Herbert Masslau

Ermessen aus verfassungsrechtlicher Sicht

(13. Februar 2020)

 

 

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat im Dezember 2019 die Vorlage des Sozialgerichts Mainz u.a. zur Frage der Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 1 SGB II (Ausländer/innen-Ausnahme vom „Hartz IV“-Bezug) für unzulässig erklärt. Dabei warf das BVerfG dem SG Mainz vor, nicht dem Begründungserfordernis entsprochen zu haben.

An dieser Stelle soll aber nicht § 7 SGB II im Zusammenhang mit dem Aufenthaltsrecht Gegenstand der Betrachtung sein, sondern ein durch das BVerfG ebenfalls zur Sprache gebrachter Aspekt.

Interessant im Allgemeinen ist daher der weitere Vorwurf des BVerfG an das SG Mainz, daß es „die verfassungsrechtlichen Ausgangspunkte“ verkenne. Konkret heißt es dann zum Thema Ermessen:

 

„Auch eine Leistung, die im Ermessen steht, kann dem verfassungsrechtlichen Gebot genügen, die menschenwürdige Existenz im Wege gesetzlicher Ansprüche zu sichern. Insbesondere reduziert sich das Ermessen auf Null und wird zum unmittelbaren Anspruch auf Leistung, wenn die Existenz beispielsweise in Härtefällen nur so gesichert werden kann. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch einen gesetzlichen Anspruch gesichert sein muss (...), weil der Gesetzgeber in der Pflicht steht, die hier maßgeblichen Entscheidungen selbst zu treffen. Damit sind Ermessensleistungen im Bereich der Grundsicherung oder sonstige Öffnungsklauseln nicht von vornherein verfassungswidrig (...); vielmehr wird zur Sicherung der menschenwürdigen Existenz darauf verwiesen, dass Verwaltung und Gerichte vorhandene Auslegungsspielräume nutzen müssen, um Bedarfe zu decken, wenn die für den Regelbedarf pauschal angesetzten knappen Summen dafür nicht genügen (...).“ [BVerfG, Beschluß vom 4. Dezember 2019, Az.: 1 BvL 4/16, Rdnr. 18]

„Hinsichtlich der Bestimmtheit der vorgelegten Regelung verkennt das Gericht, dass auch Ermessensregeln und Öffnungsklauseln den diesbezüglichen verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen müssen. Dem steht gerade nicht entgegen, wenn der Gesetzgeber der Verwaltung einen Spielraum für besonders schutzwürdige Ausnahmefälle eröffnet und die oft notwendige Flexibilität bei außergewöhnlichen Umständen schafft (...).“ [BVerfG, a.a.O., Rdnr. 19]

 

Anzumerken ist zunächst, daß es sich aus dem Kontext der BVerfG-Entscheidung heraus nicht um ein obiter dictum handelt, sondern um ein Entscheidungselement.

Damit wird nun endlich deutlich, daß sowohl die Sozialbehörden, als auch die von den Betroffenen angerufenen Sozialgerichte pflichtgemäß das Ermessen unter Beachtung verfassungsrechtlicher Maßstäbe zu berücksichtigen haben.

Ermessen – in der Regel als Kann- oder Sollbestimmung – dient nicht dazu, von Betroffenen gestellte Anträge einfach, auch nicht einfachgesetzlich abzulehnen. Vielmehr dient Ermessen dazu – wenn nicht anders möglich auf Null reduziert, d.h. Pflicht zur positiven Entscheidung –, die verfassungsmäßigen Rechte der Betroffenen zu garantieren.

Das heißt im Rahmen des Existenzsicherungsrechtes von SGB II, SGB XII und AsylbewLG, aber nicht nur, gesetzliche Öffnungsklauseln und Ermessensmöglichkeiten zu nutzen. So hatte das BVerfG bereits 2014 angemahnt:

„Fehlt es aufgrund der vorliegend zugrunde gelegten Berechnung des Regelbedarfs an einer Deckung der existenzsichernden Bedarfe, haben die Sozialgerichte Regelungen wie § 24 SGB II über gesondert neben dem Regelbedarf zu erbringende einmalige, als Zuschuss gewährte Leistungen verfassungskonform auszulegen (...). ... . Auf ein nach § 24 Abs. 1 SGB II mögliches Anschaffungsdarlehen, mit dem zwingend eine Reduzierung der Fürsorgeleistung um 10 % durch Aufrechnung nach § 42a Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit § 24 Abs. 1 SGB II ab dem Folgemonat der Auszahlung verbunden ist, kann nur verwiesen werden, wenn die Regelbedarfsleistung so hoch bemessen ist, dass entsprechende Spielräume für Rückzahlungen bestehen.“ [BVerfG, Beschluß vom 23. Juli 2014, Az.: 1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/13, Rdnr. 116]

Dabei sah das BVerfG seinerzeit konkret die Gefahr einer verfassungswidrigen Unterdeckung z.B. bei der Anschaffung von Waschmaschinen oder Brillen.

Anmerkung: Ob z.B. bei Brillen – die SGB II-Kammern und -Senate der Sozialgerichte tendieren dazu, diese über §§ 16 ff. SGB II zuzusprechen – die ablehnende SGB XII-Rechtsprechung unter Ermessensgesichtpunkten noch zu halten ist, dürfte dabei fraglich sein, immer vorausgesetzt, daß kein Einkommen oder Vermögen vorhanden ist.

Was mit Ermessen unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten gemeint ist, hat das Bundessozialgericht (BSG) mit seinen Entscheidungen zur Kostenübernahme von Schulbüchern [BSG, Urteile vom 8. Mai 2019, Az.: B 14 AS 6/18 R u. B 14 AS 13/18 R] deutlich gemacht. Das BSG hat § 21 Abs. 6 SGB II als allgemeine Auffangnorm – analog § 73 SGB XII –, welche erst aufgrund der BVerfG-Entscheidung zur Regelleistung [BVerfG, Urteil vom 10. Februar 2010, Az.: 1 BvL 1/09 u.a.] eingefügt wurde, dazu genutzt, daß die Kosten für Schulbücher unter verfassungsrechtlichen Aspekten der Existenzsicherung zu übernehmen sind, da nach BVerfG die Kosten des Schulbesuchs im Rahmen der staatlichen Schulpflicht zum Existenzminimum gehören.

 

Fazit: Die Instanzengerichte werden, wenn es um Fragen der Existenzsicherung geht, verstärkt verfassungsgerichtliche Aspekte zu berücksichtigen haben. Eigentlich mußten sie dieses ohnehin schon: „Außerdem müssen die Gerichte Fragen des Grundrechtsschutzes einbeziehen (…).“ [BVerfG, Beschluß vom 12. Mai 2005, Az.: 1 BvR 569/05, Rdnr. 25].

Hinsichtlich des Ermessens werden also die Instanzengerichte zu prüfen haben, ob die gesetzliche Norm eine Öffnungsklausel enthält oder Ermessen eröffnet. Wenn dieses bejaht werden kann, dann werden die Instanzengerichte darüber zu befinden haben, ob die gesetzliche Norm von den Sozialbehörden unter verfassungsrechtlichen Schutzaspekten richtig und ausreichend angewandt wurde.

Seitens der Antragstellerinnen und Antragsteller wie seitens der Klägerinnen und Kläger sollte verstärkt auf die richtige Ausübung des Ermessens geachtet und dieses unter Verweis auf die hier besprochene BVerfG-Entscheidung eingefordert werden. Da von den Sozialbehörden verfassungskonformes Verhalten erfahrungsgemäß nicht bzw. nicht immer zu erwarten ist, müssen hier bereits die Sozialgerichte erster Instanz zu einer entsprechenden Berücksichtigung des Ermessens in ihrem Urteilen und Beschlüssen kommen.

 

 

 

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