Herbert Masslau

Konditionierung durch Bestrafen: „Hartz IV“-Sanktionen

(1. Dezember 2016)

 

 

I.

Begriffsklärung

Zunächst einmal bedarf es der Klärung des Begriffes Strafe.

Strafen im juristischen Sinne sind Freiheitsstrafen, Geldstrafen und Disziplinarstrafen.

Für jede gilt der Gesetzesvorbehalt (Art. 19 Abs. 1 GG), da die Strafen in Grundrechte eingreifen: die Freiheitsstrafe in das Grundrecht auf die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG), die Geldstrafe in die Eigentumsgarantie (Art. 14 Abs. 1 GG), die Disziplinarstrafe in das Grundrecht der freien Berufsauswahl (Art. 12 Abs. 1 GG).

Freiheitsstrafen dürfen nur anhand der Regelungen des Strafgesetzbuches (StGB) verhängt werden. Ausnahme: die in anderen Gesetzen geregelte Erzwingungshaft/Ordnungshaft (z.B. gegen Zeugen § 380 ZPO) etwa wenn ein auferlegtes Ordnungsgeld nicht eintreibbar ist. Ein weiteres Beispiel (Schuldhaft siehe Exkurs I).

Geldstrafen werden im Allgemeinen ebenfalls aufgrund des StGB verhängt oder speziell durch das Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG).

Disziplinarstrafen werden aufgrund unterschiedlicher gesetzlicher Regelungen verhängt: berufsständische (z.B. für Rechtsanwälte durch die Rechtsanwaltskammern), für Beamte (durch das Beamtenrecht), für Richter (§§ 61, 62 Abs. 1 Nr. 1 DRiG durch den Bundesgerichtshof, BGH).

Schadensersatz, materieller (Vermögensschaden) wie immaterieller (z.B. seelischer) ist keine Strafe, sondern ein finanzieller Ausgleich für erlittenen Schaden, wie das Wort schon sagt. Es geht hier um die objektive Bestimmung als Ausgleich, nicht um die subjektive Wahrnehmung als Strafe für eine nach subjektiven Maßstäben angeblich gerechtfertigte vorherige schädigende Handlung.

Die Sanktion, welche Gegenstand dieses Artikels ist, muß im hier dargestellten Kontext als lediglich Wort lateinischen Ursprungs für Strafe betrachtet werden. Zwar ist der lateinische Begriff weiter gefaßt: sancio = heiligen, bestimmen, gesetzlich, strafen und sanctio = Strafbestimmung [1], womit unsere Wörter „Sankt“ für heilig und „Sanktion“ für Strafe zusammenhängen.

Im Deutschen ist es durchgehend üblich, gerade mehrdeutige Wörter aus dem romanischen Sprachgebrauch (lateinisch, französisch, italienisch) nur im pejorativen Sinne zu gebrauchen. Gleichwohl ist der begriffliche Unterschied nicht wirklich groß, denn schon die Antike kannte ja göttliche Strafe, sei sie polytheistisch, sei sie monotheistisch, sei es, daß sie als „Schicksal“ (moira) über die Menschen kommt. Insofern ist der Weg von „heilig“ oder „Bestimmung“ zu „Strafe“ nicht weit.

Die Sanktion stellt also im eigentlichen Sinne des Wortes eine Strafe dar. So wird sie auch in der Politik gehandhabt, wenn etwa internationale Sanktionen (Einreiseverbote, Boykotte) gegen einzelne Länder, welche nicht „gehorchen“ wollen, verhängt werden.

 

 

II.

Die „Hartz IV“-Strafen

Die Sanktionen nach dem SGB II („Hartz IV“) seien keine Strafe, weil eine Strafe sich aus einem Gesetz, entweder dem Strafgesetzbuch (StGB) oder dem Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG) ergeben müsse. Schon hier liegt bei vielen Juristen ein Denkfehler vor: wie bereits gezeigt, können sich Strafen auch aus anderen Gesetzeswerken ergeben, es gilt nur: keine Strafe ohne Gesetz.

Begründet wird die Auffassung, bei den „Hartz IV“-Sanktionen mit Leistungskürzungen bis hin zum kompletten Wegfall der existenzsichernden Leistungen handele es sich nicht um Bestrafung, einzig und allein damit, daß der betreffenden Person ja die freie Entscheidung offen stehe, der behördlichen Forderung nachzukommen oder aber die Sanktion hinzunehmen.

Inzwischen interpretieren manche Obergerichte (Landessozialgerichte) [2] eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) [3] dahingehend fehl, es gäbe keine voraussetzungslosen Unterstützungen aus dem Steuersäckel, hieße nicht nur die Anrechnung von vorhandenem Einkommen und Vermögen, sondern auch Leistungsverweigerung bei fehlendem Wohlverhalten. Mittlerweile ist der deutsche Vernichtungsschreibtischtäter ideologisch sogar einen Schritt weiter gegangen: nicht die der Existenzsicherung dienende Leistung werde gekürzt, sondern nur der Zahlbetrag [4]. Formaljuristisch bleibt damit der Leistungsanspruch und die Leistungsbewilligung erhalten, nur ausgezahlt bekommt man ihn nicht.

Hinnehmbar wäre das Ganze unter Berücksichtigung der Interessen von Staat und Steuerzahler noch dann, wenn jemand, der oder die einen konkret angebotenen sozialversicherungspflichtigen (!) Arbeitsplatz, dessen Nettoeinkommen ausreichend oberhalb des Existenzminimums liegt, mutwillig (!) ablehnt oder wer ohne Schulausbildung eine angebotene Schul- oder Berufsausbildung ablehnt. Aber ein solcher Fall tritt fast gar nicht auf, obwohl in der öffentlichen Darstellung immer so getan wird, als sei dies das Problem.

Was wirklich auftritt, von den reinen Meldeversäumnissen abgesehen, ist die Verweigerung absurder, teils menschenverachtender sogenannter Maßnahmen, welche willkürlich von unqualifiziertem Behördenpersonal im Gießkannenprinzip über die Arbeitslosen verteilt werden. Und damit meine ich nicht z.B. Qualifizierungsprogramme wie das Lernen des Umgangs mit dem Computer (PC). Was ich meine sind Maßnahme-Programme, wie jenes, wonach ich selber sanktioniert wurde, wo ich als Deutschlehrer lernen sollte, mich zu bewerben, und wo ich trotz des einstigen Computerkurses und trotz des Betreibens einer eigenen website lernen sollte, wie man sich Stellenangebote aus dem Internet holt.

Die Bestrafung besteht eben darin, daß jede Gehorsamsverweigerung (aus Menschenwürde), jede Unbotmäßigkeit zur Reduzierung der ohnehin schon nicht realistisch berechneten Existenzminimum-Mittel führt. Strafe ist auch insofern der richtige Begriff, weil im Gegensatz zu § 25 BSHG (alte Sozialhilfe) die volle Leistung nicht ab Verhaltensänderung einsetzt, sondern wie eine Gefängnisstrafe im Regelfall drei Monate zu erleiden ist auch trotz Verhaltensänderung. Die Strafe sanktioniert dabei ein bestimmtes Verhalten (Auslöser) über eine bestimmte Zeitdauer (Dauer der Strafe). Nur weil die Bestrafung im „Hartz IV“-Gesetz und nicht im Strafrecht oder Ordnungswidrigkeitengesetz gesetzlich verankert ist, unterscheidet sie sich nicht von einer Geldstrafe nach StGB oder OWiG.

Eine Sanktion im strafrechtlichen Sinne muß aber vom Gesetzgeber, der allein dazu befugt ist, im StGB verankert sein; dies gilt erst recht für die Einschränkung von Grundrechten (cf. § 132 OWiG):

„Würde die Entscheidung über die Sanktionierung eines Verhaltens der vollziehenden oder der rechtsprechenden Gewalt überlassen, so wäre dies unvereinbar mit dem Prinzip des Grundgesetzes, dass die Entscheidung über die Beschränkung von Grundrechten oder über die Voraussetzung einer Beschränkung dem Gesetzgeber und nicht den anderen staatlichen Gewalten obliegt (…).“ [5]

„Insoweit enthält Art. 103 Abs. 2 GG einen strengen Gesetzesvorbehalt, der es der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt verwehrt, die normativen Voraussetzungen einer Bestrafung oder einer Verhängung von Geldbußen festzulegen (…).“ [6]

„Insoweit enthält Art. 103 Abs. 2 GG einen strengen Gesetzesvorbehalt, der es der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt verwehrt, die normativen Voraussetzungen einer Bestrafung festzulegen (…). Der Gesetzgeber übernimmt mit der Entscheidung über strafwürdiges Verhalten die demokratisch legitimierte Verantwortung für eine Form hoheitlichen Handelns, die zu den intensivsten Eingriffen in die individuelle Freiheit zählt; es ist eine grundlegende Entscheidung, in welchem Umfang und in welchen Bereichen ein politisches Gemeinwesen gerade das Mittel des Strafrechts als Instrument sozialer Kontrolle einsetzt (…).“ [7]

§ 63 und § 63a SGB II regeln gesondert Bußgeldvorschriften, § 63b SGB II sogar Strafvorschriften im Hinblick auf datenschutzrechtliche Vergehen. Warum sind also die §§ 31 ff. SGB II mit „Sanktionen“ überschrieben und nicht wie die §§ 63 ff. SGB II mit „Straf- und Bußgeldvorschriften“?

Aber es kommt im Recht ja nicht auf die Betitelung, sondern auf den Regelungsgehalt an.

Hierbei darf sich der Gesetzgeber durchaus sogenannter „unbestimmter Rechtsbegriffe“ bedienen [8].

Die Frage, die aber ungeklärt ist, lautet, ob der Gesetzgeber gerade bei der Existenzsicherung dienenden Leistungen einen Zustand durch fehlende Begriffsbestimmung und fehlende rechtliche Regelung derart offen lassen darf, daß jede Sachbearbeiterin und jeder Sachbearbeiter in eigener Willkür, höchstens eingeschränkt durch nicht schriftlich fixierte Vorgaben der Verwaltungshierarchie, darüber bestimmen darf, was eine geeignete Maßnahme ist und wann sanktioniert werden darf. So hat es der Gesetzgeber bewußt so gehalten – generell ist das SGB II gegenüber dem alten BSHG ein unbestimmtes Wischi-waschi-Gesetz –, daß der persönlich zugeordnete Ansprechpartner für die Eingliederung in den Arbeitsmarkt keinerlei Qualifikationen aufweisen muß, was sich insbesondere bei den geradezu strafgeilen Optionskommunen dahingehend auswirkt, daß hier nicht einmal Personen tätig sind, die wenigstens über die praktische Erfahrung von Arbeitsvermittlern vom Arbeitsamt (Arbeitsagentur) verfügen. Hier dürfen Leute, deren einzige Qualifikation das richtige Parteibuch ist, nicht nur ihren Unverstand, sondern ihre ganze Menschenverachtung an hilfebedürftigen Menschen austoben. Selbst das Bundessozialgericht bekommt es nicht hin, per richterlicher Rechtsauslegung die Willkür zu entschärfen: so müssen nach BSG, Urteil vom 14. Februar 2013, Az.: B 14 AS 195/11 R die Eingliederungsvereinbarungen (EGV) ausgehandelt werden, bevor sie als Verwaltungsakt im Falle eines Dissenses erlassen werden dürfen, während nach BSG, Urteil vom 22. September 2009, Az.: B 4 AS 13/09 R es eine reine Opportunitätsentscheidung der Verwaltung sei, wie sie es handhaben wolle. Nach letztgenannter höchstrichterlicher Entscheidung besteht nicht einmal Anspruch auf einen qualifizierten Ansprechpartner, eine qualifizierte Ansprechpartnerin. Hier liegt ganz klar ein Verstoß gegen den aus dem Willkürverbot des Art. 3 Grundgesetz abgeleiteten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vor [9]. Der maximalen Strafe (Entzug des Existenzminimums inklusive Krankenversicherungsschutz) steht für die Betroffenen nicht einmal das Recht auf qualifiziertes Vermittlerpersonal gegenüber – damit ist der absoluten Willkür Tür und Tor geöffnet.

In den ersten fünf Jahren von „Hartz IV“ betrug die Erfolgsquote derjenigen Hilfebedürftigen, die den Mut zu einer sozialgerichtlichen Klage hatten, immerhin zwischen 40 % und 65 % [10]. 2014 wurde erstmals die Millionengrenze an Sanktionen überschritten, wovon knapp eine halbe Million sogenannte arbeitsfähige Leistungsempfängerinnen und -empfänger betroffen waren [11].

 

Zur Strafe gehört die Schuld

Das bürgerliche Rechtssystem unterscheidet sich von vorhergehenden Rechtssystemen dadurch, daß an die Stelle der Willkür, sei es in der Antike im Verhältnis Bürger zu Sklave, sei es im Feudalismus im Verhältnis ideologisch behaupteter gottgewollter Herrschaft Adel zu Bauer, und damit an die Stelle der Rache die gesetzmäßige Strafe trat. Egalité, in der Französischen Revolution im gemeinen Volk verstanden als die Gleichheit aller Menschen hatte sich schon ab 1791, zur Zeit der Deklaration der allgemeinen Menschenrechte, zu jener Form pervertiert, die ihr von Anfang an als Möglichkeit innewohnte: die Gleichheit vor dem Gesetz. Nur der Vollständigkeit halber: die einzig nicht widersprüchlich interpretierbare Parole der Französischen Revolution, Fraternité, wurde 1791 ersetzt durch die Parole „Sicherheit und Eigentum“.

Nun besteht also die Schuld des „Hartz IV“-Empfängers, der „Hartz IV“-Empfängerin in einer doppelten.

Zum Einen besteht die Schuld in der Arbeitslosigkeit. Nirgendwo besser als in Deutschland kann den Individuen eingeredet werden, sie wären an ihrer Arbeitslosigkeit selbst schuld. Und mir fallen auch spontan keine anderen Länder und Kulturen ein, in denen der Wert eines Menschen fast ausschließlich über Arbeit definiert ist. Hier haben drei Jahrhunderte preußische Knute „ganze Arbeit geleistet“. Dabei soll die Rolle des Protestantismus – Luther: „ora et labora“ („bete und arbeite“) – nicht kleingeredet werden; sie hängt damit zusammen. Und, ich verweise in diesem Zusammenhang ganz allgemein auf die Funktion der Arbeitslosen als lohndrückende ‚Reservearmee’ im Kapitalismus [12].

Zum Anderen besteht die Schuld des „Hartz IV“-Empfängers, der „Hartz IV“-Empfängerin darin, daß er oder sie nicht amöbenhaft gehorcht, sondern, sozial geprägt durch die deutsche Nachkriegszeit (nach 1945) nicht nur die Schnauze voll hat von „führen und gehorchen“, sondern sich als Folge der 1968er-Zeit als Individuum mit eigenen Ansprüchen empfindet.

Grundsätzlich, rein theoretisch, untermauert durch die Rechtsprechung des BVerfG [13] besteht das Existenzminimum nicht ausschließlich aus dem physischen Existenzminimum von Nahrung, Bekleidung, Behausung, sondern ist ein sogenanntes sozio-kuluturelles Existenzminimum, welches auch Arbeitslose als Menschen mit dem Bedürfnis menschlicher Kontakte und gesellschaftlicher Aktivitäten betrachtet.

Daß diese „Hartz IV“-spezifische Schuld tatsächlich, aus Sicht der Juristen und Bürokraten, die ürbigens ihren eigenen Arbeitsplatz in der Regel nur dem Parteibuchklüngel verdanken, existiert, sei an zwei Beispielen (Exkurs I und II) verdeutlicht.

 

Exkurs I: Versuchte Wiedereinführung der Schuldhaft

2013 unternahm die Bundesregierung den Versuch, die im 19. Jahrhundert abgeschaffte Schuldhaft wieder einzuführen – im Mietrecht und auf „Hartz IV“-Empfängerinnen und -empfänger gemünzt.

So sah der Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 15. August 2012 [14] im neu geschaffenen § 283a Abs. 2 ZPO vor: „Der Beklagte hat die Sicherheitsleistung binnen einer vom Gericht zu bestimmenden Frist nachzuweisen. Befolgt der Beklagte die Sicherungsanordnung nicht, setzt das Gericht gegen ihn auf Antrag des Klägers ein Ordnungsgeld und für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden kann, Ordnungshaft fest. Verspricht die Anordnung des Ordnungsgeldes keinen Erfolg, kann das Gericht Ordnungshaft anordnen.“

Da die sog. Mietnomaden, die ja die Miete bezahlen können, es aber nicht tun, bereits vom Betrugsparagraphen 263 StGB abgedeckt sind, konnte dieses – die Gesetzesformulierung „Ordnungsgeld und für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden kann“ weist eindeutig darauf hin – nur auf „Hartz IV“-Empfängerinnen und -empfänger gemünzt sein, deren Unterkunftskosten die Jobcenter aus eigenen fiskalischen Interessen zu niedrig als „angemessen“ bestimmen und damit erst Räumungsklagen geradezu erzwingen, wenn man nicht hungern will.

So fand der Bundesrat auch deutliche Worte in Richtung Bundesregierung: „Die Schuldhaft wurde bereits im 19. Jahrhundert abgeschafft. Besonders bedenklich ist dabei, dass § 283a Absatz 2 Satz 2 ZPO (…) keinerlei Ermessen des Gerichts vorsieht, nicht einmal für den Fall unverschuldeter Leistungsunfähigkeit des Beklagten und für den Fall, dass dieser gar keine Möglichkeit hat, die Zwangsmittel abzuwenden. ... Auch in vielen Fällen, in denen der Betroffene auf öffentliche Hilfeleistungen angewiesen ist, hat er es gerade nicht allein in der Hand, ob und wie schnell eine öffentliche Stelle zur Sicherheitsleistung oder zur Abgabe einer Verpflichungserklärung bereit und rechtlich überhaupt in der Lage ist ... .“ [15]

Dies führte dann letztlich zur Streichung der entsprechenden Passagen im Regierungsentwurf auf Empfehlung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages [16].

 

Exkurs II: Versuchte Kriminalisierung

„Vorrang für die Anständigen – Gegen Missbrauch, ‚Abzocke’ und Selbstbedienung im Sozialstaat“ [17]

Aus dem Text: „Jeder Euro, der am Arbeitsmarkt ‚abgezockt’ wird, steht für sinnvolle Unterstützung nicht mehr zur Verfügung. Leistungsmissbrauch ist also kein Kavaliersdelikt, sondern Betrug an all denen, die Hilfe wirklich brauchen, und an Millionen Menschen, die ihre Steuern und Sozialabgaben ehrlich entrichten und die sich auf diesen Staat verlassen können müssen, wenn es einmal ernst wird. Das gilt gerade für Bezieher kleinerer Arbeitseinkommen, deren Netto manchmal nicht weit über der Höhe der Sozialleistungen liegt.“

Da wird offene Progromstimmung gegen „Hartz IV“ beziehende Menschen gemacht, so als seien diese selbst schuld an ihrem „Hartz IV“-Bezug und nicht die kapitalistische Wirtschaftsordnung, die Arbeitslose als lohnsenkende Reservearmee systemisch benötigt und sie als Abfallprodukt von Überproduktionskrisen permanent produziert.

Derselbe Staat, der hier diejenigen, „die ihre Steuern und Sozialabgaben ehrlich entrichten“ anführt, nachdem er durch Deregulierungen in den 1990er und Anfang der 2000er Jahre die Steuersätze für die Reichen drastisch gesenkt hat, hat bald darauf (2008 ff.) kein Problem damit, mal eben binnen einer Woche per Telefonkonferenz 100 Mrd. Euro zur HRE-Bankenrettung zu verschleudern, 20 Mrd. Euro für die Commerzbankrettung auszugeben und ca. 200 Mrd. Euro für einen europäischen Hilfsfonds, der angeblich Länder wie Griechenland vor der Pleite retten soll, in Wirklichkeit aber nur der Rettung deutscher und französischer Banken dient. Wo bleibt da der Ruf nach „ordentlichem“ Umgang mit Steuergeldern?!

Derselbe Staat, der mit „Hartz IV“ erst jene prekären Arbeitsverhältnisse ermöglichte, wo Menschen 10-12 Stunden am Tag und auch samstags arbeiten, um mit einem Arbeitslohn netto von nicht mehr als ein „Hartz IV“-Single bekommt (750 Euro Regelleistung, Unterkunft, Heizung + 150 Euro [100 Euro seit 2016] Kranken- und Pflegeversicherung = 900 Euro) nach Hause zu gehen, um für die Reichen und die obere Mittelschicht in Deutschland nicht nur auf Kosten z.B. der dänischen und belgischen Fleischindustrie, sondern vorallem der südeuropäischen Staaten als Billiglohnland die deutsche Exportindustrie anzukurbeln. Dieser selbe Staat spielt jene prekär Beschäftigten, die erst durch „Hartz IV“ möglich wurden gegen jene aus, die „Hartz IV“ zur Deckung ihres Existenzminimums benötigen. Hat dieser selbe Staat nicht vergessen, im gleichen Atemzug zu erwähnen, daß erst „Hartz IV“ das große Aufstocker-Spiel zugunsten eingesparter Löhne und damit höherer Profite bei den Kapitalisten möglich gemacht hat?! Erwähnt seien das Einstiegsgeld (früher § 29 SGB II, jetzt § 16b SGB II), das den Hilfebedürftigen prekäre Arbeitsverhältnisse schmackhaft machen soll, und seit 2008 die Arbeitsförderung/Lohnsubventionierung nach § 16e SGB II (vorher § 16a SGB II), die eine direkte Finanzierung von Lohnanteilen (bis zu 75 % des Arbeitsentgeltes) an den Arbeitsgeber darstellt.

Und wie sieht die statistische Realität aus?

Laut „Bekämpfung von Leistungsmissbrauch im SGB II 07.2009 – SP II 21“ der Bundesagentur für Arbeit lag die „potentielle Mißbrauchsquote“ (Verhältnis tatsächliche und potentielle Mißbrauchsfälle zur Anzahl der Hilfebedürftigen) im 1. Hj. 2008 bei 0,9 %, im 1. Hj. 2009 bei 1,0 % [18]. 2006 (ganzes Jahr) lag die Mißbrauchsquote laut Mitteilung der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage bei 2,7 % [19]. Das entspricht der allgemeinen Kriminalitätsrate, war also zu erwarten und stellt keinen Grund für gesondertes bashing von „Hartz IV“-Empfängerinnen und -empfängern dar.

„Wir setzen unseren Kurs zur Bekämpfung der hohen Arbeitslosigkeit fort und verhindern den Missbrauch von Sozialleistungen“ [20] Hier wurde bereits ein halbes Jahr nach Inkrafttreten von „Hartz IV“ eine Kürzungswelle eingeläutet, die bis heute ununterbrochen anhält. Stichworte: U-25 (Entmündigung junger Erwachsener, „Hotel-Mama“-Zwang), „faktische Stiefkinder“ (Einkommensanrechnung auf fremde Kinder trotz fehlenden zivilrechtlichen Unterhaltsanspruchs), Konstruierung eheähnlicher Gemeinschaften zwecks Einkommensanrechnung beim bedürftigen „Partner“ etc.

 

Willkürliche Bestrafung wie noch zu Zeiten der absolutistischen Herrscher ist seit der Französischen Revolution nicht mehr möglich. Der bürgerliche Rechtsstaat verlangt das Vorliegen eines Handlungsgrundes als Berechtigung für eine gesetzliche Strafe. Und hier greift die ideologisch notwendige Kriminalisierung von ganzen Bevölkerungsschichten in der Öffentlichkeit ein als self-fulfilling-prophecy.

 

Zur Strafe gehört der bzw. die Schuldige

Mit der Abschaffung der Willkür, mit der Einführung rechtsstaatlicher Methoden [21] wurde auch der Delinquent notwendig. Delinquo heißt im Lateinischen sich vergehen, (etwas) verschulden. Die Tat, das delictum ist das Vergehen, die Schuld des- bzw. derjenigen Person [22]. Hier wird aus der Begrifflichkeit noch die stark moralisch gefärbte Betrachtung und Beurteilung deutlich, die sich im bürgerlichen Rechtsstaat zum Verbrechen (geringer: Vergehen) im Sinne des Gesetzes verselbständigt und damit verabsolutiert.

Die Willkür des absolutistischen Herrschers läßt noch Beifalls- bzw. Mißfallsbekundungen der Bevölkerung zu, die entmenschlichte gesetzliche Strafe nicht mehr. Sie entzieht die Schuldigen (Delinquenten) zum einen dem Blick der Öffentlichkeit, mit Ausnahme der öffentlichen Gerichtsverhandlung, zum anderen dämmt sie das Interesse, weil die Bestrafung nicht mehr öffentlich zur Schau gestellt wird wie bei der mittelalterlichen Folter oder dem öffentlichen Karzer zum Bespucken oder dem späteren offenen Räderwagen.

Warum dann nicht einfach die behördliche Bestrafung? Warum dann diese öffentliche staatliche Hetzjagd?

Weil es (siehe Exkurs II) quasi keine Delinquenten gibt, von Einzelfällen abgesehen.

Um eine menschenverachtende Bestrafung durch Leistungsentzug existenzsichernder Leistungen öffentlich begründbar zu machen, müssen Stimmungen erzeugt werden. Nicht bei den Reichen, die grinsen nur angesichts der Sozialeinsparungen zugunsten der ihnen nützlichen Steuereinsparungen. Nein, Adressat dieser Menschenjagd sind gerade jene, die bereits „freiwillig“ oberhalb der gesetzlich festgelegten Arbeitszeitregelungen arbeiten für einen Lohn, der gerade „Hartz IV“-Niveau erreicht. Eigentlich könnten solche Leute als dumm bezeichnet werden, ja vielmehr müßten sie als asozial bezeichnet werden, weil sie durch ihr Verhalten gerade jene geschaffenen Zustände stützen, mit denen immer mehr Menschen aus regulären, sozialversicherungspflichtigen Vollzeitarbeitsplätzen katapultiert und immer mehr spätere arme Rentnerinnen und Rentner geschaffen werden. Zum anderen ist das Ziel die untere Mittelschicht, die schon wie 1930-1932 in der Weltwirtschaftskrise nach dem Börsenkrach von 1929 – die Kleinbürger, die Bauern, Handwerker, niederen Angestellten und Beamten waren die Wähler von Hitlers NSDAP, nicht so sehr die Arbeitslosen [22a] –, verängstigt, ihr kleines selbsterarbeitetes Eigentum zu verlieren und sozial in ihren Augen abzusteigen, ein Ventil benötigt. Einzig und allein die Einbindung in Europa und die moderne Rechtsstaatlichkeit, aber auch die ideologische Verblendung der Bevölkerungsmehrheit aktuell im Hinblick auf (Kriegs-)Flüchtlinge verhindern derzeit, daß es tatsächlich zu Progromen gegen „Hartz IV“-Menschen kommt.

Es ist bezeichnend, daß Kapitalisten, die das „Hartz IV“-System zum Abzocken staatlicher Sozialgelder nutzen, im Sprachgebrauch der Bundesagentur für Arbeit „schwarze Schafe“ heißen [23], während „Hartz IV“-Empfängerinnen und -empfänger, die zu Unrecht staatliche Sozialleistungen erheischen, „Parasiten“ [24] genannt werden: „Biologen verwenden für ‚Organismen, die zeitweise oder dauerhaft zur Befriedigung ihrer Nahrungsbedingungen auf Kosten anderer Lebewesen – ihren Wirten – leben’, übereinstimmend die Bezeichnung ‚Parasiten’.“ Wohlgemerkt: dies steht in einer staatlichen Broschüre des damaligen Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit, dessen Chef der damalige SPD-Minister Wolfgang Clement war. Die Wortwahl erinnert wohl mit Absicht an einen Film über die Juden („Der ewige Jude“, 1940) während der Nazi-Herrschaft in Deutschland.

Wie kann also jemand unschuldig sein, der oder die wie ein Parasit von der Allgemeinheit lebt (früher: Volksgemeinschaft, heute: Steuerzahler)?

Mit dieser öffentlich betriebenen Hetze sollen die hilfebedürftigen Menschen demoralisiert, dem Kleinbürgertum ein Ventil für seine begründete Verlustangst und dem Staat ein Rechtfertigungsgrund für seine gegen die verfassungsrechtlich garantierte Menschenwürde verstoßende Sozialpolitik zulasten der Bedürftigen und zugunsten der Kapitalisten (wie finanziert der Staat Steuersenkungen?!) geschaffen werden.

Bei den „Hartz IV“-Sanktionen wird aber nicht die „Faulheit“ des angeblich dem Steuerzahler Auf-der-Tasche-Liegens bestraft, sondern der Akt der Rebellion gegen die Obrigkeit und ihre Willkür – vor allem – der Verhängung sinnloser Maßnahmen. Nicht der Mensch steht im Mittelpunkt (Sozialhilfe = soziale Hilfe), sondern der Delinquent (Faulheit). Schon das Konstrukt der sog. Ein-Euro-Jobs ist nicht ausschließlich vom kapitalistischen Nutzdenken bestimmt, sondern erinnert an die Zwangsarbeit von Gefängnisinsassen: öffentliche Arbeiten als Strafe [25].

Dazu gehört die Disziplin der Klausur via Anwesenheitspflicht [26]. Es geht wie bei Strafgefangenen um die Kontrolle von An- und Abwesenheitszeiten [27].

Und, vor allem, geht es um eine Sub-Justiz [28], welche den Raum erfaßt der vom Gesetz bewußt übergangen wird, um willkürlich sinnlose Maßnahmen zu verhängen, bei nicht Befolgung das Existenzminimum einzukürzen und so Angst [29] zu erzeugen und die Menschen gefügig zu machen. Es geht nicht um die Nutzung der Fähigkeiten des Individuum, sondern um die Dressur zur geheimen Planerfüllung mit Hilfe der Überwachung und Sanktionierung, wie dies Michel Foucault für das Gefängnissystem beschreibt [30]. Internalisierung der Machtinteressen im Individuum: Die im Gesetz allgemein enthaltene Drohung mit der Sanktion verängstigt die Meisten derart, daß sie sich selbst dressieren und drangsalieren – die Macht spart Arbeit und Zeit und Geld für Arbeitskräfte. Und wie die psychische Verinnerlichung der Strafgewalt der Peiniger durch die Opfer als etwas Positives, so findet auch hier diese individuelle Verinnerlichung statt („Sitzt man nicht den ganzen Tag untätig auf dem Sofa rum“). Die Unbotmäßigen werden dagegen bestraft bis zur physischen Existenzvernichtung (100%-Sanktion).

 

Woher kommt diese behördliche Bestrafungsgeilheit?

Hier muß vom Ende her gedacht werden, um eine korrekte Antwort zu finden.

Und, es gibt zwei Enden: erstens die Finanzierung der Steuernachlässe für die Reichen und damit Mindereinnahmen des Staates durch die Verminderung der staatlichen Ausgaben durch Sozialabbau (Sozialisierung der Kosten bei Privatisierung der Gewinne) und zweitens das ideologische Ventil zwecks Stillhaltepolitk für die sog. Mittelschicht, jene Kleinbürger, die noch ein Eigenheim, noch einen SUV ihr Eigen nennen können, aber beruflich immer am Rande des Wohlstandsverlustes stehen. Deshalb ist es ja auch so wichtig, daß die „Es-ändert-sich-nichts-Politik“ eine überzeugende Vertreterin gefunden hat: Bundeskanzlerin Angela Merkel, die wie kein andere/r Politiker/in, trotzdem der Karren immer weiter gen Abgrund rast, dem Wahlvolk – die nicht wählenden „Hartz IV“-Empfängerinnen und -empfänger sind nicht das Ziel – vermittelt: solange ich nichts tue als Kanzlerin, solange bleibt alles, wie es ist. Merkel wird in der Öffentlichkeit nicht umsonst „Mutti“ genannt – wie eine Mutter symbolisiert sie für das Kind, den Mittelklasse-Bürger, Geborgenheit. So komisch das klingt, aber Adressat der „Hartz IV“-Sanktionen sind nicht die betroffenen „Hartz IV“-Empfängerinnen und -empfänger, sondern die noch zur Wahl gehende und was zu verlieren habende Mittelklasse. Und zu welcher rassistischen Dummheit die fähig sind, haben sie nicht nur in den 1930er Jahren zur Schau gestellt. AfD, Pegida sind das Pendant der heutigen Zeit.



III.

Fazit

Es geht bei den „Hartz IV“-Sanktionen nicht in erster Linie um die Bestrafung des bzw. der einzelnen Betroffenen, obwohl es individuell betrachtet eine solche ist, sondern es geht dabei um das gesellschaftliche Projekt der Disziplinierung. Ziel ist nicht der oder die Einzelne, Ziel ist die Gesellschaft.

Es geht um die Disziplinierung der Armen mit Hilfe eines komplexen und daher kompliziert erscheinenden Sozialsystems, welches gerade die reine physische Existenz garantiert, obwohl es ständig behauptet, „sozio-kulturelles Existenzminimum“ [31] zu sein.

Es geht um die Disziplinierung der Arbeitenden mit Hilfe eben der Existenz dieses Sozialsystems, welches einen zwar nicht verhungern läßt, wie das Gefängnis einen Gefangenen nicht verhungern läßt, welches sogar ein Dach über dem Kopf garantiert, wie das Gefängnis den Gefangenen vor den Unbillen der Witterung schützt, als Drohung der Reduzierung auf den nackten Körper bei Unbeugsamkeit.

Es geht um die Disziplinierung aller mit Hilfe des Generalverdachts, welcher versucht, das feudale Rechtsverständnis vor der Französischen Revolution wieder gesellschaftsfähig zu machen (siehe Exkurs I und II). „Nur wer arbeitet, soll auch essen“, so 2006 der damalige Bundesarbeitsminister Franz Müntefering (SPD) [32]. Da heute aber zumindest im europäischen Kulturkreis niemand mehr verhungern soll (physisch), wird die seelische Variante bevorzugt: am 20. eines Monats ist die Regelleistung aufgebraucht, unter anderem auch weil die „Hartz IV“-Empfängerinnen und -empfänger von der EEG-Umlage, die viele Kapitalisten nicht bezahlen, nicht befreit sind, weil immer mehr medizinische Leistungen gekappt werden (z.B. Brillen, sog. Sehhilfen), ohne die Regelleistung zu erhöhen, und bei Eltern, vor allem Alleinerziehenden, die Brutalität, daß ihre Kinder nicht zu Kindergeburtstagen können, weil das Geld für Geschenke fehlt, von der nur hälftigen Übernahme der tatsächlich entstehenden Kosten des Schulbesuchs zu schweigen.

Der Kapitalismus geht seinem Ende zu. Profit läßt sich nur noch realisieren, indem der bürgerlichen Gesellschaft im Sinne der Allgemeinheit alles genommen wird, um es einigen wenigen Reichen zu geben. Dies gilt nicht nur für die erst durch „Hartz IV“ möglich gewordenen verbreiteten prekären Arbeitsverhältnisse, der Auflösung der Flächentarifverträge zugunsten von hire-and-fire-Verträgen, im günstigsten Falle zeitlich befristeten sogenannten Werksverträgen, sondern dies gilt auch für die enorme Privatisierung der Vermögen der Allgemeinheit durch Sozialisierung der Folgen. Die Deregulierung, welche durch die regierende Politik zugunsten der herrschenden Kapitalisten gesetzlich der Allgemeinheit aufgebürdet wird, führt gerade bei den Sozialleistungen zu enormen Umverteilungen. Die Krankenversicherung dient nur noch den Kapitalinteressen der Pharmaindustrie (keine Kostendämpfung bei neuen Arzneimitteln in den ersten Jahren) und der Krankenhaus-Mafia (hohe Honorare auf Kosten unbezahlter Überstunden bzw. Personalkosteneinsparung durch Umverteilung der Arbeit auf immer weniger Arbeitskräfte); die staatliche Rentenversicherung finanziert Staatsaufgaben („Aufbau Ost“) bei gleichzeitiger direkter wie indirekter Steuersenkung für die Reichen und verschafft diesen durch Privatisierung der Rentenversicherung („Riester-Rente“) Gewinne (Versicherungen), mit der Folge des Totalverlustes für die „Rentnerinnen“ und „Rentner“ bei einem Finanzkollaps wie 2007-2009; teilweiser Ausgleich der gesenkten Steuereinnahmen zugunsten der Reichen durch Einsparung von Sozialhilfeausgaben („Hartz IV“) durch ein (zunehmend verschärftes) Sanktionssystem/Bestrafungsystem gegen diejenigen, die auf die ohnehin unrealistisch zu niedrigen der Existenzsicherung dienenden Sozialleistungen angewiesen sind.

Die Disziplinierung ist das Ziel. Nicht der oder die im Einzelfall der Sanktionierung konkret Betroffene ist das eigentliche Ziel, sondern die Drohwirkung auf die Allgemeinheit: arbeitet lieber prekär, denn wir garantieren euch, daß das aus verfassungsrechtlichen und menschenrechtlichen Gründen gegebene staatliche Existenzminimum nicht nur nicht reicht, sondern nicht sicher ist!

Und deshalb darf die Sanktion nach SGB II auch nicht mehr eine erzieherische Maßnahme gegenüber dem bzw. der Einzelnen sein, die durch individuelles Wohlverhalten entfällt, wie noch zu Zeiten der alten Sozialhilfe (§ 25 BSHG), sondern muß den Strafcharakter in den Vordergrund stellen, was nur garantiert ist, wenn die Strafe auch als solche rüberkommt. Letzteres geht nur, wenn sie individuell durch Wohlverhalten nicht beeinflußbar ist, also einen absoluten Kern hat: Mindeststrafe (§ 31b SGB II: „Der Mindestzeitraum beträgt drei Monate.“). Und genau deswegen ist die Sanktion im „Hartz IV“-System eine echte Strafe. So wie das Gefängnis (die Freiheitsstrafe) par excellence das Gegenstück zum Grundprinzip Freiheit der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ist [33], so ist der Entzug jeglicher Mittel zur Existenzsicherung – als Strafe – par excellence das Gegenstück zum Grundprinzip Geld dieser Gesellschaft.



Quellen:

  [1]   Der Kleine Stowasser, München 1971, S. 439

  [2]   LSG NRW, Urteil vom 29. Februar 2016, Az.: L 19 AS 1536/15; LSG Thüringen, Beschluß vom 19. Oktober 2015, Az.: L 4 AS 878/15 NZB; ohne konkreten Verweis: Bayerisches LSG, Beschluß vom 27. Oktober 2015, Az.: L 11 AS 561/15 NZB

  [3]   BVerfG, Beschluß vom 7. Juli 2010, Az.: 1 BvR 2556/09

  [4]   Bayerisches LSG, Beschluß vom 17. Juni 2013, Az.: L 11 AS 306/13 B ER; Bayerisches LSG, Urteil vom 30. Januar 2014, Az.: L 7 AS 84/13; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluß vom 28. November 2014, Az.: L 15 AS 338/14 B ER; ausführlich zur begrifflichen Problematik: LSG Hessen, Urteil vom 24. April 2015, Az.: L 9 AS 828/14; BSG, Urteil vom 29. April 2015, Az.: B 14 AS 19/14 R, Rdnr. 16

  [5]   BVerfG, Beschluß vom 9. Januar 2014, Az.: 1 BvR 299/13, Rdnr. 17

  [6]   BVerfG, Beschluß vom 8. Dezember 2015, Az.: 1 BvR 1864/14, Rdnr. 4

  [7]   BVerfG, Beschluß vom 23. Juni 2010, Az.: 2 BvR 105/09, 2 BvR 2559/08, 2 BvR 491/09, Rdnr. 82

  [8]   ausführlich: BVerfG, Beschluß vom 23. Juni 2010, Az.: 2 BvR 105/09, 2 BvR 2559/08, 2 BvR 491/09

  [9]   BVerfG, Az.: 2 BvL 19/91, 2 BvR 1206, 1584/91, 2601/93

[10]   BTDrs. 17/6833, S. 18

[11]   www.biaj.de – 2015-05-12_sgb2-sanktionen-int-2014.pdf

[12]   ausführlich: Karl Marx, Das Kapital Bd. I, MEW 23, Dietz Verlag Berlin 1974, S. 657-675

[13]   BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010, Az.: 1 BvL 1/09 u.a., Rdnr. 135

[14]   BTDrs. 17/10485, S. 10; wie schon der RegE vom 25. Mai 2012, BRatDrs. 313/12

[15]   Ausschußempfehlung vom 26. Juni 2012, BRatDrs. 313/1/12, S. 14

[16]   Ausschußempfehlung vom 12. Dezember 2012, BTDrs. 17/11894, S. 15

[17]   Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit, August 2005

[18]   Bundesagentur für Arbeit, Bekämpfung von Leistungsmissbrauch im SGB II 07.2009 – SP II 21, S. 7

[19]   BTDrs. 16/5009, S. 2 (Antwort der Bundesregierung zu Frage 2)

[20]   Bundesminster Wolfgang Clement in Ergänzung zu dem Report des BMWA „Vorrang für die Anständigen – Gegen Missbrauch, ‚Abzocke’ und Selbstbedienung im Sozialstaat“

[21]   Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Suhrkamp Verlag Frankfurt a.M. 1976, suhrkamp taschenbuch 2271, 1994, S. 330 ff.

[22]   Der Kleine Stowasser, München 1971, S. 160

[22a] hier nur: Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, Athenäum Verlag Königstein/Droste Verlag Düsseldorf, 1978, 1955, S. 142-156

[23]   Bundesagentur für Arbeit, Bekämpfung von Leistungsmissbrauch im SGB II 07.2009 – SP II 21, S. 10

[24]   Bundesagentur für Arbeit, Bekämpfung von Leistungsmissbrauch im SGB II 07.2009 – SP II 21, S. 14

[25]   Michel Foucault, a.a.O., S. 140

[26]   § 7 Abs. 4a SGB II

[27]   Michel Foucault, a.a.O., S. 183

[28]   Michel Foucault, a.a.O., S. 230

[29]   Ich verwende den Begriff „Angst” grundsätzlich im Sinne von Sigmund Freuds Begriff der „Real-Angst“, während die bürgerliche Psychoanlyse für das Konkrete den Begriff „Furcht“ und für das Diffuse den Begriff „Angst“ verwendet, was m.E. genau umgekehrt gehört.

[30]   Michel Foucault, a.a.O., S. 247

[31]   BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010, Az.: 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09, Rdnr. 135

[32]   http://www.zeit.de/online/2006/20/Schreiner – ursprünglich angeblich: Apostel Paulus im 2. Brief an die Thessaloniker

[33]   Michel Foucault, a.a.O., S. 296

 

 

 

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