Konditionierung durch Bestrafen: „Hartz IV“-Sanktionen
(1. Dezember 2016)
I.
Begriffsklärung
Zunächst einmal bedarf es der Klärung des Begriffes Strafe.
Strafen im juristischen Sinne sind Freiheitsstrafen,
Geldstrafen und Disziplinarstrafen.
Für jede gilt der Gesetzesvorbehalt (Art. 19 Abs. 1 GG), da
die Strafen in Grundrechte eingreifen: die Freiheitsstrafe in das
Grundrecht auf die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG), die
Geldstrafe in die Eigentumsgarantie (Art. 14 Abs. 1 GG), die Disziplinarstrafe
in das Grundrecht der freien Berufsauswahl (Art. 12 Abs. 1 GG).
Freiheitsstrafen dürfen nur anhand der Regelungen des
Strafgesetzbuches (StGB) verhängt werden. Ausnahme: die in anderen Gesetzen
geregelte Erzwingungshaft/Ordnungshaft (z.B. gegen Zeugen § 380 ZPO) etwa wenn
ein auferlegtes Ordnungsgeld nicht eintreibbar ist. Ein weiteres Beispiel
(Schuldhaft siehe Exkurs I).
Geldstrafen werden im Allgemeinen ebenfalls aufgrund des StGB
verhängt oder speziell durch das Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG).
Disziplinarstrafen werden aufgrund unterschiedlicher
gesetzlicher Regelungen verhängt: berufsständische (z.B. für Rechtsanwälte
durch die Rechtsanwaltskammern), für Beamte (durch das Beamtenrecht), für
Richter (§§ 61, 62 Abs. 1 Nr. 1 DRiG durch den Bundesgerichtshof, BGH).
Schadensersatz, materieller (Vermögensschaden) wie
immaterieller (z.B. seelischer) ist keine Strafe, sondern ein
finanzieller Ausgleich für erlittenen Schaden, wie das Wort schon sagt. Es geht
hier um die objektive Bestimmung als Ausgleich, nicht um die subjektive
Wahrnehmung als Strafe für eine nach subjektiven Maßstäben angeblich
gerechtfertigte vorherige schädigende Handlung.
Die Sanktion, welche Gegenstand dieses Artikels ist,
muß im hier dargestellten Kontext als lediglich Wort lateinischen Ursprungs für
Strafe betrachtet werden. Zwar ist der lateinische Begriff weiter gefaßt: sancio = heiligen, bestimmen, gesetzlich, strafen und sanctio =
Strafbestimmung [1], womit unsere Wörter „Sankt“ für heilig und „Sanktion“ für
Strafe zusammenhängen.
Im Deutschen ist es durchgehend üblich, gerade mehrdeutige
Wörter aus dem romanischen Sprachgebrauch (lateinisch, französisch,
italienisch) nur im pejorativen Sinne zu gebrauchen. Gleichwohl ist der
begriffliche Unterschied nicht wirklich groß, denn schon die Antike kannte ja
göttliche Strafe, sei sie polytheistisch, sei sie monotheistisch, sei es, daß
sie als „Schicksal“ (moira) über die Menschen kommt. Insofern ist der Weg von
„heilig“ oder „Bestimmung“ zu „Strafe“ nicht weit.
Die Sanktion stellt also im eigentlichen Sinne des
Wortes eine Strafe dar. So wird sie auch in der Politik gehandhabt, wenn
etwa internationale Sanktionen (Einreiseverbote, Boykotte) gegen einzelne
Länder, welche nicht „gehorchen“ wollen, verhängt werden.
II.
Die „Hartz IV“-Strafen
Die Sanktionen nach dem SGB II („Hartz IV“) seien
keine Strafe, weil eine Strafe sich aus einem Gesetz, entweder dem
Strafgesetzbuch (StGB) oder dem Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG) ergeben müsse.
Schon hier liegt bei vielen Juristen ein Denkfehler vor: wie bereits gezeigt,
können sich Strafen auch aus anderen Gesetzeswerken ergeben, es gilt nur: keine
Strafe ohne Gesetz.
Begründet wird die Auffassung, bei den „Hartz IV“-Sanktionen
mit Leistungskürzungen bis hin zum kompletten Wegfall der existenzsichernden
Leistungen handele es sich nicht um Bestrafung, einzig und allein damit, daß
der betreffenden Person ja die freie Entscheidung offen stehe, der behördlichen
Forderung nachzukommen oder aber die Sanktion hinzunehmen.
Inzwischen interpretieren manche Obergerichte
(Landessozialgerichte) [2] eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes
(BVerfG) [3] dahingehend fehl, es gäbe keine voraussetzungslosen
Unterstützungen aus dem Steuersäckel, hieße nicht nur die Anrechnung von
vorhandenem Einkommen und Vermögen, sondern auch Leistungsverweigerung bei
fehlendem Wohlverhalten. Mittlerweile ist der deutsche
Vernichtungsschreibtischtäter ideologisch sogar einen Schritt weiter gegangen:
nicht die der Existenzsicherung dienende Leistung werde gekürzt, sondern nur
der Zahlbetrag [4]. Formaljuristisch bleibt damit der Leistungsanspruch und die
Leistungsbewilligung erhalten, nur ausgezahlt bekommt man ihn nicht.
Hinnehmbar wäre das Ganze unter Berücksichtigung der
Interessen von Staat und Steuerzahler noch dann, wenn jemand, der oder die
einen konkret angebotenen sozialversicherungspflichtigen (!) Arbeitsplatz,
dessen Nettoeinkommen ausreichend oberhalb des Existenzminimums liegt,
mutwillig (!) ablehnt oder wer ohne Schulausbildung eine angebotene Schul- oder
Berufsausbildung ablehnt. Aber ein solcher Fall tritt fast gar nicht auf,
obwohl in der öffentlichen Darstellung immer so getan wird, als sei dies das
Problem.
Was wirklich auftritt, von den reinen Meldeversäumnissen abgesehen,
ist die Verweigerung absurder, teils menschenverachtender sogenannter
Maßnahmen, welche willkürlich von unqualifiziertem Behördenpersonal im
Gießkannenprinzip über die Arbeitslosen verteilt werden. Und damit meine ich
nicht z.B. Qualifizierungsprogramme wie das Lernen des Umgangs mit dem Computer
(PC). Was ich meine sind Maßnahme-Programme, wie jenes, wonach ich selber
sanktioniert wurde, wo ich als Deutschlehrer lernen sollte, mich zu bewerben,
und wo ich trotz des einstigen Computerkurses und trotz des Betreibens einer
eigenen website lernen sollte, wie man sich Stellenangebote aus dem Internet
holt.
Die Bestrafung besteht eben darin, daß jede
Gehorsamsverweigerung (aus Menschenwürde), jede Unbotmäßigkeit zur Reduzierung
der ohnehin schon nicht realistisch berechneten Existenzminimum-Mittel führt. Strafe
ist auch insofern der richtige Begriff, weil im Gegensatz zu § 25 BSHG (alte
Sozialhilfe) die volle Leistung nicht ab Verhaltensänderung einsetzt, sondern
wie eine Gefängnisstrafe im Regelfall drei Monate zu erleiden ist auch trotz
Verhaltensänderung. Die Strafe sanktioniert dabei ein bestimmtes
Verhalten (Auslöser) über eine bestimmte Zeitdauer (Dauer der Strafe). Nur weil
die Bestrafung im „Hartz IV“-Gesetz und nicht im
Strafrecht oder Ordnungswidrigkeitengesetz gesetzlich verankert ist,
unterscheidet sie sich nicht von einer Geldstrafe nach StGB oder OWiG.
Eine Sanktion im strafrechtlichen Sinne muß aber vom Gesetzgeber,
der allein dazu befugt ist, im StGB verankert sein; dies gilt erst recht für
die Einschränkung von Grundrechten (cf. § 132 OWiG):
„Würde die Entscheidung
über die Sanktionierung eines Verhaltens der vollziehenden oder der
rechtsprechenden Gewalt überlassen, so wäre dies unvereinbar mit dem Prinzip
des Grundgesetzes, dass die Entscheidung über die Beschränkung von Grundrechten
oder über die Voraussetzung einer Beschränkung dem Gesetzgeber und nicht den
anderen staatlichen Gewalten obliegt (…).“ [5]
„Insoweit enthält Art. 103
Abs. 2 GG einen strengen Gesetzesvorbehalt, der es der vollziehenden und der
rechtsprechenden Gewalt verwehrt, die normativen Voraussetzungen einer
Bestrafung oder einer Verhängung von Geldbußen festzulegen (…).“ [6]
„Insoweit enthält Art. 103
Abs. 2 GG einen strengen Gesetzesvorbehalt, der es der vollziehenden und der
rechtsprechenden Gewalt verwehrt, die normativen Voraussetzungen einer
Bestrafung festzulegen (…). Der Gesetzgeber übernimmt mit der Entscheidung über
strafwürdiges Verhalten die demokratisch legitimierte Verantwortung für eine
Form hoheitlichen Handelns, die zu den intensivsten Eingriffen in die
individuelle Freiheit zählt; es ist eine grundlegende Entscheidung, in welchem
Umfang und in welchen Bereichen ein politisches Gemeinwesen gerade das Mittel
des Strafrechts als Instrument sozialer Kontrolle einsetzt (…).“ [7]
§ 63 und § 63a SGB II regeln gesondert Bußgeldvorschriften,
§ 63b SGB II sogar Strafvorschriften im Hinblick auf datenschutzrechtliche
Vergehen. Warum sind also die §§ 31 ff. SGB II mit „Sanktionen“ überschrieben
und nicht wie die §§ 63 ff. SGB II mit „Straf- und Bußgeldvorschriften“?
Aber es kommt im Recht ja nicht auf die Betitelung, sondern
auf den Regelungsgehalt an.
Hierbei darf sich der Gesetzgeber durchaus sogenannter
„unbestimmter Rechtsbegriffe“ bedienen [8].
Die Frage, die aber ungeklärt ist, lautet, ob der
Gesetzgeber gerade bei der Existenzsicherung dienenden Leistungen einen Zustand
durch fehlende Begriffsbestimmung und fehlende rechtliche Regelung derart offen
lassen darf, daß jede Sachbearbeiterin und jeder Sachbearbeiter in eigener
Willkür, höchstens eingeschränkt durch nicht schriftlich fixierte Vorgaben der
Verwaltungshierarchie, darüber bestimmen darf, was eine geeignete Maßnahme ist
und wann sanktioniert werden darf. So hat es der Gesetzgeber bewußt so gehalten
– generell ist das SGB II gegenüber dem alten BSHG ein unbestimmtes
Wischi-waschi-Gesetz –, daß der persönlich zugeordnete Ansprechpartner für die
Eingliederung in den Arbeitsmarkt keinerlei Qualifikationen aufweisen muß, was
sich insbesondere bei den geradezu strafgeilen Optionskommunen dahingehend
auswirkt, daß hier nicht einmal Personen tätig sind, die wenigstens über die
praktische Erfahrung von Arbeitsvermittlern vom Arbeitsamt (Arbeitsagentur)
verfügen. Hier dürfen Leute, deren einzige Qualifikation das richtige
Parteibuch ist, nicht nur ihren Unverstand, sondern ihre ganze Menschenverachtung
an hilfebedürftigen Menschen austoben. Selbst das Bundessozialgericht bekommt
es nicht hin, per richterlicher Rechtsauslegung die Willkür zu entschärfen: so
müssen nach BSG, Urteil vom 14. Februar 2013, Az.: B 14 AS 195/11 R die
Eingliederungsvereinbarungen (EGV) ausgehandelt werden, bevor sie als
Verwaltungsakt im Falle eines Dissenses erlassen werden dürfen, während nach
BSG, Urteil vom 22. September 2009, Az.: B 4 AS 13/09
R es eine reine Opportunitätsentscheidung der Verwaltung sei, wie sie es handhaben
wolle. Nach letztgenannter höchstrichterlicher Entscheidung besteht nicht
einmal Anspruch auf einen qualifizierten Ansprechpartner, eine qualifizierte
Ansprechpartnerin. Hier liegt ganz klar ein Verstoß gegen den aus dem Willkürverbot
des Art. 3 Grundgesetz abgeleiteten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vor [9].
Der maximalen Strafe (Entzug des Existenzminimums inklusive
Krankenversicherungsschutz) steht für die Betroffenen nicht einmal das Recht
auf qualifiziertes Vermittlerpersonal gegenüber – damit ist der absoluten
Willkür Tür und Tor geöffnet.
In den ersten fünf Jahren von „Hartz IV“ betrug die
Erfolgsquote derjenigen Hilfebedürftigen, die den Mut zu einer
sozialgerichtlichen Klage hatten, immerhin zwischen 40 % und 65 % [10]. 2014
wurde erstmals die Millionengrenze an Sanktionen überschritten, wovon knapp
eine halbe Million sogenannte arbeitsfähige Leistungsempfängerinnen und
-empfänger betroffen waren [11].
Zur Strafe gehört die Schuld
Das bürgerliche Rechtssystem unterscheidet sich von
vorhergehenden Rechtssystemen dadurch, daß an die Stelle der Willkür, sei es in
der Antike im Verhältnis Bürger zu Sklave, sei es im Feudalismus im Verhältnis
ideologisch behaupteter gottgewollter Herrschaft Adel zu Bauer, und damit an
die Stelle der Rache die gesetzmäßige Strafe trat. Egalité, in der
Französischen Revolution im gemeinen Volk verstanden als die Gleichheit aller
Menschen hatte sich schon ab 1791, zur Zeit der Deklaration der allgemeinen
Menschenrechte, zu jener Form pervertiert, die ihr von Anfang an als
Möglichkeit innewohnte: die Gleichheit vor dem Gesetz. Nur der Vollständigkeit
halber: die einzig nicht widersprüchlich interpretierbare Parole der
Französischen Revolution, Fraternité, wurde 1791 ersetzt durch die
Parole „Sicherheit und Eigentum“.
Nun besteht also die Schuld des „Hartz
IV“-Empfängers, der „Hartz IV“-Empfängerin in einer doppelten.
Zum Einen besteht die Schuld in der Arbeitslosigkeit.
Nirgendwo besser als in Deutschland kann den Individuen eingeredet werden, sie
wären an ihrer Arbeitslosigkeit selbst schuld. Und mir fallen auch spontan
keine anderen Länder und Kulturen ein, in denen der Wert eines Menschen fast
ausschließlich über Arbeit definiert ist. Hier haben drei Jahrhunderte preußische
Knute „ganze Arbeit geleistet“. Dabei soll die Rolle des Protestantismus –
Luther: „ora et labora“ („bete und arbeite“) – nicht kleingeredet
werden; sie hängt damit zusammen. Und, ich verweise in diesem Zusammenhang ganz
allgemein auf die Funktion der Arbeitslosen als lohndrückende ‚Reservearmee’ im
Kapitalismus [12].
Zum Anderen besteht die Schuld des „Hartz
IV“-Empfängers, der „Hartz IV“-Empfängerin darin, daß er oder sie nicht
amöbenhaft gehorcht, sondern, sozial geprägt durch die deutsche Nachkriegszeit
(nach 1945) nicht nur die Schnauze voll hat von „führen und gehorchen“, sondern
sich als Folge der 1968er-Zeit als Individuum mit eigenen Ansprüchen empfindet.
Grundsätzlich, rein theoretisch, untermauert durch die
Rechtsprechung des BVerfG [13] besteht das Existenzminimum nicht ausschließlich
aus dem physischen Existenzminimum von Nahrung, Bekleidung, Behausung, sondern
ist ein sogenanntes sozio-kuluturelles Existenzminimum, welches auch
Arbeitslose als Menschen mit dem Bedürfnis menschlicher Kontakte und
gesellschaftlicher Aktivitäten betrachtet.
Daß diese „Hartz IV“-spezifische Schuld tatsächlich,
aus Sicht der Juristen und Bürokraten, die ürbigens ihren eigenen Arbeitsplatz
in der Regel nur dem Parteibuchklüngel verdanken, existiert, sei an zwei
Beispielen (Exkurs I und II) verdeutlicht.
Exkurs I: Versuchte
Wiedereinführung der Schuldhaft
2013 unternahm die
Bundesregierung den Versuch, die im 19. Jahrhundert abgeschaffte Schuldhaft
wieder einzuführen – im Mietrecht und auf „Hartz IV“-Empfängerinnen und
-empfänger gemünzt.
So sah der Gesetzentwurf der
Bundesregierung vom 15. August 2012 [14] im neu geschaffenen § 283a Abs. 2 ZPO
vor: „Der Beklagte hat die Sicherheitsleistung binnen einer vom Gericht zu
bestimmenden Frist nachzuweisen. Befolgt der Beklagte die Sicherungsanordnung
nicht, setzt das Gericht gegen ihn auf Antrag des Klägers ein Ordnungsgeld und
für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden kann, Ordnungshaft fest.
Verspricht die Anordnung des Ordnungsgeldes keinen Erfolg, kann das Gericht
Ordnungshaft anordnen.“
Da die sog. Mietnomaden, die
ja die Miete bezahlen können, es aber nicht tun, bereits vom Betrugsparagraphen
263 StGB abgedeckt sind, konnte dieses – die Gesetzesformulierung „Ordnungsgeld
und für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden kann“ weist
eindeutig darauf hin – nur auf „Hartz IV“-Empfängerinnen und -empfänger gemünzt
sein, deren Unterkunftskosten die Jobcenter aus eigenen fiskalischen
Interessen zu niedrig als „angemessen“ bestimmen und damit erst Räumungsklagen
geradezu erzwingen, wenn man nicht hungern will.
So fand der Bundesrat auch
deutliche Worte in Richtung Bundesregierung: „Die Schuldhaft wurde bereits
im 19. Jahrhundert abgeschafft. Besonders bedenklich ist dabei, dass § 283a
Absatz 2 Satz 2 ZPO (…) keinerlei Ermessen des Gerichts vorsieht, nicht einmal
für den Fall unverschuldeter Leistungsunfähigkeit des Beklagten und für den
Fall, dass dieser gar keine Möglichkeit hat, die Zwangsmittel abzuwenden. ...
Auch in vielen Fällen, in denen der Betroffene auf öffentliche Hilfeleistungen
angewiesen ist, hat er es gerade nicht allein in der Hand, ob und wie schnell
eine öffentliche Stelle zur Sicherheitsleistung oder zur Abgabe einer
Verpflichungserklärung bereit und rechtlich überhaupt in der Lage ist ... .“ [15]
Dies führte dann letztlich
zur Streichung der entsprechenden Passagen im Regierungsentwurf auf Empfehlung
des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages [16].
Exkurs II: Versuchte
Kriminalisierung
„Vorrang für die
Anständigen – Gegen Missbrauch, ‚Abzocke’ und Selbstbedienung im Sozialstaat“ [17]
Aus dem Text: „Jeder Euro,
der am Arbeitsmarkt ‚abgezockt’ wird, steht für sinnvolle Unterstützung nicht
mehr zur Verfügung. Leistungsmissbrauch ist also kein Kavaliersdelikt, sondern
Betrug an all denen, die Hilfe wirklich brauchen, und an Millionen Menschen,
die ihre Steuern und Sozialabgaben ehrlich entrichten und die sich auf diesen
Staat verlassen können müssen, wenn es einmal ernst wird. Das gilt gerade für
Bezieher kleinerer Arbeitseinkommen, deren Netto manchmal nicht weit über der
Höhe der Sozialleistungen liegt.“
Da wird offene
Progromstimmung gegen „Hartz IV“ beziehende Menschen gemacht, so als seien
diese selbst schuld an ihrem „Hartz IV“-Bezug und nicht die kapitalistische
Wirtschaftsordnung, die Arbeitslose als lohnsenkende Reservearmee systemisch
benötigt und sie als Abfallprodukt von Überproduktionskrisen permanent
produziert.
Derselbe Staat, der hier
diejenigen, „die ihre Steuern und Sozialabgaben ehrlich entrichten“
anführt, nachdem er durch Deregulierungen in den 1990er und Anfang der 2000er
Jahre die Steuersätze für die Reichen drastisch gesenkt hat, hat bald darauf
(2008 ff.) kein Problem damit, mal eben binnen einer Woche per Telefonkonferenz
100 Mrd. Euro zur HRE-Bankenrettung zu verschleudern, 20 Mrd. Euro für die
Commerzbankrettung auszugeben und ca. 200 Mrd. Euro für einen europäischen
Hilfsfonds, der angeblich Länder wie Griechenland vor der Pleite retten soll,
in Wirklichkeit aber nur der Rettung deutscher und französischer Banken dient.
Wo bleibt da der Ruf nach „ordentlichem“ Umgang mit Steuergeldern?!
Derselbe Staat, der mit
„Hartz IV“ erst jene prekären Arbeitsverhältnisse ermöglichte, wo Menschen
10-12 Stunden am Tag und auch samstags arbeiten, um mit einem Arbeitslohn netto
von nicht mehr als ein „Hartz IV“-Single bekommt (750 Euro Regelleistung,
Unterkunft, Heizung + 150 Euro [100 Euro seit 2016] Kranken- und
Pflegeversicherung = 900 Euro) nach Hause zu gehen, um für die Reichen und die
obere Mittelschicht in Deutschland nicht nur auf Kosten z.B. der dänischen und
belgischen Fleischindustrie, sondern vorallem der südeuropäischen Staaten als
Billiglohnland die deutsche Exportindustrie anzukurbeln. Dieser selbe Staat
spielt jene prekär Beschäftigten, die erst durch „Hartz IV“ möglich wurden
gegen jene aus, die „Hartz IV“ zur Deckung ihres Existenzminimums benötigen. Hat
dieser selbe Staat nicht vergessen, im gleichen Atemzug zu erwähnen, daß erst „Hartz
IV“ das große Aufstocker-Spiel zugunsten eingesparter Löhne und damit höherer
Profite bei den Kapitalisten möglich gemacht hat?! Erwähnt seien das
Einstiegsgeld (früher § 29 SGB II, jetzt § 16b SGB II), das den
Hilfebedürftigen prekäre Arbeitsverhältnisse schmackhaft machen soll, und seit
2008 die Arbeitsförderung/Lohnsubventionierung nach § 16e SGB II (vorher § 16a
SGB II), die eine direkte Finanzierung von Lohnanteilen (bis zu 75 % des
Arbeitsentgeltes) an den Arbeitsgeber darstellt.
Und wie sieht die
statistische Realität aus?
Laut „Bekämpfung von
Leistungsmissbrauch im SGB II 07.2009 – SP II 21“ der Bundesagentur für
Arbeit lag die „potentielle Mißbrauchsquote“ (Verhältnis tatsächliche und
potentielle Mißbrauchsfälle zur Anzahl der Hilfebedürftigen) im 1. Hj. 2008 bei
0,9 %, im 1. Hj. 2009 bei 1,0 % [18]. 2006 (ganzes Jahr) lag die Mißbrauchsquote
laut Mitteilung der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage bei 2,7 %
[19]. Das entspricht der allgemeinen Kriminalitätsrate, war also zu erwarten
und stellt keinen Grund für gesondertes bashing von „Hartz
IV“-Empfängerinnen und -empfängern dar.
„Wir setzen unseren Kurs
zur Bekämpfung der hohen Arbeitslosigkeit fort und verhindern den Missbrauch
von Sozialleistungen“ [20] Hier wurde
bereits ein halbes Jahr nach Inkrafttreten von „Hartz IV“ eine Kürzungswelle
eingeläutet, die bis heute ununterbrochen anhält. Stichworte: U-25
(Entmündigung junger Erwachsener, „Hotel-Mama“-Zwang), „faktische Stiefkinder“
(Einkommensanrechnung auf fremde Kinder trotz fehlenden zivilrechtlichen
Unterhaltsanspruchs), Konstruierung eheähnlicher Gemeinschaften zwecks
Einkommensanrechnung beim bedürftigen „Partner“ etc.
Willkürliche Bestrafung wie noch zu Zeiten der
absolutistischen Herrscher ist seit der Französischen Revolution nicht mehr
möglich. Der bürgerliche Rechtsstaat verlangt das Vorliegen eines
Handlungsgrundes als Berechtigung für eine gesetzliche Strafe. Und hier greift
die ideologisch notwendige Kriminalisierung von ganzen Bevölkerungsschichten in
der Öffentlichkeit ein als self-fulfilling-prophecy.
Zur Strafe gehört der bzw. die Schuldige
Mit der Abschaffung der Willkür, mit der Einführung
rechtsstaatlicher Methoden [21] wurde auch der Delinquent notwendig. Delinquo
heißt im Lateinischen sich vergehen, (etwas) verschulden. Die Tat, das delictum
ist das Vergehen, die Schuld des- bzw. derjenigen Person [22]. Hier wird aus
der Begrifflichkeit noch die stark moralisch gefärbte Betrachtung und
Beurteilung deutlich, die sich im bürgerlichen Rechtsstaat zum Verbrechen (geringer:
Vergehen) im Sinne des Gesetzes verselbständigt und damit verabsolutiert.
Die Willkür des absolutistischen Herrschers läßt noch
Beifalls- bzw. Mißfallsbekundungen der Bevölkerung zu, die entmenschlichte gesetzliche
Strafe nicht mehr. Sie entzieht die Schuldigen (Delinquenten) zum
einen dem Blick der Öffentlichkeit, mit Ausnahme der öffentlichen
Gerichtsverhandlung, zum anderen dämmt sie das Interesse, weil die Bestrafung
nicht mehr öffentlich zur Schau gestellt wird wie bei der mittelalterlichen
Folter oder dem öffentlichen Karzer zum Bespucken oder dem späteren offenen
Räderwagen.
Warum dann nicht einfach die behördliche Bestrafung? Warum
dann diese öffentliche staatliche Hetzjagd?
Weil es (siehe Exkurs II) quasi keine Delinquenten
gibt, von Einzelfällen abgesehen.
Um eine menschenverachtende Bestrafung durch Leistungsentzug
existenzsichernder Leistungen öffentlich begründbar zu machen, müssen
Stimmungen erzeugt werden. Nicht bei den Reichen, die grinsen nur angesichts
der Sozialeinsparungen zugunsten der ihnen nützlichen Steuereinsparungen. Nein,
Adressat dieser Menschenjagd sind gerade jene, die bereits „freiwillig“
oberhalb der gesetzlich festgelegten Arbeitszeitregelungen arbeiten für einen
Lohn, der gerade „Hartz IV“-Niveau erreicht. Eigentlich könnten solche Leute
als dumm bezeichnet werden, ja vielmehr müßten sie als asozial bezeichnet
werden, weil sie durch ihr Verhalten gerade jene geschaffenen Zustände stützen,
mit denen immer mehr Menschen aus regulären, sozialversicherungspflichtigen
Vollzeitarbeitsplätzen katapultiert und immer mehr spätere arme
Rentnerinnen und Rentner geschaffen werden. Zum anderen ist das Ziel die untere
Mittelschicht, die schon wie 1930-1932 in der Weltwirtschaftskrise nach dem
Börsenkrach von 1929 – die Kleinbürger, die Bauern, Handwerker, niederen
Angestellten und Beamten waren die Wähler von Hitlers NSDAP, nicht so sehr die
Arbeitslosen [22a] –, verängstigt, ihr kleines selbsterarbeitetes Eigentum zu
verlieren und sozial in ihren Augen abzusteigen, ein Ventil benötigt. Einzig
und allein die Einbindung in Europa und die moderne Rechtsstaatlichkeit, aber
auch die ideologische Verblendung der Bevölkerungsmehrheit aktuell im Hinblick
auf (Kriegs-)Flüchtlinge verhindern derzeit, daß es tatsächlich zu Progromen
gegen „Hartz IV“-Menschen kommt.
Es ist bezeichnend, daß Kapitalisten, die das „Hartz
IV“-System zum Abzocken staatlicher Sozialgelder nutzen, im Sprachgebrauch der
Bundesagentur für Arbeit „schwarze Schafe“ heißen [23], während „Hartz
IV“-Empfängerinnen und -empfänger, die zu Unrecht staatliche Sozialleistungen
erheischen, „Parasiten“ [24] genannt werden: „Biologen verwenden für
‚Organismen, die zeitweise oder dauerhaft zur Befriedigung ihrer
Nahrungsbedingungen auf Kosten anderer Lebewesen – ihren Wirten – leben’,
übereinstimmend die Bezeichnung ‚Parasiten’.“ Wohlgemerkt: dies steht in
einer staatlichen Broschüre des damaligen Bundesministeriums für Wirtschaft und
Arbeit, dessen Chef der damalige SPD-Minister Wolfgang Clement war. Die
Wortwahl erinnert wohl mit Absicht an einen Film über die Juden („Der ewige
Jude“, 1940) während der Nazi-Herrschaft in Deutschland.
Wie kann also jemand unschuldig sein, der oder die wie ein
Parasit von der Allgemeinheit lebt (früher: Volksgemeinschaft, heute:
Steuerzahler)?
Mit dieser öffentlich betriebenen Hetze sollen die
hilfebedürftigen Menschen demoralisiert, dem Kleinbürgertum ein Ventil für
seine begründete Verlustangst und dem Staat ein Rechtfertigungsgrund für seine
gegen die verfassungsrechtlich garantierte Menschenwürde verstoßende
Sozialpolitik zulasten der Bedürftigen und zugunsten der Kapitalisten (wie
finanziert der Staat Steuersenkungen?!) geschaffen werden.
Bei den „Hartz IV“-Sanktionen wird aber nicht die „Faulheit“
des angeblich dem Steuerzahler Auf-der-Tasche-Liegens bestraft, sondern der Akt
der Rebellion gegen die Obrigkeit und ihre Willkür – vor allem – der Verhängung
sinnloser Maßnahmen. Nicht der Mensch steht im Mittelpunkt (Sozialhilfe =
soziale Hilfe), sondern der Delinquent (Faulheit). Schon das Konstrukt
der sog. Ein-Euro-Jobs ist nicht ausschließlich vom kapitalistischen Nutzdenken
bestimmt, sondern erinnert an die Zwangsarbeit von Gefängnisinsassen:
öffentliche Arbeiten als Strafe [25].
Dazu gehört die Disziplin der Klausur via
Anwesenheitspflicht [26]. Es geht wie bei Strafgefangenen um die Kontrolle von
An- und Abwesenheitszeiten [27].
Und, vor allem, geht es um eine Sub-Justiz [28],
welche den Raum erfaßt der vom Gesetz bewußt übergangen wird, um willkürlich
sinnlose Maßnahmen zu verhängen, bei nicht Befolgung das Existenzminimum
einzukürzen und so Angst [29] zu erzeugen und die Menschen gefügig zu machen.
Es geht nicht um die Nutzung der Fähigkeiten des Individuum, sondern um die
Dressur zur geheimen Planerfüllung mit Hilfe der Überwachung und
Sanktionierung, wie dies Michel Foucault für das Gefängnissystem beschreibt [30].
Internalisierung der Machtinteressen im Individuum: Die im Gesetz allgemein
enthaltene Drohung mit der Sanktion verängstigt die Meisten derart, daß sie
sich selbst dressieren und drangsalieren – die Macht spart Arbeit und Zeit und
Geld für Arbeitskräfte. Und wie die psychische Verinnerlichung der Strafgewalt
der Peiniger durch die Opfer als etwas Positives, so findet auch hier diese
individuelle Verinnerlichung statt („Sitzt man nicht den ganzen Tag untätig auf
dem Sofa rum“). Die Unbotmäßigen werden dagegen bestraft bis zur physischen
Existenzvernichtung (100%-Sanktion).
Woher kommt diese behördliche Bestrafungsgeilheit?
Hier muß vom Ende her gedacht werden, um eine korrekte
Antwort zu finden.
Und, es gibt zwei Enden: erstens die Finanzierung der
Steuernachlässe für die Reichen und damit Mindereinnahmen des Staates durch die
Verminderung der staatlichen Ausgaben durch Sozialabbau (Sozialisierung der
Kosten bei Privatisierung der Gewinne) und zweitens das ideologische Ventil
zwecks Stillhaltepolitk für die sog. Mittelschicht, jene Kleinbürger, die noch
ein Eigenheim, noch einen SUV ihr Eigen nennen können, aber beruflich immer am
Rande des Wohlstandsverlustes stehen. Deshalb ist es ja auch so wichtig, daß
die „Es-ändert-sich-nichts-Politik“ eine überzeugende Vertreterin gefunden hat:
Bundeskanzlerin Angela Merkel, die wie kein andere/r Politiker/in, trotzdem der
Karren immer weiter gen Abgrund rast, dem Wahlvolk – die nicht wählenden „Hartz
IV“-Empfängerinnen und -empfänger sind nicht das Ziel – vermittelt: solange ich
nichts tue als Kanzlerin, solange bleibt alles, wie es ist. Merkel wird in der
Öffentlichkeit nicht umsonst „Mutti“ genannt – wie eine Mutter symbolisiert sie
für das Kind, den Mittelklasse-Bürger, Geborgenheit. So komisch das klingt,
aber Adressat der „Hartz IV“-Sanktionen sind nicht die betroffenen „Hartz
IV“-Empfängerinnen und -empfänger, sondern die noch zur Wahl gehende und was zu
verlieren habende Mittelklasse. Und zu welcher rassistischen Dummheit die fähig
sind, haben sie nicht nur in den 1930er Jahren zur Schau gestellt. AfD, Pegida
sind das Pendant der heutigen Zeit.
III.
Fazit
Es geht bei den „Hartz IV“-Sanktionen nicht in erster Linie
um die Bestrafung des bzw. der einzelnen Betroffenen, obwohl es individuell
betrachtet eine solche ist, sondern es geht dabei um das gesellschaftliche Projekt
der Disziplinierung. Ziel ist nicht der oder die Einzelne, Ziel ist die
Gesellschaft.
Es geht um die Disziplinierung der Armen mit Hilfe
eines komplexen und daher kompliziert erscheinenden Sozialsystems, welches
gerade die reine physische Existenz garantiert, obwohl es ständig
behauptet, „sozio-kulturelles Existenzminimum“ [31] zu sein.
Es geht um die Disziplinierung der Arbeitenden mit
Hilfe eben der Existenz dieses Sozialsystems, welches einen zwar nicht
verhungern läßt, wie das Gefängnis einen Gefangenen nicht verhungern läßt,
welches sogar ein Dach über dem Kopf garantiert, wie das Gefängnis den
Gefangenen vor den Unbillen der Witterung schützt, als Drohung der
Reduzierung auf den nackten Körper bei Unbeugsamkeit.
Es geht um die Disziplinierung aller mit Hilfe des
Generalverdachts, welcher versucht, das feudale Rechtsverständnis vor der
Französischen Revolution wieder gesellschaftsfähig zu machen (siehe Exkurs I
und II). „Nur wer arbeitet, soll auch essen“, so 2006 der damalige
Bundesarbeitsminister Franz Müntefering (SPD) [32]. Da heute aber zumindest im
europäischen Kulturkreis niemand mehr verhungern soll (physisch), wird die
seelische Variante bevorzugt: am 20. eines Monats ist die Regelleistung
aufgebraucht, unter anderem auch weil die „Hartz IV“-Empfängerinnen und
-empfänger von der EEG-Umlage, die viele Kapitalisten nicht bezahlen, nicht
befreit sind, weil immer mehr medizinische Leistungen gekappt werden (z.B.
Brillen, sog. Sehhilfen), ohne die Regelleistung zu erhöhen, und bei Eltern,
vor allem Alleinerziehenden, die Brutalität, daß ihre Kinder nicht zu
Kindergeburtstagen können, weil das Geld für Geschenke fehlt, von der nur
hälftigen Übernahme der tatsächlich entstehenden Kosten des Schulbesuchs zu
schweigen.
Der Kapitalismus geht seinem Ende zu. Profit läßt sich nur
noch realisieren, indem der bürgerlichen Gesellschaft im Sinne der
Allgemeinheit alles genommen wird, um es einigen wenigen Reichen zu geben. Dies
gilt nicht nur für die erst durch „Hartz IV“ möglich gewordenen verbreiteten
prekären Arbeitsverhältnisse, der Auflösung der Flächentarifverträge zugunsten
von hire-and-fire-Verträgen, im günstigsten Falle zeitlich befristeten
sogenannten Werksverträgen, sondern dies gilt auch für die enorme
Privatisierung der Vermögen der Allgemeinheit durch Sozialisierung der Folgen. Die
Deregulierung, welche durch die regierende Politik zugunsten der
herrschenden Kapitalisten gesetzlich der Allgemeinheit aufgebürdet wird, führt
gerade bei den Sozialleistungen zu enormen Umverteilungen. Die
Krankenversicherung dient nur noch den Kapitalinteressen der Pharmaindustrie
(keine Kostendämpfung bei neuen Arzneimitteln in den ersten Jahren) und der
Krankenhaus-Mafia (hohe Honorare auf Kosten unbezahlter Überstunden bzw.
Personalkosteneinsparung durch Umverteilung der Arbeit auf immer weniger
Arbeitskräfte); die staatliche Rentenversicherung finanziert Staatsaufgaben
(„Aufbau Ost“) bei gleichzeitiger direkter wie indirekter Steuersenkung für die
Reichen und verschafft diesen durch Privatisierung der Rentenversicherung
(„Riester-Rente“) Gewinne (Versicherungen), mit der Folge des Totalverlustes
für die „Rentnerinnen“ und „Rentner“ bei einem Finanzkollaps wie 2007-2009;
teilweiser Ausgleich der gesenkten Steuereinnahmen zugunsten der Reichen durch
Einsparung von Sozialhilfeausgaben („Hartz IV“) durch ein (zunehmend
verschärftes) Sanktionssystem/Bestrafungsystem gegen diejenigen, die auf die
ohnehin unrealistisch zu niedrigen der Existenzsicherung dienenden
Sozialleistungen angewiesen sind.
Die Disziplinierung ist das Ziel. Nicht der oder die
im Einzelfall der Sanktionierung konkret Betroffene ist das eigentliche Ziel,
sondern die Drohwirkung auf die Allgemeinheit: arbeitet lieber prekär, denn wir
garantieren euch, daß das aus verfassungsrechtlichen und menschenrechtlichen
Gründen gegebene staatliche Existenzminimum nicht nur nicht reicht, sondern
nicht sicher ist!
Und deshalb darf die Sanktion nach SGB II auch nicht
mehr eine erzieherische Maßnahme gegenüber dem bzw. der Einzelnen sein, die
durch individuelles Wohlverhalten entfällt, wie noch zu Zeiten der alten
Sozialhilfe (§ 25 BSHG), sondern muß den Strafcharakter in den Vordergrund
stellen, was nur garantiert ist, wenn die Strafe auch als solche
rüberkommt. Letzteres geht nur, wenn sie individuell durch Wohlverhalten nicht
beeinflußbar ist, also einen absoluten Kern hat: Mindeststrafe (§ 31b SGB II:
„Der Mindestzeitraum beträgt drei Monate.“). Und genau deswegen ist die Sanktion
im „Hartz IV“-System eine echte Strafe. So wie das Gefängnis (die
Freiheitsstrafe) par excellence das Gegenstück zum Grundprinzip Freiheit der
bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ist [33], so ist der Entzug jeglicher
Mittel zur Existenzsicherung – als Strafe – par excellence das
Gegenstück zum Grundprinzip Geld dieser Gesellschaft.
Quellen:
[1] Der Kleine Stowasser, München 1971, S. 439
[2] LSG
NRW, Urteil vom 29. Februar 2016, Az.: L 19 AS 1536/15; LSG Thüringen, Beschluß
vom 19. Oktober 2015, Az.: L 4 AS 878/15 NZB; ohne konkreten Verweis:
Bayerisches LSG, Beschluß vom 27. Oktober 2015, Az.: L 11 AS 561/15 NZB
[3] BVerfG,
Beschluß vom 7. Juli 2010, Az.: 1 BvR 2556/09
[4]Bayerisches
LSG, Beschluß vom 17. Juni 2013, Az.: L 11 AS 306/13 B ER; Bayerisches LSG,
Urteil vom 30. Januar 2014, Az.: L 7 AS 84/13; LSG Niedersachsen-Bremen,
Beschluß vom 28. November 2014, Az.: L 15 AS 338/14 B ER; ausführlich zur
begrifflichen Problematik: LSG Hessen, Urteil vom 24. April 2015, Az.: L 9 AS
828/14; BSG, Urteil vom 29. April 2015, Az.: B 14 AS 19/14 R, Rdnr. 16
[5]BVerfG,
Beschluß vom 9. Januar 2014, Az.: 1 BvR 299/13, Rdnr. 17
[6]BVerfG, Beschluß vom 8. Dezember 2015, Az.: 1
BvR 1864/14, Rdnr. 4
[7] BVerfG, Beschluß vom 23. Juni 2010, Az.: 2
BvR 105/09, 2 BvR 2559/08, 2 BvR 491/09, Rdnr. 82
[8] ausführlich:
BVerfG, Beschluß vom 23. Juni 2010, Az.: 2 BvR 105/09, 2 BvR 2559/08, 2 BvR
491/09
[12] ausführlich:
Karl Marx, Das Kapital Bd. I, MEW 23, Dietz Verlag Berlin 1974, S. 657-675
[13] BVerfG, Urteil
vom 9. Februar 2010, Az.: 1 BvL 1/09 u.a., Rdnr. 135
[14]BTDrs. 17/10485, S. 10; wie schon der RegE vom
25. Mai 2012, BRatDrs. 313/12
[15] Ausschußempfehlung
vom 26. Juni 2012, BRatDrs. 313/1/12, S. 14
[16] Ausschußempfehlung
vom 12. Dezember 2012, BTDrs. 17/11894, S. 15
[17] Bundesministerium
für Wirtschaft und Arbeit, August 2005
[18] Bundesagentur
für Arbeit, Bekämpfung von Leistungsmissbrauch im SGB II 07.2009 – SP II 21, S.
7
[19] BTDrs. 16/5009,
S. 2 (Antwort der Bundesregierung zu Frage 2)
[20]Bundesminster Wolfgang Clement in Ergänzung zu
dem Report des BMWA „Vorrang für die Anständigen – Gegen Missbrauch, ‚Abzocke’
und Selbstbedienung im Sozialstaat“
[21]Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die
Geburt des Gefängnisses, Suhrkamp Verlag Frankfurt a.M. 1976, suhrkamp
taschenbuch 2271, 1994, S. 330 ff.
[22] Der Kleine
Stowasser, München 1971, S. 160
[22a] hier nur: Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der
Weimarer Republik, Athenäum Verlag Königstein/Droste Verlag Düsseldorf, 1978,
1955, S. 142-156
[23] Bundesagentur
für Arbeit, Bekämpfung von Leistungsmissbrauch im SGB II 07.2009 – SP II 21, S.
10
[24]Bundesagentur für Arbeit, Bekämpfung von
Leistungsmissbrauch im SGB II 07.2009 – SP II 21, S. 14
[25] Michel Foucault, a.a.O., S. 140
[26]§ 7
Abs. 4a SGB II
[27]Michel
Foucault, a.a.O., S. 183
[28] Michel Foucault, a.a.O., S. 230
[29]Ich verwende den Begriff „Angst” grundsätzlich
im Sinne von Sigmund Freuds Begriff der „Real-Angst“, während die bürgerliche
Psychoanlyse für das Konkrete den Begriff „Furcht“ und für das Diffuse den
Begriff „Angst“ verwendet, was m.E. genau umgekehrt gehört.
[30]Michel
Foucault, a.a.O., S. 247
[31] BVerfG, Urteil
vom 9. Februar 2010, Az.: 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09, Rdnr. 135
[32] http://www.zeit.de/online/2006/20/Schreiner
– ursprünglich angeblich: Apostel Paulus im 2. Brief an die Thessaloniker