3]
Wiederum hieraufhin verlangte der Kläger Schadensersatz für
die Zeit von November 2004 bis Juli 2011 wegen der Differenz zwischen der ihm
gewährten Grundsicherung und der Erwerbsunfähigkeitsrente [Rdnr. 4]. Höhe: €
50.322,61 nebst Zinsen [Rdnr. 5].
Das Landgericht (LG) Dresden gab dem Klagebegehren in dieser
Höhe statt, das Oberlandesgericht (OLG) Dresden wies die Klage auf die Berufung
des beklagten Grundsicherungsträgers ab. Hiergegen lies der Bundesgerichtshof
(BGH) die Revision des Klägers zu. [Rdnr. 5]
Das BGH-Urteil
Zentraler Punkt ist, daß der BGH eine Verletzung „des
Beklagten im Zusammenhang mit den ihm nach § 14 Satz 1 SGB I obliegenden
besonderen sozialrechtlichen Baratungs- und Betreuungspflichten“ [Rdnr. 10]
sieht, was das OLG verneint hatte.
Der beklagte Grundsicherungsträger hätte zumindest einen
Hinweis geben müssen, „dass auch ein Anspruch des Klägers auf Gewährung
einer Erwerbsunfähigkeitsrente in Betracht kam und deshalb eine Beratung durch
den zuständigen Rentenversicherungsträger geboten war“ [Rdnr. 10].
Konkret sieht der BGH eine Informationspflicht gemäß § 14
Satz 1 i.V.m. § 2 Abs. 2 Halbsatz 2, § 17 Abs. 1 SGB I [Rdnr. 22].
Der BGH beschränkt aber auch diese Informationspflicht:
„In Fällen dieser Art muss der Träger der
Grundsicherung/Sozialhilfe nicht prüfen, ob die Voraussetzungen für die
Gewährung einer Erwerbsunfähigkeitsrente gegeben sind. Ebenso wenig muss er
über Einzelheiten der Antragstellung belehren (...).“ [Rdnr. 21]
Es geht mithin nicht um eine detaillierte
Informationspflicht, sondern lediglich um einen Hinweis auf andere
möglicherweise in Frage kommende (vorrangige) Sozialleistungen.
Und der BGH schränkt noch weiter ein:
„Eine solche Spontanberatungspflicht eines
Leistungsträgers, der kein Rentenversicherungsträger ist, in einer
rentenversicherungsrechtlichen Angelegenheit kommt aber nur dann in Betracht,
wenn die in dem konkreten Verwaltungskontakt zutage tretenden Umstände insoweit
eindeutig sind, als sie ohne weitere Ermittlungen einen dringenden rentenversicherungsrechtlichen
Beratungsbedarf erkennen lassen (...).“ [Rdnr. 16]
Der BGH konkretisiert am vorliegenden Fall aber die
Beratungspflicht des zuständigen Grundsicherungsträgers:
„Er war jedoch auf Grund seiner Behinderung außerstande,
seinen notwendigen Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln (Einkommen, Vermögen) zu
bestreiten. In einer solchen Situation musste ein mit Fragen der Grundsicherung
bei Erwerbsminderung befasster Sachbearbeiter mit Blick auf die Verzahnung und
Verknüpfung der Sozialleistungssysteme in Erwägung ziehen, dass bereits vor
Erreichen der Regelaltersgrenze ein gesetzlicher Rentenanspruch wegen
Erwerbsunfähigkeit bestehen konnte (vgl. § 43 Abs. 2 und § 53 Abs. 2 SGB VI zur
vorzeitigen Erfüllung der allgemeinen Wartezeit).“ [Rdnr. 21]
Dies auch und gerade im Hinblick auf die Nachrangigkeit der
Sozialhilfe (SGB XII) und der engen Verknüpfung zwischen Grundsicherung wegen
Erwerbsunfänigkeit (§ 41 SGB XII) und der Rente wegen Erwerbsminderung (§ 43
Abs. 2 SGB VI), so daß derselbe Kernsachverhalt zugrunde lag [Rdnr. 19].
Somit urteilte der BGH im Einzelnen:
„Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist jedoch
ein Beratungsfehler der Mitarbeiter des Beklagten und damit die Verletzung
einer drittbezogenen Amtspflicht im Sinne des § 839 Abs. 1 Satz 1 BGB darin zu
sehen, dass die Grundsicherungsbehörde beziehungsweise das Sozialamt, obwohl
ein dringender Beratungsbedarf in rentenversicherungsrechtlicher Hinsicht
deutlich erkennbar war (möglicher Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente), einen
entsprechenden Hinweis unter Verstoß gegen § 14 Satz 1 SGB I unterlassen hat.“
[Rdnr. 12]
„Ist anlässlich eines Kontakts des Bürgers mit einem
anderen Sozialleistungsträger für diesen ein zwingender
rentenversicherungsrechtlicher Beratungsbedarf ersichtlich, so besteht für den
aktuell angegangenen Leistungsträger auch ohne ein entsprechendes
Beratungsbegehren, durch das in der Regel die Beratungspflicht erst ausgelöst
wird, zumindest die Pflicht, dem Bürger nahezulegen, sich (auch) von dem
Rentenversicherungsträger beraten zu lassen (vgl. § 2 Abs. 2 Halbsatz 2, § 17
Abs. 1 SGB I).“ [Rdnr. 16]
Der BGH schiebt gleich auch willkürlich oder schluderig
falschen Auskünften einen Riegel vor:
„Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats müssen
Auskünfte, die ein Beamter erteilt, dem Stand seiner Erkenntnismöglichkeit
entsprechend, sachgerecht, das heißt vollständig, richtig und
unmissverständlich, sein, so dass der Empfänger der Auskunft entsprechend
disponieren kann. Wenn Rechts- und Fachkenntnisse über den Gegenstand der
Auskunft beim Empfänger nicht vorausgesetzt werden können, muss die Auskunft
nach Form und Inhalt so klar und eindeutig sein, dass Missverständnisse und
Zweifel, wie sie bei unerfahrenen Personen leicht entstehen können, möglichst
ausgeschlossen sind. Diese Amtspflicht besteht gegenüber jedem Dritten, in
dessen Interesse oder auf dessen Antrag die Auskunft erteilt wird (...).“
[Rdnr. 13]
„Der Leistungsträger kann sich nicht auf die Beantwortung
konkreter Fragen oder abgegrenzter Bitten beschränken, sondern muss sich
bemühen, das konkrete Anliegen des Ratsuchenden zu ermitteln und - unter dem
Gesichtspunkt einer verständnisvollen Förderung - zu prüfen, ob über die
konkrete Fragestellung hinaus Anlass besteht, auf Gestaltungsmöglichkeiten,
Vor- oder Nachteile hinzuweisen, die sich mit dem Anliegen verbinden (...).“
[Rdnr. 15]
Sind Betroffene erkennbar nicht in der Lage, ihre Situation
tatsächlich oder rechtlich richtig beurteilen zu können, so abverlangt der BGH
zusätzliche Aufklärungs- und Beratungspflichten:
Es entspricht darüber hinaus ständiger Rechtsprechung des
Senats, dass besondere Lagen und Verhältnisse für den Beamten zusätzliche
(Fürsorge-)Pflichten begründen können, zum Beispiel die Pflicht, einen
Gesuchsteller über die zur Erreichung seiner Ziele notwendigen Maßnahmen
belehrend aufzuklären oder in anderer Weise helfend tätig zu werden, wenn der
Beamte erkennt oder erkennen muss, dass der Betroffene seine Lage in
tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht nicht richtig zu beurteilen vermag.
Insbesondere darf der Beamte nicht ‚sehenden Auges’ zulassen, dass der einen
Antrag stellende oder vorsprechende Bürger Schäden erleidet, die der Beamte
durch einen kurzen Hinweis, eine Belehrung mit wenigen Worten oder eine
entsprechende Aufklärung über die Sach- und Rechtslage zu vermeiden in der Lage
ist (...). Diese zusätzlichen Aufklärungs- und Belehrungspflichten ergeben sich
aus dem Grundsatz, dass der Beamte nicht nur Vollstrecker staatlichen Willens,
nicht nur Diener des Staates, sondern zugleich ‚Helfer des Bürgers’ sein soll,
und betreffen Fallkonstellationen, in denen sich die notwendige Hilfe oder eine
andere gebotene Verhaltensweise situationsbedingt aufdrängen (...).“ [Rdnr.
14]
Hierbei beruft sich der BGH auf die besonderen in den §§ 2,
14, 15 und 17 SGB I niedergelegten Beratungs- und Betreuungspflichten der
Sozialleistungsträger [Rdnr. 15].
Der BGH verweist dabei auf die Kompliziertheit des
Sozialrechts, die in der Verzahnung verschiedener Sozialleistungssysteme liege,
die nebeneinander, aber auch nacheinander wirksam sein könnten, wenn etwa die
Anrechnung bestimmter Zeiten in dem einen Sozialleistungssystem die Anerkennung
in einem anderen Sozialleistungssystem auschlössen, oder wenn die Gewährung von
Leistungen nach dem einen System die Gewährung von Leistungen nach einem
anderen System entgegenstünden oder diese begrenzten [Rdnr. 15]. Daraus folgert
der BGH:
„Die Beratungspflicht ist deshalb nicht auf die Normen
beschränkt, die der betreffende Sozialleistungsträger, hier die
Grundsicherungsbehörde beziehungsweise das Sozialamt, anzuwenden hat (...).“
[Rdnr. 15]
Hierbei beruft sich der BGH auf die BSG-Rechtsprechung:
„Vor diesem Hintergrund geht das Bundessozialgericht in
ständiger Rechtsprechung davon aus, dass § 14 Satz 1 SGB I, wonach jeder
Anspruch auf Beratung über seine Rechte und Pflichten nach dem Sozialgesetzbuch
hat, nicht nur diejenigen Leistungsträger, denen gegenüber Rechte geltend zu
machen oder Pflichten zu erfüllen sind, zur Beratung verpflichtet (s. § 14 Satz
2 SGB I; hier: Träger der Rentenversicherung), sondern Beratungspflichten auch
eine ‚andere Behörde’ (hier: Grundsicherungsamt bzw. Sozialamt) treffen können.
Letzteres kommt insbesondere dann in Betracht, wenn die Zuständigkeitsbereiche
beider Stellen materiell-rechtlich eng miteinander verknüpft sind, die ‚andere
Behörde’ im maßgeblichen Zeitpunkt auf Grund eines bestehenden Kontakts der ‚aktuelle
Ansprechpartner’ des Berechtigten ist und auf Grund der ihr bekannten Umstände
erkennen kann, dass bei dem Berechtigten im Hinblick auf das andere
sozialrechtliche Gebiet ein dringender Beratungsbedarf in einer gewichtigen
Frage besteht (...).“ [Rdnr. 16]
Weitere Aspekte
In dem Revisionsverfahren ging es auch um weitere
Rechtsfragen:
– die „Kollegialgerichtslinie“
Die „Kollegialgerichtslinie“ besagt, „dass einen
Amtsträger in der Regel kein Verschulden trifft, wenn ein mit mehreren
Rechtskundigen besetztes Kollegialgericht die Amtstätigkeit als objektiv
rechtmäßig angesehen hat“ [Rdnr. 24]. Diese „Kollegialgerichtslinie“ greift
nach Auffassung des BGH aber dann nicht, wenn für den Fall wesentliche Aspekte
unberücksichtigt blieben. So habe das OLG „nicht hinreichend beachtet, dass
einem Sozialhilfeträger gerade im Hinblick auf die Verzahnung und Verknüpfung
der Sicherungsformen und -systeme frühzeitig Hinweispflichten (ohne weitere
Prüfungspflichten) obliegen“ ... „Indem das Gericht unter Hinweis auf
die beim Sozialhilfeträger regelmäßig fehlenden Spezialkenntnisse des
Rentenversicherungsrechts eine Beratungs- und Hinweispflicht verneint hat, hat
es einen zu engen Prüfungsmaßstab angelegt.“[Rdnr. 24].
– Schadensersatzmöglichkeit gegen die Mutter als
Betreuerin
Auf die Rechtsauffassung des beklagten
Grundsicherungsträgers, gemäß § 1908i, § 1833 BGB bestünde ein
Schadensersatzanspruch des Klägers gegen die Mutter, weil diese sich nicht beim
zuständigen Rentenversicherungsträger informiert habe [Rdnr. 26], antwortete
der BGH, daß „von einer nicht-professionellen (ehrenamtlichen) Betreuerin
regelmäßig nicht erwartet werden [kann], dass sie über weitergehende
Rechtskenntnisse verfügt als der fachlich zuständige Mitarbeiter einer
Sozialbehörde ..., zumal der Sinn und Zweck der Beratungspflicht nach § 14 SGB
I gerade darin besteht, sicherzustellen, dass der Gesuchsteller mit seinem
Anliegen verständnisvoll gefördert und auf bestehende (alternative)
Gestaltungsmöglichkeiten hingewiesen wird.“ [Rdnr. 27]
– der sozialrechtliche Herstellungsanspruch
Der sogenannte sozialrechtliche Herstellungsanspruch wurde vom
BGH unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BSG, wonach insbesondere die
Beseitigbarkeit der nachteiligen Folgen durch anschließendes rechtmäßiges
Verwaltungshandeln Voraussetzung sei, verneint: „Eine Folgenbeseitigung
durch eine zulässige Amtshandlung scheitert im vorliegenden Fall daran, dass §
99 Abs. 1 Satz 2 SGB VI einer rückwirkenden Rentenbewilligung entgegensteht (...).“[Rdnr. 28]