Herbert Masslau

Bundessozialgericht vernichtet schrittweise das Menschenrecht auf Wohnen

(31. März 2013)

 

 

Das Sozialgericht Mainz, genauer dessen 17. Kammer, hat im Sommer 2012 eine umfangreich begründete Entscheidung zu den „Hartz IV“-Unterkunftskosten (KdU) gefällt. Das SG Mainz hat sich dabei an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zur Regelleistung (BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010, Az.: 1 BvL 1/09 u.a.) orientiert. Nachfolgend seien diesem Artikel deshalb die zentralen Ausführungen des SG Mainz zum Menschenrecht auf Wohnen im Rahmen des SGB II vorangestellt:

„Nach Überzeugung der Kammer sind die Kosten der Unterkunft auf Grund des Angemessenheitsvorbehalts jedoch nur dann nicht in tatsächlicher Höhe zu übernehmen, wenn die Kosten deutlich über den üblichen Unterkunftskosten für der Größe und Struktur nach vergleichbare Haushalte im geografischen Vergleichsraum liegen. Die Kammer weicht hiermit von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ab,...“

„Die derart vorgenommene Konkretisierung der Regelung des § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II durch das BSG … ist nach Auffassung der Kammer nicht mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG vereinbar, wie es im Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 9.2.2010 (Az. 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09) näher bestimmt worden ist. Für eine Bestimmung des unterkunftsbezogenen Existenzminimums durch am einfachen Wohnstandard orientierte Mietobergrenzen fehlt es an einer den prozeduralen Anforderungen des BVerfG genügenden und hinreichend bestimmten parlamentsgesetzlichen Grundlage. Die Kammer konkretisiert den Angemessenheitsbegriff deshalb nach Maßgabe des Grundsatzes der verfassungskonformen Auslegung in der Weise, dass unangemessen im Sinne des § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II lediglich Kosten der Unterkunft sind, die deutlich über den üblichen Unterkunftskosten für der Größe und Struktur nach vergleichbarer Haushalte im geografischen Vergleichsraum liegen.“

„Der Bundesgesetzgeber steht demnach in der Verantwortung, das Sozialstaatsprinzip selbst durch ein Gesetz hinreichend zu konkretisieren und zu gewährleisten, dass auf die zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums erforderlichen Leistungen auch ein entsprechender Rechtsanspruch besteht (...).“

„Der in § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II verwendete ‚unbestimmte Rechtsbegriff’ der ‚Angemessenheit’, welcher der alleinige normtextliche Anknüpfungspunkt für die Beschränkung der Übernahme der Kosten der Unterkunft im Sinne des § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II ist, genügt den im Urteil vom 9.2.2010 gestellten Anforderungen des BVerfG nicht. Indem das BSG in Fortführung der Rechtsprechung des BVerwG zum Sozialhilferecht den Angemessenheitsbegriff ausgehend von einem einfachen, grundlegenden, im unteren Marktsegment liegenden Wohnstandard im Sinne einer allgemein anzuwendenden Mietobergrenze konkretisiert, bestimmt es den Umfang der zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums erforderlichen Leistungen im Wesentlichen selbst bzw. gibt der Verwaltung die Rahmenbedingungen hierfür vor.“

„Die (verfassungsrechtliche) Notwendigkeit der näheren Bestimmung durch den Gesetzgeber ergibt sich im Übrigen daraus, dass die Unterkunftskosten mit den Regelleistungen bzw. -bedarfen in einem wechselseitigen Zusammenhang stehen. Bei Leistungsberechtigten ohne anrechnungsfreies Einkommen oder Schonvermögen wirkt sich die unvollständige Übernahme der Kosten der Unterkunft praktisch regelbedarfsmindernd aus, da die übersteigenden Unterkunftskosten aus der Regelleistung bzw. aus dem Regelbedarf bestritten werden müssen (...).“

„Eine sinnvolle und verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende Funktion des Angemessenheitsbegriffs kann demzufolge sein, die staatliche Leistungspflicht nur in Einzelfällen zu begrenzen, in denen Leistungsberechtigte hinsichtlich ihrer Unterkunft deutlich erkennbar über den (orts-)üblichen Verhältnissen leben.“

[SG Mainz, Urteil vom 8. Juni 2012, Az.: S 17 AS 1452/09]

 

 

Obwohl diese Entscheidung des SG Mainz vom 8. Juni 2012 zeitlich vor den hier weiter unten zum Thema Alleinerziehende behandelten BSG-Entscheidungen vom 22. August und 11. Dezember 2012 lag, fand sie keinerlei Berücksichtigung durch das Bundessozialgericht.

Die vom Bundessozialgericht eingezogene Deckelung der Unterkunftskosten mit Hilfe der Tabellenwerte Wohngeldgesetz (WoGG) – Tab. § 8 WoGG 2001, 2005 und ab 1. Januar 2009 Tab. § 12 Abs. 1 WoGG 2009 – ist im Hinblick auf das Menschenrecht Wohnen zynisch, weil so einerseits für die Grundsicherungsbehörden kein Anreiz besteht, den tatsächlichen örtlichen KdU-Bedarf zu ermitteln und andererseits unterstellt wird, viele „Hartz IV“ beziehende Menschen würden quasi in Luxuswohnungen wohnen.

Nachfolgend nun zunächst eine historische wie an den wesentlichen Begriffen für die Ermittlung der „angemessenen“ Unterkunftskosten orientierte Darstellung und Auseinandersetzung mit der BSG-Rechtsprechung, dann in der zweiten Hälfte die Auseinandersetzung mit der Rechtsproblematik unter besonderer Berücksichtigung Alleinerziehender.

 

 

Das Bundessozialgericht (BSG) hatte nach knapp zwei Jahren „Hartz IV“ am 7. November 2006 die ersten Grundsatzentscheidungen zu den Unterkunftskosten gefällt (B 7b AS 8/06 R; B 7b AS 10/06 R; B 7b AS 18/06 R). Insbesondere die sogenannte Delmenhorst-Entscheidung (B 7b AS 18/06 R) des damaligen 7b. Senats, des heutigen 14. Senats, war von Bedeutung, knüpfte sie doch grundlegend an die bisherige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes (BVerwG) zur alten Sozialhilfe (BSHG) zu den Unterkunftskosten an. So erklärte das BSG die pauschale Anwendung der Tabellen § 8 WoGG (2001, 2005 – jetzt: § 12 Abs. 1 WoGG 2009) im Regelfall für rechtswidrig:

„Der Senat folgt hingegen der Rechtsprechung des BVerwG, das in ständiger Rechtsprechung zum früheren § 12 BSHG iVm § 3 der Verordnung zur Durchführung des § 22 BSHG (…) entschieden hat, dass die Tabellenwerte in § 8 WoGG keinen geeigneten Maßstab für die Angemessenheit der Kosten der Unterkunft darstellen (… zuletzt Urteile vom 31. August 2004 - 5 C 8/04 -, …  und vom 28. April 2005 - 5 C 15/04 ).“ [BSG, Urteil vom 7. Nobember 2006, Az.: B 7b AS 18/06 R, Rdnr. 17]

Es sollte nur eine einzige Ausnahme geben:

„Ein solches Vorgehen kommt aber allenfalls dann in Betracht, wenn alle anderen Erkenntnismöglichkeiten und -mittel zur Ermittlung der Angemessenheit des Wohnraums iS des § 22 Abs 1 SGB II ausgeschöpft sind.“ [BSG, a.a.O., Rdnr. 18]

Ferner legte das BSG hier auch schon die Bezugnahme auf die Wohnflächengrößen für den Sozialen Wohnungsbau fest:

„Nach Aufhebung des Wohnungsbindungsgesetzes ist dabei auf die Wohnungsgrößen, die sich aus § 10 des Gesetzes über die soziale Wohnraumförderung vom 13. September 2001 (…) ergeben, abzustellen (…). Nach § 10 WoFG können die Länder im geförderten Mietwohnungsbau die Anerkennung von bestimmten Grenzen für Wohnungsgrößen nach Grundsätzen der Angemessenheit regeln (…). Hierbei erlassen die einzelnen Bundesländer Richtlinien, die für das hier konkret in Frage kommende Land Niedersachsen in Runderlassen des Sozialministeriums niedergelegt sind.“ [BSG, a.a.O., Rdnr. 19]

Auch der Wohnstandard wurde als grundlegendes Kriterium benannt:

„Nach Feststellung der Wohnraumgröße ist als weiterer Faktor der Wohnungsstandard zu berücksichtigen. Angemessen sind die Aufwendungen für eine Wohnung nur dann, wenn diese nach Ausstattung, Lage und Bausubstanz einfachen und grundlegenden Bedürfnissen genügt und keinen gehobenen Wohnstandard aufweist. Die Wohnung muss von daher hinsichtlich der aufgeführten Kriterien, die als Mietpreis bildende Faktoren regelmäßig im Quadratmeterpreis ihren Niederschlag finden, im unteren Segment der nach der Größe in Betracht kommenden Wohnungen in dem räumlichen Bezirk liegen, der den Vergleichsmaßstab bildet.“ [BSG, a.a.O., Rdnr. 20]

Ebenso wurde der maßgebliche Vergleichsraum festgelegt:

„Als räumlicher Vergleichsmaßstab ist, wie der Senat in seinem Urteil vom 7. November 2006 (B 7b AS 10/06 R) im Einzelnen dargelegt hat, in erster Linie der Wohnort des Hilfebedürftigen maßgebend. Ein Umzug in einen anderen Wohnort, der mit einer Aufgabe des sozialen Umfeldes verbunden wäre, kann von ihm im Regelfall nicht verlangt werden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich der räumliche Vergleichsmaßstab strikt am kommunalverfassungsrechtlichen Begriff der ‚Gemeinde’ nach dem jeweiligen landesrechtlichen Kommunalrecht orientieren muss. Bei der Bildung des räumlichen Vergleichsmaßstabs kann es - insbesondere im ländlichen Raum - geboten sein, größere Gebiete als Vergleichsgebiete zusammenzufassen, während in größeren Städten andererseits eine Unterteilung in mehrere kleinere Vergleichsgebiete, die kommunalverfassungsrechtlich keine selbständigen Einheiten darstellen, geboten sein kann.“ [BSG, a.a.O., Rdnr. 21]

Damit waren die „abstrakten Angemessenheitskriterien“ für die Unterkunftskosten festgelegt: Wohnfläche nach den länderspezifischen Förderrichtlinien des Sozialen Wohnungsbaus, die Wohngemeinde im Regelfall als maßgeblicher Vergleichsraum und Wohnungsstandard ausgedrückt im Quadratmeterpreis, wobei dann für den später „Referenzmiete“ genannten Gesamtbetrag für die KdU das Produkt aus Wohnfläche und Quadratmeterpreis maßgeblich sein sollte [BSG, a.a.O., Rdnr. 20] nach der sog. Produkttheorie und nicht mehr die sog. Kombinationstheorie zu Zeiten des BSHG, die die „Angemessenheit“ der einzelnen Faktoren verlangte.

Auch die „konkrete Angemessenheit“ fand schon Erwähnung, indem in dem vorher bei der „abstrakten Angemessenheit“ festgelegten Vergleichsraum auch ausreichend Wohnraum zum Preis der „Referenzmiete“ vorhanden sein mußte:

„Schließlich wird zu überprüfen sein, ob nach der Struktur des Wohnungsmarktes am Wohnort D die Kläger tatsächlich auch die konkrete Möglichkeit haben, eine abstrakt als angemessen eingestufte Wohnung konkret auf dem Wohnungsmarkt anmieten zu können .(…).“ [BSG, a.a.O., Rdnr. 22]

Besteht eine solche Möglichkeit nicht, so sollten die tatsächlichen Unterkunftskosten konkret angemessen sein [BSG, a.a.O., Rdnr. 22].

Für den Fall, daß keine Mietspiegel existierten, sollte der Grundsicherungsträger eigene Erhebungen durchführen.

Nur als Notlösung, also für den Fall, daß Erkenntniserlangung nicht möglich ist, sollte ein Rückgriff auf die Tabellenwerte § 8 WoGG (2001, 2005 – jetzt: § 12 Abs. 1 WoGG 2009) zulässig sein:

„Nur soweit Erkenntnismöglichkeiten im lokalen Bereich nicht weiter führen, kann ein Rückgriff auf die Tabelle zu § 8 WoGG … in Betracht kommen. Bei einem Rückgriff auf Tabellen … wird zu erwägen sein, ob zu Gunsten des Leistungsempfängers ein mögliche Unbilligkeiten der Pauschalierung ausgleichender Zuschlag (etwa von 10 % zu den Tabellenwerten,…) in Betracht kommt.“ [BSG, a.a.O., Rdnr. 23]

Damit war die bis heute geltende Rechtsprechung des BSG zu den KdU festgezurrt.

Was danach kam waren im günstigsten Fall Konkretisierungen, im ungünstigsten Fall die Torpedierung der eigenen Rechtsprechung [s. meinen Artikel „Bundessozialgericht torpediert eigene Rechtsprechung zu den Unterkunftskosten…“].

 

So hat das Bundessozialgericht knapp drei Jahre verstreichen lassen, bis es erstmalig sich konkret zu einem sogenannten schlüssigen Konzept äußerte (BSG, Urteile vom 22. September 2009, Az.: B 4 AS 18/09 R, Rdnr. 19; vom 17. Dezember 2009, Az.: B 4 AS 50/09 R, Rdnr. 23 und Urteil vom 17. Dezember 2009, B 4 AS 27/09 R, Rdnr. 26).

Und dies, obwohl bereits im Juni 2008 der 14. BSG-Senat dem Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen nach der oben erwähnten Delmenhorst-Entscheidung mit der sogenannten Osnabrück-Entscheidung (BSG, Urteil vom 18. Juni 2008, Az.: B 14/7b AS 44/06 R) einen erneuten Schuß vor den Bug setzte, der das LSG Niedersachsen-Bremen dann zum Abweichen von seiner starren KdU-Rechtsprechung unter Zugrundelegung der Tabellenwerte Wohngeldgesetz veranlaßte. Im Unterschied zu Niedersachsen hat es – soweit der Autor dies aus seiner umfangreichen Kenntnis der erstinstanzlichen und obergrichtlichen Rechtsprechung in Erinnerung hat – in Baden-Württemberg und Hessen etwa schon vorher örtlich ermittelte Unterkunftskosten gegeben und nicht den pauschalen Bezug auf die Tabellenwerte Wohngeldgesetz.

Dieses „schlüssige Konzept“ ist allerdings nichts mehr wert. Im Rahmen meiner gewonnenen Verfassungsbeschwerde wegen überlanger Gerichtsverfahren vor dem SG Hildesheim hatte ich bereits in einem Begleittext in der Zeitschrift info also Nr. 1/2012, S. 28 ff. auf dieses Problem aufmerksam gemacht, wenn die Anwendung der Tabellenwerte WoGG nicht nur in Fällen objektiver Ermittlungsunmöglichkeit, sondern auch in den Fällen der Behördenverweigerung zum Zuge kommt. Daß die ursprünglich für rechtswidrig erklärte Anwendung der Tabellenwerte WoGG als Notlösung in Fällen zum Tragen kommt, wo etwa in dünnbesiedeltem ländlichen Raum kein einheitlicher Wohnungsmarkt nachweisbar ist, dagegen spricht zunächst nicht unbedingt etwas. Daß aber die Anwendung der Tabellenwerte WoGG als KdU-Pauschale statt der gesetzlich vorgeschriebenen individuellen Tatsächlichkeit (22 Abs. 1 SGB II) auch in den Fällen zulässig sein soll, wo sich der Grundsicherungsträger – wie die Oprionskommune Göttingen – seit Anbeginn faktisch weigert, die Angemessenheit anhand eines „schlüssigen Konzeptes“ zu ermitteln – das 2009 erstellte F+B-Gutachten wurde nie angewendet, ob das 2013 erstellte A&K-Gutachten Anwendung findet mit seinen durchschnittlich 10 Prozent niedrigeren KdU-Werten als die Tabelle WoGG trotz real enormer Mietpreissteigerungen in der Universitätsstadt bleibt abzuwarten – ist als menschenverachtend, weil Notlagen produzierend, abzulehnen. Der 4. BSG-Senat hatte am 22. März 2012 – meine Kritik in der info also war veröffentlicht, der klägerische Rechtsanwalt wies in der mündlichen Verhandlung ebenfalls auf dieses Problem hin – die Gelegenheit, die BSG-Rechtsprechung hier zu präzisieren und ein für alle Mal den Sack zuzumachen, aber das genaue Gegenteil kam heraus. In seiner KdU-Entscheidung B 4 AS 16/11 R beendete der 4. BSG-Senat nur die Diskussion unterer Instanzen über die Höhe des sogenannten Sicherheitsaufschlages auf die Tabellenwerte WoGG, indem er den 10-prozentigen Aufschlag festzurrte „als angemessen, aber auch ausreichend“ [BSG, Urteil vom 22. März 2012, Az.: B 4 AS 16/11 R, Rdnr. 22].

Damit ist klar, daß in Zukunft entgegen der bisherigen Rechtsprechung des BSG bundesweit die Pauschalierung der KdU anhand der Tabellenwerte Wohngeldgesetz (mit „Sicherheitsaufschlag“) nicht mehr lange auf sich warten lassen wird. Und, bevor hier jemand meint, vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) eine Chance zu haben, dem bzw. der sei gesagt, daß das BVerfG schon öfter hat durchblicken lassen, daß es die Rechtsfrage der KdU nur unter dem Gesichtspunkt der Menschenwürde in der Weise betrachtet, daß selbst eine Obdachlosenunterkunft das Menschenrecht auf Wohnen sichert.

 

Auch beim Vergleichsraum hat es mit der Zeit eine negative Abweichung in der BSG-Rechtsprechung gegeben.

War in der Grundsatzentscheidung B 7b AS 18/06 R vom 7. November 2006 noch die Rede davon, daß „in größeren Städten andererseits eine Unterteilung in mehrere kleinere Vergleichsgebiete, die kommunalverfassungsrechtlich keine selbständigen Einheiten darstellen, geboten sein kann“ [BSG, a.a.O., Rdnr. 21], so ist spätestens seit der sogenannten Berlin-Entscheidung (BSG, Urteil vom 19. Oktober 2010, Az.: B 14 AS 2/10 R) – eigentlich schon vorher mit der sog. München-Entscheidung (BSG, Urteil vom 19. Februar 2009, Az.: B 4 AS 30/08 R) – klar, daß es das nicht geben wird. Die ÖPNV-Infrastruktur wird letztlich zum formalen Kriterium für die Bestimmung des sog. Vergleichsraumes. Es sei hier schon erwähnt, daß es das BSG letztlich den Grundsicherungsträgern und den unteren sozialgerichtlichen Instanzen überläßt, zu beurteilen, ob ein Schulkind in seiner Schule verbleiben darf oder in seinem sozialen Umfeld, oder ob eine halbe Stunde U-Bahn quer durch Berlin für ein achtjähriges, zehnjähriges Kind zumutbar sind.

Mit Berlin, der größten deutschen Stadt als einheitlichem Vergleichsraum, steht fest, daß es in ganz Deutschland keine Aufteilung großstädtischer (definiert als Ort mit mindestens 100.000 Einwohnern) Wohnräume geben wird. Daß die Realität am Beispiel Berlin mit der „Hartz IV“-Wanderungswelle von z.B. Berlin-Mitte nach Berlin-Spandau dieser BSG-Rechtsprechung Hohn spricht, interessiert das BSG nicht. Zum einen dürfte dies persönlich-empathisch damit zusammenhängen, daß Leute, die im Monat ein Grundgehalt von knapp 10.000,- Euro realisieren, dies nicht nachvollziehen können, zum anderen ist auch das BSG Teil des menschenverachtenden Machtapparates, der lieber mal so eben und schnell ein paar Bank-Zockern mit ein paar hundert Milliarden Euro den Arsch vergoldet und von den Griechen und Spaniern verlangt, daß sie für 600 Euro im Monat arbeiten, als sich wirklich um die Menschenrechte zu kümmern.

Ob hier die aktuelle BSG-Rechtsprechung wirklich die Verbesserung bringt, die sie andeutet, darf bezweifelt werden angesichts der realen Machtverhältnisse:

„Beide Senate gehen bei der Bestimmung des maßgeblichen Vergleichsraumes davon aus, dass persönliche Umstände wie etwa das (nähere) soziale und schulische Umfeld minderjähriger schulpflichtiger Kinder, Alleinerziehender oder behinderter oder pflegebedürftiger Menschen bzw der sie betreuenden Familienangehörigen Gründe darstellen können, die zu Einschränkungen der Obliegenheit zur Senkung unangemessener Kosten der Unterkunft im Sinne subjektiver Unzumutbarkeit führen.“ [BSG, Urteil vom 22. August 2012, Az.: B 14 AS 13/12 R, Rdnr. 21 – Hervorh. H.M. – so schon in der Osnabrück-Entscheidung (BSG, Urteil vom 18. Juni 2008, Az.: B 14/7b AS 44/06 R, Rdnr. 14)]

 

Beim Wohnstandard gibt es immerhin etwas Positives festzuhalten. Mit der schon erwähnten sog. Berlin-Entscheidung hat das BSG definitiv bindend festgelegt, daß Wohnungen mit Ofenheizung und ohne Bad nicht in die Bestimmung der „Angemessenheits“grenze mit einbezogen werden dürfen (BSG, Urteil vom 19. Oktober 2010, Az.: B 14 AS 2/10 R, Rdnr. 24).

Grundsätzlich müssen sich „Hartz IV“’ler auch nicht auf Obdachlosenunterkünfte verweisen lassen:

„So wie § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II nicht lediglich sicherstellen soll, dass ein Ort zum Schutz vor der Witterung zur Verfügung steht, an dem der Hilfebedürftige schlafen kann (…), soll auch die Übernahme von Mietschulden nach Abs 5 den persönlichen Lebensbereich ‚Wohnung’ des Hilfebedürftigen schützen. Das Tatbestandsmerkmal ‚drohende Wohnungslosigkeit’ kann damit nicht unter Hinweis auf Unterbringungsmöglichkeiten in einer Not- oder Obdachlosenunterkunft verneint werden.“ [BSG, Urteil vom 17. Juni 2010, Az.: B 14 AS 58/09 R, Rdnr. 28]

„Eine den Angemessenheitskriterien entsprechende Wohnung muss dabei konkret den Hilfebedürftigen anmietbar sein. Ersatzwohnungen stehen beispielsweise dann zur Verfügung, wenn der Träger der Grundsicherung auf ein sog ‚geschütztes Marktsegment’ zurückgreifen kann und dem Hilfebedürftigen eine Ersatzwohnung anbietet bzw vermittelt. Dagegen ist bei der Frage der drohenden Wohnungslosigkeit unerheblich, ob der Markt - … - allgemein ‚entspannt’ ist bzw es anderen Hilfebedürftigen regelmäßig gelingt (etwa im Rahmen von Kostensenkungsbemühungen nach § 22 Abs 1 Satz 3 SGB II), eine Ersatzwohnung zu finden.“ [BSG, a.a.O., Rdnr. 30]

Aber damit hat es sich auch schon an Positivem.

Denn, wer derzeit in Großstädten wie München, Hamburg etc. Wohnraum sucht, der weiß sehr bald, daß sich der Wohnstandard eben nicht im Quadratmeterpreis niederschlägt, sondern daß die Wohnraumknappheit den Preis bestimmt, so daß sogar Bruchbuden einen Quadratmeterpreis erzielen, den das BSG im gehobenen Wohnungsmarktsegment verorten würde. Hierauf nimmt die Rechtsprechung des BSG allerdings ignorant keine Rücksicht. Dabei diskutierte schon der 4. Deutsche Sozialgerichtstag im November 2012 einen möglichen höheren „Sicherheitsaufschlag“ auf die Tabellenwerte WoGG in höherpreisigen Vergleichsräumen.

 

Geradezu absurd wird es, wenn das BSG die Rechtsfrage der „konkreten Angemessenheit“ einerseits zugunsten der „Hartz IV“’ler beantwortet, indem es keinen Gegenbeweis verlangt:

„Ferner kann das schlüssige Konzept auch nicht gleichsam durch eine ‚Gegenprobe’ ersetzt werden, ob es möglich ist, innerhalb eines Vergleichsraums Wohnungen bis zur Höhe der Tabellenwerte anzumieten. Es ist vielmehr grundsätzlich ein planmäßiges Vorgehen des Grundsicherungsträgers im Sinne der systematischen Ermittlung und Bewertung der erforderlichen Tatsachen für sämtliche Anwendungsfälle im maßgeblichen Vergleichsraum erforderlich.“ [BSG, Urteil vom 17. Dezember 2009, Az.: B 4 AS 50/09 R, Rdnr. 22]

„Ebenfalls dahingestellt bleiben kann die von der Klägerin in diesem Zusammenhang erhobene Rüge einer Verletzung des Grundsatzes eines fairen Verfahrens nach Art 6 EMRK, weil sie die Nichtexistenz angemessener Wohnungen habe beweisen sollen. Derartiges wird von der Klägerin nicht verlangt, sondern nur eine Erschütterung des oben dargestellten Anscheinsbeweises (…).“ [BSG, Urteil vom 13. April 2011, Az.: B 14 AS 106/10 R, Rdnr. 32]

Andererseits erlaubt das BSG den Grundsicherungsträgern – und in deren Gefolge den unteren sozialgerichtlichen Instanzen – die nicht qualifizierte Senkungsaufforderung, die sich für die Betroffenen rechtlich gleichwohl als Obliegenheitspflicht darstellt, auch wenn sie nur Warnfunktion haben sollen:

„Er hat lediglich Aufklärungs- und Warnfunktion, damit der Hilfebedürftige Klarheit über die aus Sicht des Leistungsträgers angemessenen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung erhält (…; BSG Urteil vom 27. Februar 2008 - B 14/7b AS 70/06 R).“ [BSG, Urteil vom 15. April 2008, Az.: B 14/7b AS 34/06 R, Rdnr. 37]

„Nur wenn der Hilfebedürftige die Differenz zwischen den tatsächlichen Kosten der Unterkunft und den Angaben des Grundsicherungsträgers zu dem von ihm als angemessen angesehenen Mietpreis kennt - dies ist zugleich der rechtfertigende Grund für eine Kostensenkungsaufforderung mit ggf weitreichenden Folgen bis zum Verlust der bisherigen Wohnung als Lebensmittelpunkt - kann der Hilfebedürftige entscheiden, welche Maßnahmen einer Kostensenkung er ergreifen kann bzw will (vgl zu den verschiedenen Kostensenkungsmaßnahmen BSG Urteil vom 19.2.2009 - B 4 AS 30/08 R - … RdNr 30).“ [BSG, Urteil vom 1. Juni 2010, B 4 AS 78/09 R, Rdnr. 15]

Anfangs wurde dieser Streit geführt unter der Fragestellung, ob es sich bei der Senkungsaufforderung um einen Verwaltungsakt (mit Beschwer) handelt oder ob erst die Senkung der KdU durch den Grundsicherungsträger ein Verwaltungsakt ist. Letzteres hat sich durchgesetzt. Das ändert aber nichts daran, daß die „belanglose“ Senkungsaufforderung dennoch konkret wirkt. Wäre die rechtliche Beurteilung dazu übergegangen, die Senkungsaufforderung doch als Verwaltungsakt zu qualifizieren, dann müßten die Grundsicherungsträger schon bei der Senkungsaufforderung das vom BSG immer noch verlangte „schlüssige Konzept“ nachweisen. „Hartz IV“’ler hätten dann die Chance noch innerhalb des geschützten Zeitraums, wo noch die tatsächlichen Unterkunftskosten übernommen werden, die Rechtswidrigkeit bzw. Rechtmäßigkeit der KdU-Werte („Referenzmiete“) überprüfen zu lassen. So haben sie diese Möglichkeit erst in dem Moment, wo das Kind bereits mit dem Bade ausgeschüttet ist.

Allein wenn man bzw. frau betrachtet, daß das BSG nach drei Jahren „Hartz IV“ den Grundsicherungsträgern die Möglichkeit der KdU-Einsparungen mit Hilfe von Phantasiezahlen via Senkungsaufforderung höchstrichterlich ermöglicht hat, den Betroffenen aber erst nach fünf Jahren „Hartz IV“ mit dem Gegenbeweis-Verbot helfend zur Seite gesprungen ist, beweist, wes Geistes Kind die BSG-Rechtsprechung ist – mit geistiger Minderbemitteltheit läßt sich das jedenfalls nicht begründen, dafür steckt zu sehr Systematik hinter dieser Rechtsprechung.

 

Neben der „abstrakten Angemessenheit“ (Wohnungsgröße in Abhängigkeit von der Personenzahl, Vergleichsraum, „Referenzmiete“) und der „konkreten Angemessenheit“ (ausreichende Verfügbarkeit solcher Wohnungen im Vergleichsraum) konstruierte das BSG im Laufe der Zeit die „Zumutbarkeit“.

Gemeint ist damit die Aufweichung der pauschalen Kriterien der Wohnraumförderung zulasten der Betroffenen. So jetzt durch die neuesten Entscheidungen beider für „Hartz IV“ zuständigen BSG-Senate: BSG, Urteile vom 22. August 2012, Az.: B 14 AS 13/12 R und vom 11. Dezember 2012, Az.: B 4 AS 44/12 R.

Beide Entscheidungen beziehen sich auf „angemessenen“ Wohnraum für Alleinerziehende, die Entscheidungen lassen sich aber auch auf Schwerbehinderte übertragen. Hintergrund der BSG-Entscheidungen sind die Bemessung der Wohnraumgröße nach den Förderbestimmungen für den Sozialen Wohnungsbau. Am Beispiel Niedersachsen  – Grundlage der BSG-Entscheidung B 4 AS 44/12 R – sei dies kurz dargestellt:

In Punkt 11.2 der maßgeblichen Wohnraumförderbestimmungen [Nds. WFB 2003, Runderlaß des Nds. Sozialministeriums vom 27. Juni 2003, Nds. MinBl. 2003, S. 580] ist zunächst die abstrakte Wohnraumgröße in Abhängigkeit von der Personenzahl geregelt, bei Mietwohnungen also 50 m² für 1 Person, 60 m² für 2 Personen, 75 m² für 3 Personen, 85 m² für 4 Personen, zusätzliche 10 m² für jedes weitere Haushaltsmitglied. In Punkt 11.4 ist bestimmt, daß sich die „angemessene“ Wohnfläche für Alleinerziehende und für jeden Schwerbehinderten um weitere 10 m² erhöht.

Zunächst wurde durch das BSG der Anschein erweckt – vielleicht war es aber auch so beabsichtigt und die im Rahmen der Finanzkrise seit Oktober 2008 verschärfte Sozialpolitik hat diese Position erst nachträglich geändert –, auch die weiteren WFB-Bestimmungen wie der Wohnraum-Mehrbedarf für Alleinerziehende und Schwerbehinderte seien zu berücksichtigen.

So hatte das BSG in seiner Osnabrück-Entscheidung in einem obiter dictum diesen Anschein erweckt:

„Besondere Fallkonstellationen, die im Einzelfall zu einer Erhöhung der angemessenen Fläche führen können (Ziffer B Nr 11.4 und 11.5 Wohnraumförderungsbestimmungen – WFB 2003 -)… .“ [BSG, Urteil vom 18. Juni 2008, Az.: B 14/7b AS 44/06 R, Rdnr. 12].

Ebenso hatte der 4. BSG-Senat auf dem Verhandlungstermin am 3. März 2009 im Verfahren B 4 AS 17/08 R, wenn auch unter Hinweis auf seine schon im Februar 2009 im Verfahren B 4 AS 30/08 R geäußerten Kritik am fehlenden Tätigwerden des Verordnungsgebers (§ 27 SGB II a.F.), die Beteiligten zu einem Vergleich gebracht, welcher darin mündete, daß der klagenden Alleinerziehenden mit Kind statt der für zwei Personen üblichen 60 m² Wohnraum 75 m² wie für drei Personen von dem Grundsicherungsträger zugestanden wurden.

Dem widersprach jetzt der 14. BSG-Senat durch eine Distanzierung von sich selbst:

„Aber auch wohnraumförderungsrechtliche Sonderregelungen, die (entsprechend den Vorgaben des § 10 Abs 1 Nr 2 WoFG) auf persönliche Lebensverhältnisse Bezug nehmen, sind bei Bestimmung der Wohnflächen für die abstrakte Angemessenheitsprüfung nach § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II nicht zu berücksichtigen. ... Soweit in der vom Klägerbevollmächtigten zitierten Entscheidung des Senats vom 18.6.2008 (B 14/7b AS 44/06 R - ... RdNr 12 ...) eine gegenteilige Auffassung angedeutet ist, ohne dass dies tragend gewesen wäre (...), verfolgt der Senat diesen Ansatz nicht weiter.“ [BSG, Urteil vom 22. August 2012, Az.: B 14 AS 13/12 R, Rdnr. 19]

 

Alleinerziehende (und Menschen mit Behinderungen)

Für Alleinerziehende gab es schon vorher vereinzelte sozialgerichtliche Entscheidungen, sog. Wohnzimmer-Entscheidungen, die Alleinerziehenden einen Wohnraum-Mehrbedarf zuerkannten. Hintergrund dieser Entscheidungen war, daß Eltern mit einem Kind eine „angemessene“ Wohnfläche für drei Personen bekamen, sich also bei drei Zimmern eines als elterliches Schlafzimmer und ein weiteres als Wohnzimmer einrichten ließ, während Alleinerziehenden mit einem Kind nur die Wohnfläche für zwei Personen zugestanden wurde, hier also der Elternteil sich entweder mit dem Kind ein Zimmer als Schlafzimmer teilen mußte, oder aber die Familie mußte auf ein Wohnzimmer verzichten, was Gästebesuch erschwerte. Zu der Zeit, als ich Kind war, waren die Küchen grundsätzlich so groß, daß dort nicht nur gekocht werden konnte, sondern auch gesessen und gegessen – das Wohnzimmer war die „gute Stube“ –, was bei der heutigen Wohnungsbauweise schon großteilig ausgeschlossen ist.

Durch die nun vom BSG erfolgte Konkretisierung wurde dieses Rechtsproblem einerseits gelöst, andererseits verschärft. Es soll hier nicht auf die Spezifika der niedersächsischen Rechtsprechung eingegangen werden, wenn der eine LSG-Senat den Betroffenen im Falle der Anwendung der Tabellenwerte WoGG die Umrechnung der zusätzlichen 10 m² Wohnraum in eine fiktive weitere Person zugesteht, (so: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluß vom 27. Juli 2010, Az.: L 9 AS 1049/09 B ER; Beschluß vom 21. November 2011, Az.: L 11 AS 1063/11 B ER; Beschluß vom 12. August 2011, Az.: L 15 AS 173/11 B ER), der andere LSG-Senat nur bei einem „schlüssigen Konzept“ die weiteren 10 m² Wohnraum zugestehen will, hingegen die Umrechnung in eine weitere fiktive Person im Rahmen der Anwendung der Tabellenwerte WoGG aber verweigert bzw. grundsätzlich verweigert (so: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluß vom 13. Juli 2010, Az.: L 7 AS 1258/09 B ER; Urteil vom 28. Februar 2012, Az.: L 7 AS 1392/09). Dabei sieht der 7. LSG Niedersachsen-Senat durchaus richtig, daß mit dem Wohnraum-Mehrbedarf für Alleinerziehende diesen im Grunde ein weiteres Zimmer („Wohnzimmer-Entscheidung“) zugestanden werden soll, lehnt dies aber lapidar mit dem Verweis auf die Personenzahl ab: Alleinerziehende mit einem Kind seien eben nicht soviel Personen wie ein Elternpaar mit Kind. Das BSG hat nun diese Problematik verfestigt.

Schon in der sog. München-Entscheidung vom 19. Februar 2009 (BSG, B 4 AS 30/08 R, Rdnrn. 15-18) hatte das BSG die Anwendung der Kriterien des Sozialen Wohnungsbaus auch auf „Hartz IV“’ler kritisiert und im Grunde vom Bundesgesetzgeber eine Klärung über den Verordnungsparagraphen 27 SGB II a.F. gefordert, was angesichts der inzwischen erfolgten völligen Abschaffung dieses Verordnungsparagraphen hinfällig geworden ist. Allerdings kann das BSG nicht hingehen und einerseits für die eigentlich individuell-konkret zu bestimmenden KdU die Anwendung pauschaler Systeme wie die länderspezifischen Wohnflächenbestimmungen für den Sozialen Wohnungsbau zugrunde legen, andererseits aber die Anwendung dieser abstrakt pauschalen Kriterien nach Gutdünken willkürlich festlegen. Wenn das BSG diesen Systembruch zwischen vom Gesetz eigentlich geforderter individueller Konkretheit einerseits und pauschalen WFB- und Tab. WoGG-Bestimmungen andererseits zuläßt, dann muß es dort, wo es die pauschalen Systeme integriert, diese auch so nehmen, wie sie sind, und darf nicht hingehen und einerseits die pauschalen Werte übernehmen, andererseits, gerade dort, wo sie zugunsten der Betroffenen ausschlagen, aber wieder mit dem Schwert der individuellen Konkretheit kappen. Eine solche Vorgehensweise ist nicht nur inkonsequent, unwissenschaftlich, willkürlich, sie ist auch unter den realen Gegebenheiten menschenverachtend, weil sie gerade diejenigen, die ohnehin schon zusätzlich beschwert sind durch Alleinerziehung und Behinderung den wenigen Schutz raubt.

Der Verweis auf die Zumutbarkeit ist dabei keine Hilfe:

„So kann der Bedarf einer Alleinerziehenden mit einem Säugling, Kindergarten- oder Grundschulkind in Hinblick auf die räumliche Kontinuität (zB wegen der Betreuungssituation, Erfordernis eines eigenen Raumes für das Kind) - je nach den Umständen des Einzelfalls - ein ganz anderer sein als etwa der, der aus dem Zusammenleben mit einem Kind in einer weiterführenden Schule oder in einer sonstigen Ausbildung folgt. Diese Bedingungen können auch in zeitlicher Hinsicht Veränderungen unterliegen, denen bei der abstrakten Bemessung nicht hinreichend Rechnung getragen werden kann. Nichts anderes gilt bei einem durch gesundheitliche Einschränkungen ausgelösten besonderen Wohnbedarf. Die reine Erhöhung der abstrakt angemessenen Wohnraumgröße wird dem nicht gerecht.“ [BSG, Urteil vom 11. Dezember 2012, Az.: B 4 AS 44/12 R, Rdnr. 14]

„Der besondere Wohnbedarf bei Alleinerziehung ist einzig im Rahmen der Kostensenkungsobliegenheit in die Prüfung, ob die tatsächlichen Aufwendungen der Kläger als Leistungen für Unterkunft zu erbringen sind, einzubeziehen.“ [BSG, a.a.O., Rdnr. 19]

Dazu ist die BSG-Entscheidung des 14. Senats konkreter als die des 4. Senats:

„Beide Senate gehen bei der Bestimmung des maßgeblichen Vergleichsraumes davon aus, dass persönliche Umstände wie etwa das (nähere) soziale und schulische Umfeld minderjähriger schulpflichtiger Kinder, Alleinerziehender oder behinderter oder pflegebedürftiger Menschen bzw der sie betreuenden Familienangehörigen Gründe darstellen können, die zu Einschränkungen der Obliegenheit zur Senkung unangemessener Kosten der Unterkunft im Sinne subjektiver Unzumutbarkeit führen.“ [BSG, Urteil vom 22. August 2012, Az.: B 14 AS 13/12 R, Rdnr. 21]

„Das LSG wird damit nach Wiedereröffnung des Berufungsverfahrens die Lebensumstände der Kläger zu ermitteln haben. Es liegt nahe, dass der Kläger, der im August 2008 das 9. Lebensjahr vollendet hat, im streitigen Zeitraum eine Grundschule besucht hat. Das LSG wird zu überprüfen haben, welche Schule er besucht hat, welcher Schulweg sich daraus ergab und ob und ggf wie eine Nachmittagsbetreuung durch Dritte organisiert war. Soweit sich hieraus Einschränkungen auf ein bestimmtes schützenswertes soziales Umfeld ergeben, ist zu überprüfen, ob auch in diesem Umfeld ausreichender Wohnraum zu den abstrakt angemessenen Kriterien vorhanden war und ob schließlich die Aufforderung des Beklagten, die Kosten zu senken, vor dem Hintergrund solcher eingeschränkter Obliegenheiten noch ausreichend war.“ [BSG, a.a.O., Rdnr. 34]

„Aus solchen Umständen folgt allerdings im Regelfall kein Schutz der kostenunangemessenen Wohnung als solcher. Entsprechende Umstände schränken allenfalls die Obliegenheiten der Leistungsempfänger, die Kosten der Unterkunft zu senken, auf Bemühungen im näheren örtlichen Umfeld ein. Die Frage, ob einem Kind ein Schulwechsel zugemutet werden kann, lässt sich dabei nicht schematisch beantworten. Vor allem der im Einzelfall nach einem Umzug zumutbare Schulweg orientiert sich daran, was das Kind schon von der bisherigen Wohnung aus bewältigen musste, ob es etwa mit der Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln bereits vertraut ist bzw bereits einen Schulweg in bestimmter Länge zu Fuß (oder in fortgeschrittenem Alter mit dem Fahrrad) zurücklegen muss.“ [BSG, a.a.O., Rdnr. 31]

„Es braucht im derzeitigen Verfahrensstand nicht abschließend entschieden werden, ob jedem schulpflichtigen Kind ein eigenes Zimmer zuzubilligen ist und von daher nur Wohnungen mit einer bestimmten Raumzahl konkret zumutbar sind. Jedenfalls müssen Größe und Zuschnitt einer Wohnung einen gewissen Rückzugsraum für das Schulkind wie für den erwachsenen Elternteil ermöglichen.“ [BSG, a.a.O., Rdnr. 32]

„Ist das Vorliegen solcher Umstände im Ausgangspunkt - wie hier angesichts des Alters des Klägers und der Alleinerziehung durch die Klägerin - ohne Weiteres aktenkundig, sind sie vom Träger der Grundsicherung wie von den Gerichten im Einzelnen aufzuklären und die sich daraus ergebenden Konsequenzen von Amts wegen zu beachten. Erst wenn individuelle Umstände zutreffend erfasst und berücksichtigt worden sind und die daraus folgenden Obliegenheiten zur Kostensenkung an diese Umstände angepasst sind, müssen Leistungsberechtigte im Prozess darlegen, weshalb Kostensenkungsbemühungen gleichwohl keinen Erfolg hatten.“ [BSG, a.a.O., Rdnr. 33]

Schon hier wird deutlich, daß das BSG die Betroffenen im Regen stehen lassen will. Denn zukünftig wird es noch mehr von der Gnade oder der Willkür der Grundsicherungsträger und der untergeordneten Sozialgerichte abhängen, ob Alleinerziehende und Menschen mit Behinderungen noch weiter in die Not getrieben werden:

Ein Schwerbehinderter mit Rollstuhl, der sich in einer Fahrprüfung als sehr geschickt erweist, braucht individuell ein paar Quadratmeter Wohnraum-Mehrbedarf weniger als einer, welcher das nicht so gut kann. Ich sehe schon die Sadisten vor mir, wie sie feixend Behinderte über einen Parcours jagen lassen zwecks Begutachtung des individuellen Wohnbedarfs.

Was aber heißt die BSG-Rechtsprechung jetzt für Alleinerziehende?

Ein Elternteil mit einem noch nicht schulpflichtigen Kind bekommt keinen Wohnraum-Mehrbedarf, ein Elternteil mit einem schulpflichtigen oder pubertierenden oder erwachsenen (U-25) Kind aber wohl? Und wieviel Quadratmeter? Reicht es für ein weiteres Zimmer? Ach ich vergaß: die totale individuelle Freiheit der „Hartz IV“’ler: Wenn die alleinerziehende Mutter nicht mit ihrem pubertierenden Sohn oder der alleinerziehende Vater nicht mit seiner pubertierenden Tochter in einem Bett schlafen will, dann bleibt es der durch das Gesetz (§ 2 SGB II) gestärkten „eigenen Verantwortung“ der Betroffenen überlassen, ob sie zusammen in einem 15 m²-Zimmer schlafen oder ob das Kind oder der Elternteil sich in einen 5 m²-Raum pfercht. Früher waren solche Upkammer genannten Räume fürs Gesinde, wo nur ein Bett zum Schlafen und ein Nachtschränkchen mit Pisspott drinne stand. Daß Alleinerziehende mit Grundschulkind vielleicht Glück haben, weil aufgrund der Schulbezirke sonst die Schule gewechselt werden müßte, während Alleinerziehende mit Kindern auf weiterführenden Schulen Pech haben, weil die dann in „eigener Verantwortung“ entscheiden, ob sie zu ihrer alten Schule lange Fahrradwege in Kauf nehmen oder die Schule wechseln, sei nur ergänzend hinzugefügt.

Dabei ist es nicht wirklich förderlich, daß Betroffene im Einzelfall ihren Kostensenkungspflichten nur in einem eingeschränkten Vergleichsraum nachkommen sollen müssen und so vielleicht einen höheren KdU-Anspruch realisieren können, denn „[e]s braucht im derzeitigen Verfahrensstand nicht abschließend entschieden werden, ob jedem schulpflichtigen Kind ein eigenes Zimmer zuzubilligen ist und von daher nur Wohnungen mit einer bestimmten Raumzahl konkret zumutbar sind. Jedenfalls müssen Größe und Zuschnitt einer Wohnung einen gewissen Rückzugsraum für das Schulkind wie für den erwachsenen Elternteil ermöglichen“ [BSG, Urteil vom 22. August 2012, Az.: B 14 AS 13/12 R, Rdnr. 32]. Mal abgesehen davon, daß das BSG damit wieder für ein weiteres halbes Jahrzehnt entscheidende Aspekte im Schwebezustand hält zulasten der Betroffenen, wie soll eine solche Prüfung konkret aussehen? Der Außendienst des Grundsicherungsträgers nistet sich ein paar Tage in der Wohnung der Betroffenen ein, um zu prüfen, ob das Schulkind ein eigenes Zimmer zum Lernen braucht?

 

Wie die geneigten Leser erkennen, ist ab jetzt vieles möglich, vor allem noch mehr Streit vor den Sozialgerichten, noch mehr behördliche und richterliche Willkür. Immerhin haben die BSG-Richter mehr als ein halbes Jahrzehnt gebraucht, um die KdU-Rechtsprechung nach den ersten Grundsatzurteilen vom November 2006 soweit zu präzisieren – wäre alles schon 2006 bei der Delmenhorst-Entscheidung machbar gewesen.

Nein, der eingangs in den Zitaten des SG Mainz aufgezeigte Weg ist der einzig gangbare: solange „Hartz IV“’ler nicht in Luxuswohnungen leben, solange sind die tatsächlichen Unterkunftskosten ungedeckelt zu übernehmen.

 

 

 

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