Bundessozialgericht torpediert eigene Rechtsprechung zu den Unterkunftskosten für „Hartz IV“-Empfänger/innen
(15. April 2012)
Dieser Artikel beschäftigt sich mit den durch das Bundessozialgericht (BSG) am 22. März 2012 im Verfahren B 4 AS 16/11 R vergebenen Möglichkeiten, der Weigerung von Grundsicherungsträgern, die „angemessenen“ Unterkunftskosten zu ermitteln, entschieden einen Riegel vorzuschieben.
Sobald die schriftliche Begründung des BSG im Verfahren B 4 AS 16/11 R vorliegt, wird dieser Artikel entsprechend überarbeitet und angepaßt.
Aktualisierung: Eine Überarbeitung dieses Artikels ist nicht erforderlich, da die schriftliche Begründung, für die sich das BSG vier Monate Zeit ließ, inhaltlich zu mager ist. (Herbert Masslau, 17. August 2012)
Darf ein Leistungsempfänger hinsichtlich der Unterkunftskosten (KdU) auf das pauschale Wohngeld gemäß Tab. § 8 WoGG (2005) bzw. § 12 WoGG (2009) – gemäß BSG-Rechtsprechung mit 10%-Aufschlag – verwiesen werden, wenn der Grundsicherungsträger seit Inkrafttreten des SGB II (1. Januar 2005) faktisch nicht die „Referenzmiete“ in seinem Zuständigkeitsbereich ermittelt und damit fortgesetzt gegen höchstrichterliche Rechtsprechung verstoßen hat? Oder muß in einem solchen Fall nicht unabhängig von der Begrenzung durch die Tabellenwerte WoGG die tatsächliche Miete übernommen werden?
Denn, wenn auch in einem solchen Fall die Anwendung der Tabellenwerte WoGG erlaubt wäre, würde dies über kurz oder lang dazu führen, daß sämtliche Grundsicherungsträger die „Referenzmiete“ nicht mehr ermitteln würden, sondern sich die Sach- und Personalkosten dafür sparen und automatisch die Tabellenwerte WoGG anwenden würden; damit wäre die vom BSG entwickelte KdU-Rechtsprechung torpediert.
Das Ausgangsproblem
Das Bundessozialgericht hat erstmals am 7. November 2006 über die Kosten der Unterkunft (KdU) für „Hartz IV“-Empfängerinnen und -empfänger entschieden. In der sog. Delmenhorst-Entscheidung [BSG, Urteil vom 7. November 2006, Az.: B 7b AS 18/06 R], die die Rechtsprechung des LSG Niedersachsen-Bremen aufhob, welches für die Jahre 2005 und 2006 der Rechtsprechung des OVG Lüneburg zur alten Sozialhilfe (BSHG) gefolgt war und automatisch Rückgriff auf die Tabellenwerte § 8 WoGG (2005), jetzt § 12 WoGG (2009), nahm, heißt es:
„Das LSG hat hinsichtlich der Bestimmung der angemessenen Unterkunftskosten einen rechtlich unzutreffenden Maßstab gewählt, weil es - ohne weiteres - von den Werten in der Tabelle zu § 8 WoGG als fixen - quasi normativen - Größen ausgegangen ist. Zwar ist dem LSG einzuräumen, dass der Rückgriff auf Tabellenwerte für Verwaltung und Rechtsprechung zu einer klaren Orientierung beitragen kann. Ein solches Vorgehen entspricht jedoch nicht der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) sowie dem Sinn und Zweck des § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II. Nach § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II (ursprüngliche Normfassung) werden Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit diese angemessen sind. Nach § 22 Abs 1 Satz 2 SGB II ist dabei die Angemessenheit des Umfangs der Aufwendungen an den Besonderheiten des Einzelfalls zu messen (…) … Der Senat folgt hingegen der Rechtsprechung des BVerwG, das in ständiger Rechtsprechung zum früheren § 12 BSHG iVm § 3 der Verordnung zur Durchführung des § 22 BSHG (…) entschieden hat, dass die Tabellenwerte in § 8 WoGG keinen geeigneten Maßstab für die Angemessenheit der Kosten der Unterkunft darstellen (…).“ [Rdnr. 17]
„Der mit der Gewährung von Wohngeld verfolgte Zweck ist ein anderer als derjenige der Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II und dem Sozialgesetzbuch - Zwölftes Buch - (SGB XII). Bei der Gewährung von Wohngeld wird von der Wohnung ausgegangen, wie sie der Wohngeldberechtigte angemietet hat, ohne dass im Einzelfall nachgeprüft wird, inwieweit die Wohnung als solche im Sinne eines notwendigen Bedarfs angemessen ist (…). Zwar ist dem LSG zuzugeben, dass die Rechtsprechung einzelner Oberverwaltungsgerichte - und insbesondere auch des OVG Lüneburg (…) – dem BVerwG in seiner Rechtsprechung zur Unanwendbarkeit der Tabelle nach § 8 WoGG teilweise nicht gefolgt ist. Ein solches Vorgehen kommt aber allenfalls dann in Betracht, wenn alle anderen Erkenntnismöglichkeiten und -mittel zur Ermittlung der Angemessenheit des Wohnraums iS des § 22 Abs 1 SGB II ausgeschöpft sind.“ [Rdnr. 18]
„Nur soweit Erkenntnismöglichkeiten im lokalen Bereich nicht weiter führen,kann ein Rückgriff auf die Tabelle zu § 8 WoGG oder auf die zulässigen Mietgrenzen der in Ergänzung zum Wohnraumförderungsgesetz erlassenen landesrechtlichen Wohnraumförderungsbestimmungen in Betracht kommen. Bei einem Rückgriff auf Tabellen bzw Fördervorschriften wird zu erwägen sein, ob zu Gunsten des Leistungsempfängers ein mögliche Unbilligkeiten der Pauschalierung ausgleichender Zuschlag (etwa von 10 % zu den Tabellenwerten, …) in Betracht kommt.“ [Rdnr. 23]
An dieser grundlegenden Rechtsprechung des BSG hat sich bis heute nichts geändert. Es folgten lediglich weitere Präzisierungen, insbesondere das Aufstellen eines Kriterienkatalogs zur Ermittlung der „angemessenen“ Unterkunftskosten, der sog. „Referenzmiete“ [vergleiche: BSG, Urteile vom 22. September 2009, Az.: B 4 AS 18/09 R, Rdnr. 19; vom 17. Dezember 2009, B 4 AS 27/09 R, Rdnr. 26; vom 17. Dezember 2009, Az.: B 4 AS 50/09 R, Rdnr. 23].
Auch für den Fall der Nichtermittelbarkeit der „Referenzmiete“ wurde der 10-prozentige Sicherheitsaufschlag auf die nur als „Notlösung“ anzuwendenden Tabellenwerte Wohngeldgesetz bestätigt [vergleiche: BSG, Urteile vom 20. August 2009, Az.: B 14 AS 41/08 R, Rdnr. 22; vom 20. August 2009, Az.: B 14 AS 65/08 R, Rdnr. 21; vom 17. Dezember 2009, Az.: B 4 AS 50/09 R, Rdnr. 27; vom 18. Februar 2010, Az.: B 14 AS 73/08 R, Rdnr. 29; vom 19. Oktober 2010, Az.: B 14 AS 15/09 R, Rdnr. 20], wobei hier allerdings nur noch die Rede war entweder von einem „maßvollen Zuschlag“ oder einfach nur von einem „Zuschlag“.
Diese Ungenauigkeit hat wohl den einen oder anderen Grundsicherungsträger und das eine oder andere Sozialgericht ermuntert, selbst noch den Sicherheitsaufschlag von 10 % auf 5 % [so: LSG Baden-Württemberg, L 13 AS 4212/08] oder gleich auf 0 % zu reduzieren (so: Optionskommune Göttingen). Dem wurde zumindest mit der BSG-Entscheidung vom 22. März 2012 im Verfahren B 4 AS 16/11 R (Ausgangsverfahren: LSG Ba.-Wü., L 13 AS 4212/08) ein Riegel vorgeschoben: es bleibt bei 10 Prozent, regionale Unterschiede wären bereits in den Mietenstufen des Wohngeldgesetzes berücksichtigt und was anderes würde dem BSG-Konzept widersprechen.
Das BSG-Disaster
Mit dieser eben genannten Entscheidung im Verfahren B 4 AS 16/11 R hatte das BSG die Möglichkeit für den Fall des „totalen Ermittlungsausfalls“ hinsichtlich der zu ermittelnden „angemessenen“ Unterkunftskosten der oben geschilderten revisionsrechtlichen Problematik der Torpedierung der eigenen KdU-Rechtsprechung durch Nichtermitteln der Grundsicherungsträger einen Riegel vorzuschieben. Es hat diese Chance nicht genutzt zulasten der „Hartz IV“-Empfängerinnen und -empfänger.
Das BSG hat am 22. März 2012 nur das äußerste Minimum entschieden: bei Nichtermittlung der „Referenzmiete“ gilt ein 10-prozentiger Sicherheitsaufschlag auf die Tabellenwerte WoGG.
Dabei war dies nur eine von drei Möglichkeiten und zudem die schlechteste.
Erste Möglichkeit: Für Zeiträume nach der grundlegenden KdU-Entscheidung des BSG vom 7. November 2006 gilt: Die Tabellenwerte § 8 WoGG (2005) bzw. § 12 WoGG (2009) plus 10 %-igem Sicherheitsaufschlag kommen als „Notlösung“ nur in betracht, wenn es sich bei der Nichtermittelung der „Referenzmiete“ um eine objektive Nichtermittelbarkeit handelt, deren Ursachen außerhalb des Handlungseinflusses des Grundsicherungsträgers liegen. Etwa wenn der maßgebliche Vergleichsraum aus einem dünnbesiedelten ländlichen Gebiet besteht, für den kein Wohnungsmarkt ermittelbar ist. Handelt es sich hingegen lediglich um eine vom Grundsicherungsträger verursachte Nichtermittelung, sei es durch bewußte Untätigkeit, sei es durch eine nicht mehr gerichtlich nachbesserbare grobe Fehlermittlung, dann geht dies zulasten des Grundsicherungsträgers und er muß die tatsächlichen Unterkunftskosten solange übernehmen, bis er den Mangel abgestellt hat. Das wäre dann in der Tat ein finanzieller Anreiz für den Grundsicherungsträger tätig zu werden. Das Argument der Begrenzung der KdU auch bei Nichtermittelung der „Referenzmiete“, nämlich es dürften keine Luxuswohnungen aus Steuergelder finanziert werden, ist gemessen an der Realität nicht nur ein Scheinargument – welche „Hartz IV“-Empfängerinnen und -empfänger wohnen schon in einem 20-Zimmer-Schloß? –, sondern es untermauert geradezu ideologisch durch Unterstellung den leider realen Versuch der verbotenen Ghettoisierung – so werden in Berlin „Hartz IV“-Empfängerinnen und -empfänger mittlerweile „gezwungen“ aus den Innenstadtbezirken nach Spandau umzuziehen, so wohnen in Göttingen mittlerweile fast die Hälfte aller „Hartz IV“-Empfängerinnen und -empfänger in zwei bestimmten Stadtteilen [GEWOS-Gutachten 2005 und eigene Berechnungen des Autors anhand städtischer Statistiken].
Zweite Möglichkeit: Die Sozialgerichte zwingen zunächst den Grundsicherungsträger zu sinnvollen Ermittlungen. Bleibt dies erfolglos, aus welchen gründen auch immer, dann wird ein realistischer Aufschlag auf die Tabellenwerte § 8 WoGG (2005) bzw. § 12 WoGG (2009) vom Gericht zugesprochen. Aus eigenen Recherchen zur Stadt Göttingen weiß ich, daß ein realistisches Angebot, insbesondere im Hinblick auf die Menge der angebotenen Wohnungen, mindestens einen Aufschlag von 20 Prozent erfordert. Wieso also nicht ein Aufschlag von pauschal 50 Prozent auf die Tabellenwerte WoGG, um auch zu garantieren, daß ausreichend angebotene Wohnungen zur Verfügung stehen?
Dritte Möglichkeit: Das BSG ringt sich immer noch nicht zu einer endgültigen Entscheidung durch und läßt die „Hartz IV“-Empfängerinnen und -empfänger weiterhin im Regen der Willkür der Grundsicherungsträger stehen, auch um den Preis der Torpedierung der eigenen Rechtsprechung (keine Ermittlung der „Referenzmiete“, Ghettoisierung der Hilfebedürftigen) und läßt die gestellten Rechtsfragen weiterhin offen, auch noch ein halbes Jahrzehnt nach der ersten grundlegenden KdU-Entscheidung des BSG, und löst lediglich die vom BSG selbst erzeugte Unsicherheit durch Begriffe wie etwa 10 %, maßvoller Zuschlag oder einfach nur Zuschlag dahingehend auf, daß es nun definitiv den Sicherheitszuschlag als 10-prozentigen Aufschlag auf die Tabellenwerte WoGG definiert. So hat das BSG am 22. März 2012 entschieden.
Ausblick
Düster, sofern das BSG nicht seine eigene Rechtsprechung ernst nimmt und den „Hartz IV“-Behörden und einigen Sozial- und Landessozialgerichten mal so richtig vor den Koffer scheißt.
In der vom Autor erfochtenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wegen überlanger Verfahrensdauer [BVerfG, Beschluß vom 27. September 2011, Az.: 1 BvR 232/11 – s.a. info also Nr. 1/2012, S. 28 ff.] hat sich dieses bezüglich des Gesamtrechtsstreits und, weil durch die BVerfG-Entscheidung vom 9. Februar 2010 zur Verfassungswidrigkeit der Regelleistungen dieser Aspekt keine tragende Rolle mehr spielte, sich auf die Unterkunftskosten kapriziert und ist dabei von geklärten Rechtsfragen durch die KdU-Rechtsprechung des BSG, auch mit Anwendung der Tabellenwerte WoGG plus „maßvollem Zuschlag“ ausgegangen. Es hat damit indirekt die Vorgehensweise des BSG in der KdU-Frage für verfassungsgemäß erklärt.
Es bleibt den „Hartz IV“-Empfängerinnen und -empfänger, deren tatsächliche Mietkosten nicht übernommen werden, weil sie nicht unterhalb der Tabellenwerte WoGG plus 10%-igem Sicherheitsaufschlag liegen, lediglich, ihren Vermietern nur noch die Kosten zu überweisen als Miete, die sie vom Grundsicherungsträger zugestanden bekommen. Die dann folgende Anzahl von fristlosen Kündigungen und Räumungsklagen wird die Zivilgerichte dermaßen überfordern, daß genügend Druck auf die Sozialgerichte entstehen dürfte, um endlich eine realitätsbezogene KdU-Rechtsprechung zu erzwingen – durch den Druck der Straße.