Regelleistung 2022 – Kritik
an der SG Oldenburg-Entscheidung
(17. Mai 2022)
Die SG Oldenburg-Entscheidung SG Oldenburg, Beschluß vom 17.
Januar 2022, Az.: S 43 AS 1/22 ER – nachzulesen auf https://sozialgericht-oldenburg.niedersachsen.de/download/179545
und https://sozialgericht-oldenburg.niedersachsen.de/startseite/aktuelles/presseinformationen_sozialgerichts_oldenburg/trotz-inflation-hartz-iv-satze-weiter-verfassungsgemass-207925.html
– weist erhebliche Mängel auf:
a) „Nach dem Grundsatz der Subsidiarität der
Verfassungsbeschwerde muss ein Beschwerdeführer das ihm Mögliche tun, damit
eine Grundrechtsverletzung im fachgerichtlichen Instanzenzug unterbleibt oder
beseitigt wird und alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden
prozessualen Möglichkeiten ergreifen, um die geltend gemachte
Grundrechtsverletzung in dem unmittelbar mit ihr zusammenhängenden sachnächsten
Verfahren zu verhindern oder zu beseitigen (...; stRspr).“[BVerfG, Kammerbeschluß vom 5.
September 2013, Az.: 1 BvR 2447/11, Rdnr. 13]
Dies vorausgeschickt, konnte sich das SG Oldenburg nicht
einer Entscheidung zugunsten des dortigen Antragstellers dadurch entziehen, daß
der Gesetzgeber – was derzeit in der Tat der Fall ist – nicht plant, „eine
Änderung der Fortschreibungsregelung“ [SG Oldenburg, a.a.O. Seite 8 pdf-Version]
vorzunehmen.
Die Weigerung von Exekutive und Legislative ist kein
durchschlagendes Argument, denn für einen solchen Fall ist ja gerade das BVerfG
da [vgl. die Entscheidung BVerfG, Az.: 1 BvL 1/09 u.a.], da ansonsten
Legislative und Exekutive unter Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs.
1 u. 3 GG beliebig mit dem Existenzminimum umgehen und damit gegen die Menschenwürde
verstoßen könnten.
„[M]uß ein Beschwerdeführer das ihm Mögliche tun, damit
eine Grundrechtsverletzung im fachgerichtlichen Instanzenzug unterbleibt oder
beseitigt wird“ dann hat er bzw. sie dem genüge getan, wenn die
entsprechenden Rechtsbehelfe erhoben worden sind. Daß ein Sozialgericht hier
sich das Recht so zusammen biegt, damit es eine ablehnende Entscheidung treffen
kann, liegt nicht mehr in der Verantwortungssphäre der einen Rechtsbehelf wahrnehmenden
Person.
b) Das Gleiche gilt für Folgendes: „Aufgrund dieser begrenzten
materiellen Kontrolldichte verlagert sich die verfassungsrechtliche Überprüfung
einer Verletzung des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum in
die Überprüfung des Verfahrens zur Ermittlung des Existenzminimums.“ [SG
Oldenburg, a.a.O., Seite 7 pdf-Version]
Eben nicht. Denn zum Einen kann ein statistisch-mathematisch
zulässiges Verfahren rein formell angewandt werden, gleichzeitig aber durch
konkrete Wertangaben in dieses Modell zu willkürlichen Manipulationen nach
unten zulasten des menschenwürdigen Existenzminimums führen; wie so etwas geht,
habe ich zu dem KdU-Gutachten für Göttingen vom IWU nachgewiesen [http://herbertmasslau.de/mediapool/5/50745/data/Kritik_IWU_2017.pdf
und http://www.herbertmasslau.de/mediapool/5/50745/data/Kritik_IWU_2019.pdf].
Zum Anderen ist das Existenzminimum ein unterster Limes, der
nicht unterschritten werden darf, auch nicht durch den 30%-Lohnanteil, wenn
dieser aufgrund prekärer Beschäftigungsverhältnisse weiter sinkt. Dann muß
dieser Staat entweder solche prekären Arbeitsverhältnisse verbieten oder den
Betroffenen höhere ergänzende SGB II-Leistungen gewähren. Zum Problem des
30%-Lohnanteils an der Berechnung der Regelleistung: „Erstmals seit Beginn
der Erhebung im Jahr 2007 gehen die Nominallöhne im Jahr 2020 gegenüber dem
Vorjahr zurück. Die gesamtwirtschaftliche Lohnentwicklung 2020 war stark durch
den vermehrten Einsatz von Kurzarbeit im Zuge der Corona-Krise beeinflusst:
Kurzarbeit reduziert die bezahlte Wochenarbeitszeit und damit den
Bruttomonatsverdienst. Wenngleich das Kurzarbeitergeld die Verdiensteinbußen
für viele Beschäftigte abgefedert hat, ist es eine Lohnersatzleistung und kein
Verdienstbestandteil. Daher wird es in den Verdienststatistiken nicht erfasst.“
[https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2021/03/PD21_143_623.html]
Damit ist klar, daß trotz der Nichterfassung der Kurzarbeitgelder
im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie dennoch die erfaßten Löhne zur
nur minimalen Steigerung der Regelleistung beigetragen haben.
Was nicht geht angesichts steigender Preise ist die
Regelleistung zu drücken mithilfe ansonsten zulässiger statistischer Methoden.
Angesichts der aktuellen Ereignisse – steigende allgemeine
Inflation, die höchste seit drei Jahrzehnten, und steigende Energiepreise
(hier: Strom) aufgrund des Ukraїne-Krieges und seiner ökonomischen Folgen –
kann den Betroffenen nicht entgegen gehalten werden, „[d]as BVerfG hat die
auf der Grundlage des RBEG in der bis zum 31.12.2016 geltenden Fassung
festgelegten Grundsicherungsleistungen ... für verfassungsgemäß erachtet
(BVerfG v. 23.07.2014 – 1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/13).“ [SG
Oldenburg, a.a.O., Seite 6 pdf-Version] Diese BVerfG-Entscheidung ist acht
Jahre alt und konnte die aktuelle Entwicklung aufgrund der Folgen der
Corona-Pandemie und jetzt des Ukraїne-Krieges gar nicht berücksichtigen. Und
deshalb gilt: „Ergibt sich eine offensichtliche und erhebliche Diskrepanz
zwischen der tatsächlichen Preisentwicklung und der bei der Fortschreibung der
Regelbedarfsstufen berücksichtigten Entwicklung der Preise für
regelbedarfsrelevante Güter, muss der Gesetzgeber zeitnah darauf reagieren. ...
Ist eine existenzgefährdende Unterdeckung durch unvermittelt auftretende,
extreme Preissteigerungen nicht auszuschließen, darf der Gesetzgeber dabei
nicht auf die reguläre Fortschreibung der Regelbedarfsstufen warten.“
[BVerfG, Beschluß vom 23. Juli 2014, Az.: 1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR
1691/13, Rdnr. 144]
„Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der
Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer
Folgenabwägung zu entscheiden (…). Auch in diesem Fall sind die
grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung
einzustellen. Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die
Grundrechte des Einzelnen stellen (…). Dies gilt ganz besonders, wenn es um die
Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundgesetzlichen
Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig
andauert, haben die Gerichte zu verhindern.“ [BVerfG, Beschluß vom 12. Mai
2005, Az.: 1 BvR 569/05, Rdnr. 26]
c) Auch darf vorliegend keine Entscheidung aufgrund reiner
Spekulation getroffen bzw. gerichtlich verweigert werden.
Die Ausführungen des SG Oldenburg, a.a.O., Seite 9 pdf-Version
sind nicht tragbar: „Hinsichtlich etwaig auftretender Sonderbedarfe etwa
aufgrund der in der zweiten Jahreshälfte 2021 erhöhten Inflationsrate, ist
jedenfalls derzeit noch nicht erkennbar, das [Schreibfehler im Original,
H.M.] der Gesetzgeber nicht in angemessener Weise ggf. wie durch die im Mai
2021 erfolgte Corona bedingte Sonderzahlung oder die Senkung der Mehrwertsteuer
reagiert hat.“
Ein derartiges Abwarten zu fordern ist hinsichtlich des
Existenzminimums ein klarer Verfassungsverstoß, weil damit den Betroffenen
grundsätzlich der Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 u. Art. 20 Abs. 3 GG) verweigert
wird, was insbesondere das Eilrechtsverfahren konterkariert.
Inzwischen hat für 2022 der Gesetzgeber reagiert und eine
Einmalzahlung i.H.v. 200 Euro vorgesehen (§ 73 SGB II, § 144 SGB XII) [BTDrs.
20/1411 Änderungen vom 27. April 2022 Datenblatt-Nr. 20/11013, Absender BMAS]. Dazu
kommt für drei Monate eine 9 Euro-Monatsfahrkarte für den ÖPNV.
Gleichwohl kann eine Einmalzahlung, was schon in ihrem
Charakter liegt, nicht das strukturelle Defizit der Regelleistung ausgleichen;
hierzu wäre generell eine Anhebung der Regelleistung vonnöten.
d) Das strukturelle Defizit der Regelleistung 2022 kann
nicht durch eine Verlagerung auf die individuelle Ebene, d.h. über §§ 24 Abs. 1
SGB II, 27a Abs. 4 SGB XII gelöst werden. So aber als tragender
Entscheidungsgrund in der genannten SG Oldenburg-Entscheidung [a.a.O., Seite 9
und Seite 10 pdf-Version].
Hierzu sei stellvertretend auf die Darstellung zur sog.
Weißen Ware auf BVerfG, Senatsbeschluß vom 23. Juli 2014, Az.: 1 BvL 10/12, 1
BvL 12/12, 1 BvR 1691/13, Rdnr. 120 verwiesen sowie auf die Differenz zwischen
Bundesrat einerseits [BRatDrs. 541/16 (Beschluß), S.
26] und Bundesregierung andererseits [BTDrs.
18/10349, S. 53].
Hier kann auch nicht, wie es das
SG Oldenburg in seiner hier genannten Entscheidung tut, aus der nunmehr
erfolgten zusätzlichen Berücksichtigung der Mobilfunktelefonnutzung bei der
Bedarfsermittlung geschlossen werden, daß „[d]amit [...] auch für die ab dem
01.01.2022 geltenden Regelbedarfsstufen von einer Verfassungsmäßigkeit
auszugehen [ist]“ [SG Oldenburg, a.a.O., Seite 6 pdf-Version]. Denn daraus,
daß die Exekutive nach jahrelanger Verweigerung nunmehr einen einzigen
Detailaspekt bei der Berechnung der Regelleistung berücksichtigen läßt, kann
schon rein logisch nicht auf die Verfassungsmäßigkeit der gesamten
Regelleistung geschlossen werden.
Im Zweifelsfall würde den Betroffenen entgegen gehalten
werden, sie wären zum internen Ausgleich verpflichtet, der aber bei einem
strukturellen Defizit eben nicht gewährleistet sein kann [siehe hierzu http://www.herbertmasslau.de/regelleistung-2021.html
„Die Ausgleichsfunktion der Regelleistung“].
e) Es soll nicht unerwähnt bleiben, daß das SG Oldenburg in
seiner hier behandelten Entscheidung darin, daß „die durchschnittliche
Inflationsrate der letzten 6 Monate von 3,9 Prozent“ [SG Oldenburg, a.a.O.,
Seite 9 pdf-Version] gewesen sein soll, keine Bedarfsunterdeckung des dortigen
Antragstellers sah.
Zunächst ist eine solche Interpretation schon deswegen
absurd, weil die Regelleistung 2022 nur um 0,76 % erhöht wurde, einem Fünftel
von 3,9 %.
Dann wird überhaupt nicht klar, woher das SG Oldenburg die
Zahl von 3,9 Prozent hat, denn der Durchschnitt der allgemeinen Inflationsrate
der letzten 6 Monate – d.h. Juli bis Dezember 2021, da die SG
Oldenburg-Entscheidung vom Januar 2022 stammt – betrug 4,5 % und nicht 3,9 %.
Unter Berücksichtigung der Gewichtung der 12 EVS-Abteilungen
[Wägungsschema VPI_Basis2015: https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Preise/Verbraucherpreisindex/Methoden/Downloads/waegungsschema-2015.pdf?__blob=publicationFile]
ergibt sich unter Berücksichtigung der durchschnittlichen Inflationsrate der
Monate Juli bis Dezember 2021 und unter Berücksichtigung der EVS-Abteilungen
01, 03, 05 bis 12 und deren Gewichtung von 637,53/1000 eine Inflationsrate von
5,2 %. Dabei wurde die EVS-Abteilung 02 von mir gar nicht berücksichtigt, weil
gestrichen bei der Regelleistung, wobei der bloße Anteil für Mineralwasser von mir
nicht errechnet wurde. Ebenso wurde die EVS-Abteilung 04 komplett nicht
berücksichtigt, weil sie fast vollständig bis auf die Sonderberechnung für
Haushaltsstrom in den KdUH enthalten ist, welche gemäß §§ 22 SGB II, 35 SGB XII
gesondert erbracht werden. Die Kosten für Haushaltsstrom aber steigen
exorbitant und weisen schon seit Jahren eine höhere Inflationsrate als die
allgemeine Inflationsrate auf, so daß eine Berücksichtigung der Stromkosten
nicht zu einer niedrigeren, sondern zu einer höheren Inflationsrate als die
genannten 5,2 % führen würde. Auch die Abschaffung der EEG-Umlage zum 1. Juli
2022 wird keine Entlastung bringen, ist als Argument also untauglich, weil an
Stelle der EEG-Umlage die CO-2-Abgabe tritt.
Die insbesondere in der EVS-Abteilung 09, die das
sozio-kulturelle Existenzminimum abdeckt, gestrichenen Positionen konnten ohne
umfangreichen Rechenaufwand ebenfalls nicht berücksichtigt werden, so daß hier
die Inflationsrate für die gesamte EVS-Abteilung 09 von mir berücksichtigt
wurde.
Aber schon die von mir angestellte „Überschlagsrechnung“ mit
dem Ergebnis 5,2 % Inflation für die Regelleistung im Gegensatz zur allgemeinen
Inflation von 4,5 % belegt, daß die 3,9 % im hier genannten Beschluß des SG
Oldenburg nicht stimmen können. Dies ist eine besonders schwere Verletzung der
oben unter b) genannten BVerfG-Entscheidungen und damit des menschenwürdigen
Existenzminimums. Sich in diesem Zusammenhang irgendetwas aus den Fingern zu saugen,
ist keine Rechtsprechung, sondern Menschenverachtung.