Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat im Dezember 2019
die Vorlage des Sozialgerichts Mainz u.a. zur Frage der Verfassungswidrigkeit
des § 7 Abs. 1 SGB II (Ausländer/innen-Ausnahme vom „Hartz IV“-Bezug) für
unzulässig erklärt. Dabei warf das BVerfG dem SG Mainz vor, nicht dem
Begründungserfordernis entsprochen zu haben.
An dieser Stelle soll aber nicht § 7 SGB II im Zusammenhang
mit dem Aufenthaltsrecht Gegenstand der Betrachtung sein, sondern ein durch das
BVerfG ebenfalls zur Sprache gebrachter Aspekt.
Interessant im Allgemeinen ist daher der weitere Vorwurf des
BVerfG an das SG Mainz, daß es „die verfassungsrechtlichen Ausgangspunkte“
verkenne. Konkret heißt es dann zum Thema Ermessen:
„Auch eine Leistung, die
im Ermessen steht, kann dem verfassungsrechtlichen Gebot genügen, die
menschenwürdige Existenz im Wege gesetzlicher Ansprüche zu sichern. Insbesondere
reduziert sich das Ermessen auf Null und wird zum unmittelbaren Anspruch auf
Leistung, wenn die Existenz beispielsweise in Härtefällen nur so gesichert
werden kann. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die
Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch einen gesetzlichen
Anspruch gesichert sein muss (...), weil der Gesetzgeber in der Pflicht steht,
die hier maßgeblichen Entscheidungen selbst zu treffen. Damit sind
Ermessensleistungen im Bereich der Grundsicherung oder sonstige
Öffnungsklauseln nicht von vornherein verfassungswidrig (...); vielmehr wird
zur Sicherung der menschenwürdigen Existenz darauf verwiesen, dass Verwaltung
und Gerichte vorhandene Auslegungsspielräume nutzen müssen, um Bedarfe zu
decken, wenn die für den Regelbedarf pauschal angesetzten knappen Summen dafür
nicht genügen (...).“ [BVerfG,
Beschluß vom 4. Dezember 2019, Az.: 1 BvL 4/16, Rdnr. 18]
„Hinsichtlich der
Bestimmtheit der vorgelegten Regelung verkennt das Gericht, dass auch
Ermessensregeln und Öffnungsklauseln den diesbezüglichen verfassungsrechtlichen
Anforderungen genügen müssen. Dem steht gerade nicht entgegen, wenn der
Gesetzgeber der Verwaltung einen Spielraum für besonders schutzwürdige
Ausnahmefälle eröffnet und die oft notwendige Flexibilität bei
außergewöhnlichen Umständen schafft (...).“ [BVerfG, a.a.O., Rdnr. 19]
Anzumerken ist zunächst, daß es sich aus dem Kontext der
BVerfG-Entscheidung heraus nicht um ein obiter dictum handelt, sondern
um ein Entscheidungselement.
Damit wird nun endlich deutlich, daß sowohl die
Sozialbehörden, als auch die von den Betroffenen angerufenen Sozialgerichte pflichtgemäß
das Ermessen unter Beachtung verfassungsrechtlicher Maßstäbe zu berücksichtigen
haben.
Ermessen – in der Regel als Kann- oder Sollbestimmung
– dient nicht dazu, von Betroffenen gestellte Anträge einfach, auch nicht
einfachgesetzlich abzulehnen. Vielmehr dient Ermessen dazu – wenn nicht
anders möglich auf Null reduziert, d.h. Pflicht zur positiven Entscheidung –,
die verfassungsmäßigen Rechte der Betroffenen zu garantieren.
Das heißt im Rahmen des Existenzsicherungsrechtes von SGB
II, SGB XII und AsylbewLG, aber nicht nur, gesetzliche Öffnungsklauseln und Ermessensmöglichkeitenzu nutzen. So hatte das BVerfG bereits 2014 angemahnt:
„Fehlt es aufgrund der
vorliegend zugrunde gelegten Berechnung des Regelbedarfs an einer Deckung der
existenzsichernden Bedarfe, haben die Sozialgerichte Regelungen wie § 24 SGB II
über gesondert neben dem Regelbedarf zu erbringende einmalige, als Zuschuss
gewährte Leistungen verfassungskonform auszulegen (...). ... . Auf ein nach §
24 Abs. 1 SGB II mögliches Anschaffungsdarlehen, mit dem zwingend eine
Reduzierung der Fürsorgeleistung um 10 % durch Aufrechnung nach § 42a Abs. 2
Satz 1 in Verbindung mit § 24 Abs. 1 SGB II ab dem Folgemonat der Auszahlung
verbunden ist, kann nur verwiesen werden, wenn die Regelbedarfsleistung so hoch
bemessen ist, dass entsprechende Spielräume für Rückzahlungen bestehen.“ [BVerfG, Beschluß vom 23. Juli 2014, Az.: 1 BvL 10/12,
1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/13, Rdnr. 116]
Dabei sah das BVerfG seinerzeit konkret die Gefahr einer
verfassungswidrigen Unterdeckung z.B. bei der Anschaffung von Waschmaschinen
oder Brillen.
Anmerkung: Ob z.B. bei Brillen – die SGB II-Kammern und -Senate
der Sozialgerichte tendieren dazu, diese über §§ 16 ff. SGB II zuzusprechen –
die ablehnende SGB XII-Rechtsprechung unter Ermessensgesichtpunkten noch
zu halten ist, dürfte dabei fraglich sein, immer vorausgesetzt, daß kein
Einkommen oder Vermögen vorhanden ist.
Was mit Ermessen unter verfassungsrechtlichen
Gesichtspunkten gemeint ist, hat das Bundessozialgericht (BSG) mit seinen
Entscheidungen zur Kostenübernahme von Schulbüchern [BSG, Urteile vom 8. Mai
2019, Az.: B 14 AS 6/18 R u. B 14 AS 13/18 R] deutlich gemacht. Das BSG hat §
21 Abs. 6 SGB II als allgemeine Auffangnorm – analog § 73 SGB XII –, welche
erst aufgrund der BVerfG-Entscheidung zur Regelleistung [BVerfG, Urteil vom 10.
Februar 2010, Az.: 1 BvL 1/09 u.a.] eingefügt wurde, dazu genutzt, daß die
Kosten für Schulbücher unter verfassungsrechtlichen Aspekten der
Existenzsicherung zu übernehmen sind, da nach BVerfG die Kosten des
Schulbesuchs im Rahmen der staatlichen Schulpflicht zum Existenzminimum gehören.
Fazit: Die Instanzengerichte werden, wenn es
um Fragen der Existenzsicherung geht, verstärkt verfassungsgerichtliche Aspekte
zu berücksichtigen haben. Eigentlich mußten sie dieses ohnehin schon: „Außerdem
müssen die Gerichte Fragen des Grundrechtsschutzes einbeziehen (…).“
[BVerfG, Beschluß vom 12. Mai 2005, Az.: 1 BvR 569/05, Rdnr. 25].
Hinsichtlich des Ermessens werden also die
Instanzengerichte zu prüfen haben, ob die gesetzliche Norm eine Öffnungsklausel
enthält oder Ermessen eröffnet. Wenn dieses bejaht werden kann, dann
werden die Instanzengerichte darüber zu befinden haben, ob die gesetzliche Norm
von den Sozialbehörden unter verfassungsrechtlichen Schutzaspekten richtig und
ausreichend angewandt wurde.
Seitens der Antragstellerinnen und Antragsteller wie seitens
der Klägerinnen und Kläger sollte verstärkt auf die richtige Ausübung des Ermessens
geachtet und dieses unter Verweis auf die hier besprochene BVerfG-Entscheidung
eingefordert werden. Da von den Sozialbehörden verfassungskonformes Verhalten
erfahrungsgemäß nicht bzw. nicht immer zu erwarten ist, müssen hier bereits die
Sozialgerichte erster Instanz zu einer entsprechenden Berücksichtigung des Ermessens
in ihrem Urteilen und Beschlüssen kommen.