Herbert Masslau

Einen Schritt vor, zwei zurück [1]oder wie das Bundesverfassungsgericht Hartz IV-Familien zerstört und das Willkürverbot ad absurdum führt

(17. September 2016)

 

 

Vorbemerkung

Dieser Artikel setzt sich mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) zur „Bedarfsgemeinschaft“ mit erwachsenen, d.h. volljährigen Kindern (sog. U-25) und ihren Eltern/-teilen auseinander [2].

Diese Entscheidung ist grundsätzlich zweischneidig:

Zum einen werden nun auch aus verfassungsrechtlicher Sicht gewisse Dinge endgültig geklärt, wie etwa der Begriff der „Bedarfsgemeinschaft“ und dessen Folgen für die Betroffenen, die nicht mehr ausschließlich der Verwaltungswillkür überlassen werden, wie auch in diesem Zusammenhang die Beschränkung des behördlichen Ermessens im Hinblick auf die Möglichkeit von U-25-Kindern, den elterlichen Haushalt verlassen zu können ohne Einbußen (§§ 22 Abs. 5 und 20 Abs. 3 SGB II n.F.) – eben einen Schritt vor.

Zum anderen wird die Realität ausgeklammert, wenn die „Bedarfsgemeinschaft“ zur Zwangsgemeinschaft wird wegen eines angespannten Wohnungsmarktes und gleichzeitig die Regelleistung auf 80% pauschal ohne (ausreichende) statistische Grundlage gekürzt wird sowie wenn vor allem die negativen Regelungen im SGB II gegenüber dem SGB XII festgeschrieben werden, und zwar mit einer haarsträubenden Begründung, die den gesetzlich formulierten gegenseitigen Ausschluß beider Sozialhilfesysteme komplett ignoriert – eben zwei Schritte zurück.

 

„Bedarfsgemeinschaft“ mit Kindern

Vorliegend geht es nur um die Begrifflichkeit der „Bedarfsgemeinschaft“ mit Kindern.

Schon 2006 hatte das Bundessozialgericht (BSG) festgestellt, daß es sich bei dem Begriff „Bedarfsgemeinschaft“ nicht um einen juristischen handelt, die „Bedarfsgemeinschaft“ also nicht als juristische Person auftritt, sondern der sozialhilferechtliche Induvidualisierungsgrundsatz gilt [3].

In den nächsten Jahren (ab 2009) und verstärkt in den letzten Jahren (2014) hat das BSG den Begriff der „Bedarfsgemeinschaft“ im Hinblick auf die Norm § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II näher konkretisiert.

Das perfide am Begriff der „Bedarfsgemeinschaft“ gegenüber dem Begriff der sozialhilferechtlichen „Einstandsgemeinschaft“ (BSHG, SGB XII) ist ja, daß nicht erst nach Befriedigung des eigenen Bedarfs einer Person deren übersteigendes Einkommen auf die eigene Familie angerechnet wird (sog. vertikale Methode), sondern das alles in einen Topf kommt und auf die einzelnen Mitglieder der „Bedarfsgemeinschaft“ verteilt wird (sog. horizontale Methode).

Folge dieser Vorgehensweise im Rahmen des SGB II ist, daß nicht nur unterhaltsrechtliche Bestimmungen zulasten der Betroffenen ausgehebelt werden, sondern Personen zu Hilfebedürftigen mit allen rechtlichen (Bestrafungs-)Folgen gemacht werden, die aufgrund eigenen Einkommens sonst gar nicht hilfebedürftig wären. Diese Perversität ist nun durch das BVerfG endgültig zementiert worden.

Zur „Bedarfsgemeinschaft“ mit Kindern hat das BSG die wesentlichen Grundzüge bereits ausgeurteilt.

Können minderjährige Kinder ihren eigenen Bedarf nicht aus eigenem Einkommen (z.B. Unterhalt im Alleinerziehendenhaushalt) decken, dann zählen sie gemäß § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II zur „Bedarfsgemeinschaft“ [4] [5].

Können hingegen minderjährige Kinder ihren Bedarf selbst durch Einkommen decken (z.B. Unterhalt + Wohngeld + Kindergeld), dann zählen sie ebenfalls nach § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II nicht zur „Bedarfsgemeinschaft“ [6] [7].

Das Gleiche gilt für erwachsene Kinder unter 25 Jahren (sog. U-25) [8].

Bereits hier ist klar und rechtlich durch die Revisionsinstanz geklärt, daß junge Erwachsene nur dann zur „Bedarfsgemeinschaft“ gehören, wenn sie hilfebedürftig im Sinne des SGB II sind. Sind sie dies nicht, führt das z.B. dazu, daß bei den Unterkunftskosten (KdU) sich die sog. „Angemessenheit“ nur an der verbleibenden „Bedarfsgemeinschaft“ orientiert.

Beispiel: Familie mit vier Personen, 1 U-25 mit ausreichendem eigenen Einkommen. Die „Bedarfsgemeinschaft“ besteht nicht aus 4, sondern nur aus 3 Personen. Die KdU werden zunächst kopfteilig auf 4 Personen verteilt, dann wird die „Angemessenheit“ der verbleibenden ¾-Miete für einen 3-Personen-Haushalt überprüft.

 

„Bedarfsgemeinschaft“ mit U-25-Kindern

Das BVerfG hat sich nun ausführlich mit diesem Konstrukt auseinandergesetzt.

Zentrale Aspekte waren dabei die reduzierte Regelleistung (80%) des Sohnes wie die Anrechnung des Renteneinkommens des Vaters beim Sohn, obwohl der Vater wegen der geringen Rente unterhaltsrechtlich (§§ 1601, 1603 BGB) nicht unterhaltspflichtig war. Konkret ging es darum, daß von 615 Euro, bereinigt 547 Euro Rente des Vaters 191 Euro leistungsmindernd beim Sohn angerechnet wurden.

Schon an dieser Stelle sei angemerkt, daß die Generalunkosten, die eigentlich zu einer Regelleistung von 100% führen, nicht dem Sohn, sondern dem Vater zugeordnet wurden, obwohl nicht der Sohn in die „Bedarfsgemeinschaft“ mit dem Vater zugeordnet wurde, sondern der Vater mit in die „Bedarfsgemeinschaft“ des Sohnes, was rechtlich durchaus andere Folgen zeitigen kann. Korrekterweise hätte hier dem Sohn die 100%-Regelleistung zugestanden und der Vater wäre auf 80% gesetzt. Allerdings ist so die vom BVerfG getroffene Regelung für den Vater günstiger und das BVerfG umgeht das Problem mit dem Eigentumsschutz des Art. 14 GG. Denn, ob dem Vater 345 Euro RL zustehen und dem Sohn 276 Euro RL und der Vater dem Sohn 191 Euro zahlen muß, oder ob dem Vater 276 Euro RL zustehen, dem Sohn 345 Euro RL und der Vater dem Sohn 260 Euro Vatereinkommen leisten muß, ist zunächst aus Sicht des Grundsicherungsträgers egal; der Grundsicherungsträger leistet in beiden Fällen 276 Euro RL + 10 Euro KdU ./. 191 Euro = 345 Euro RL + 10 Euro KdU ./. 260 Euro Vatereinkommen = 95 Euro.

Hierzu aber später mehr.

Vor der weiteren Betrachtung hier kurz die Ausgangssituation (Tatbestand/Sachstand):

Im Ausgangsfall der hier besprochenen Verfassungsbeschwerde (Vb.) lebten der Beschwerdeführer (Bf.) als erwachsenes, aber U-25-Kind, sein eine schmale Rente beziehender Vater sowie seine Schwester in gemeinsamem Haushalt. Die Schwester gehörte aufgrund eigenen ausreichenden Einkommens nicht zur „Bedarfsgemeinschaft“. Der Vater war zwar selbst aufgrund des Rentenbezugs gemäß § 7 Abs. 4 SGB II vom Leistungsbezug ausgeschlossen, wurde aber gemäß § 7 Abs. 3 Nr. 2 SGB II mit zur „Bedarfsgemeinschaft“ gezählt. Fiktiv wurden dabei dem Vater die damalige Regelleistung von 345,- Euro und ein KdU-Anteil von 10,92, insgesamt also an Bedarf 355,92 zuerkannt. Dem Sohn wurden als Bedarf damalige 276,- Euro Regelleistung (80%) und ebenfalls 10,92 KdU zuerkannt. Von der Rente des Vaters von 615,84 Euro, bereinigt auf 547,20 Euro, wurden 191,28 Euro als übersteigendes Einkommen beim Sohn leistungsmindernd berücksichtigt.

Der Bf. hatte keinen zivilrechtlichen Unterhaltsanspruch gegen seinen Vater, weil dessen Renteneinkommen unterhalb des Selbstbehalts (§ 1603 BGB) lag.

Die Vb. des Vaters wegen Verletzung des Eigentumsschutzes (Art. 14 GG) wurde vom BVerfG bereits mit Beschluß vom 6. Dezember 2011 nicht zur Entscheidung angenommen, mit der Begründung, der Vater beziehe daselbst keine SGB II-Leistungen und die Rente werde ungemindert an ihn ausgezahlt [9].

Der Sohn hatte bereits im Zeitpunkt der Erhebung der Vb. (2011) die Altersgrenze von 25 Jahren überschritten. Da der Sohn damit nicht mehr von der gekürzten Regelleistung (80%) betroffen war, wurde sich mit der Entscheidung 5 Jahre lang Zeit gelassen seitens des BVerfG. Für den konkreten Fall mag dies gerechtfertigt gewesen sein, nicht jedoch im Hinblick auf viele gleichgelagerte Fälle. Aber die Sorgen des BVerfG gelten ja ohnehin den Kinderfreibeträgen für Besserverdienende und der gerechten Beamtenbesoldung.

Gegenstand ist die Einbeziehung von Eltern in die „Bedarfsgemeinschaft“ mit erwachsenen Kindern. „Demgegenüber ist § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II zur Einbeziehung von Kindern in die Bedarfsgemeinschaft mit den Eltern nicht Gegenstand des Verfahrens.“ [10]

Die gesetzliche Erweiterung von 2006, gemäß § 7 Abs. 3 Nr. 2 SGB II in die „Bedarfsgemeinschaft“ volljährige Kinder zwischen 18 und 25 Jahren (sog. U-25) einzubeziehen, ist nach Auffassung des BVerfG sowohl mit Art. 1 Abs. 1 GG (Menschenwürde) in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG (Sozialstaatsgebot) als auch mit Art. 3 Abs. 1 GG (Willkürverbot) vereinbar [11].

Die Vorgabe, daß Personen, „von denen in einer Gemeinschaft ein gegenseitiges Einstehen in den Not- und Wechselfällen des Lebens erwartet werden kann“ [12], mit herangezogen werden, gilt zumindest im Rahmen einer Ehe oder Partnerschaft sowie bei unterhaltspflichtigen Verwandten, soweit Unterhaltsansprüche bestehen. „Der Gesetzgeber darf sich von der plausiblen Annahme leiten lassen, dass eine verwandtschaftliche Bindung in der Kernfamilie, also zwischen Eltern und Kindern, grundsätzlich so eng ist, dass ein gegenseitiges Einstehen in den Not- und Wechselfällen des Lebens erwartet werden kann und regelmäßig ‚aus einem Topf’ gewirtschaftet wird“. [13]

So sei eine Anrechnung von Einkommen und Vermögen auch dann nicht ausgeschlossen, wenn kein oder ein geringerer zivilrechtlicher Unterhaltsanspruch gegeben ist [12].

„Die Anrechnung darf nur nicht zu einer Benachteiligung von Ehe und Familie führen (…). Maßgebend sind aber insoweit nicht möglicherweise bestehende Rechtsansprüche, sondern die faktischen wirtschaftlichen Verhältnisse der Hilfebedürftigen, also das tatsächliche Wirtschaften ‚aus einem Topf’ (…). Nicht angerechnet werden darf, was zu leisten die Verpflichteten außerstande sind (…) oder was sie ohne rechtliche Verpflichtungen erkennbar nicht zu leisten bereit sind (…). Eine Grenze kann die Anrechnung auch in der Selbstbestimmung der Beteiligten (Art. 2 Abs. 1 GG) und der Freiheit in der Gestaltung des familiären Zusammenlebens (Art. 6 Abs. 1 GG) finden.“ [12]

„Weigern sich Eltern aber ernsthaft, für ihre nicht unterhaltsberechtigten Kinder einzustehen, fehlt es an einem gemeinsamen Haushalt und damit auch an der Voraussetzung einer Bedarfsgemeinschaft; eine Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen nach § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II scheidet dann aus (vgl. BSG, Urteil vom 14. März 2012 - B 14 AS 17/11 R -, juris, Rn. 29).“ [13]

Generell hält es das BVerfG für mit dem Grundgesetz vereinbar, familiäre Einspareffekte – wer legt die fest und wo sind die sauber berechnet?! – zu berücksichtigen [14].

„Es ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, zur Gewährleistung einer menschenwürdigen Existenz anerkannte Sozialleistungen in Orientierung an der Bedürftigkeit der Betroffenen pauschal um Einsparungen zu kürzen, die im familiären häuslichen Zusammenleben typisch sind.“ [15]

Wie sich das allerdings mit „der Selbstbestimmung der Beteiligten (Art. 2 Abs. 1 GG) und der Freiheit in der Gestaltung des familiären Zusammenlebens (Art. 6 Abs. 1 GG)“ [12] vereinbaren läßt, hat das BVerfG wohlwissend vermieden darzulegen. Dabei war die Angelegenheit dem BVerfG immerhin so wichtig, daß es einen Senatsbeschluß herbeigeführt hat und sich nicht mit einem Kammerbeschluß zufrieden gab. Aber – der Autor spricht aus Erfahrung als Alleinerziehender – ein Konkret-Werden hätte die Entscheidung des BVerfG sofort ad absurdum geführt.

Die Altersgrenze von 25 Jahren – bei der Krankenversicherung und beim Kindergeld für Kinder in Ausbildung auch schon seit Jahren auf gleiches Maß kalibriert – sei, so daß BVerfG, nicht untypisch:

„Diese Altersgrenze der Einbeziehung von Kindern in die Bedarfsgemeinschaft ist sachlich begründbar. Der Gesetzgeber orientiert sich mit dem Ende des 25. Lebensjahres an einem häufigen, jedenfalls nicht untypischen Zeitpunkt des Erreichens ökonomischer Eigenständigkeit sowie am empirisch belegten längeren Verbleib von Kindern im Elternhaus (vgl. Statistisches Bundesamt, Datenreport 2006, Auszug aus Teil II „Lebenssituation von Jugendlichen und jungen Erwachsenen“, S. 545 ff. und „Frauen und Männer in verschiedenen Lebensphasen“, 2010, S. 10).“ [16]

Damit ist eine offene Grenze gegeben. Wenn also aufgrund der verschärft prekären Arbeitsverhältnisse Kinder gezwungen sind, wegen der zusätzlich exorbitant steigenden Mieten im elterlichen Haushalt zu verbleiben, dann ist ein Anheben dieser Altersgrenze nicht mehr fern. Das Beispiel Italien mag die Richtung zeigen. Lebten dort in den 1990er Jahren männliche Kinder noch mit 30 Jahren im „Hotel Mamma“, so sind es jetzt bereits 35 Jahre.

 

Ein Schritt vor

„Desgleichen bestehen keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Entscheidung des Gesetzgebers, in eine solche Bedarfsgemeinschaft auch erwachsene Kinder bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres einzubeziehen (bb). … Dasselbe gilt, wenn dem Kind anderenfalls ein Auszug aus der Wohnung ohne nachteilige Folgen ermöglicht wird (cc).“ [17]

„Indem die gesetzlichen Bestimmungen zur Höhe des Anspruchs eine Anrechnung des elterlichen Einkommens vorsehen, wird der gesetzliche Anspruch auf Existenzsicherung nicht beseitigt, sondern nur der individuelle Leistungsanspruch gegen den Träger der Grundsicherung in Anknüpfung an die tatsächlichen Umstände beschränkt.“ [18]

„Weigern sich Eltern aber ernsthaft, für ihre nicht unterhaltsberechtigten Kinder einzustehen, fehlt es an einem gemeinsamen Haushalt und damit auch an der Voraussetzung einer Bedarfsgemeinschaft; eine Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen nach § 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II scheidet dann aus (vgl. BSG, Urteil vom 14. März 2012 - B 14 AS 17/11 R -, juris, Rn. 29).“ [13]

Damit ist ab jetzt zumindest klar geregelt, daß beim Auszugswillen eines U-25-Kindes – allerdings vorausgesetzt, die betreffenden Eltern bzw. der betreffende Elternteil zahlt nicht freiwillig mehr als pflichtgemäß – die Regelungen § 22 Abs. 5 SGB II n.F. (§ 22 Abs. 2a SGB II a.F.) und § 20 Abs. 3 SGB II n.F. (§ 20 Abs. 2a SGB II a.F.) nicht mehr willkürlich durch die Grundsicherungsträger gegen die Betroffenen angewandt werden können.

Eigentlich geben die Normvorgaben diese bisherige Verweigerungswillkür ohnehin nicht her:

§ 22 Abs. 5 SGB II n.F. lautet: „… werden Bedarfe für Unterkunft und Heizung für die Zeit nach einem Umzug bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres nur anerkannt, wenn der kommunale Träger dies vor Abschluss des Vertrages über die Unterkunft zugesichert hat.“

Und § 20 Abs. 3 SGB II n.F. bestimmt, daß nur 80% der Regelleistung erhält, wer als U-25 „ohne Zusicherung des zuständigen kommunalen Trägers nach § 22 Absatz 5 umzieh[t]“.

Laut BVerfG muß sich ein U-25-Kind nunmal der Mühe unterziehen, beim zuständigen Leistungsträger die Zustimmung zum Umzug zu beantragen. Diese darf allerdings nicht mehr einfach verweigert werden [13]. Nach dieser BVerfG-Entscheidung liegt hier eindeutig gebundenes Ermessen (sog. Null-Ermessen) vor.

Im konkreten Fall war hierzu aber nicht weiter zu entscheiden, da der Bf. ausdrücklich nicht aus dem elterlichen Haushalt ausziehen wollte [19].

Ebenso war in diesem Zusammenhang nicht über die Konsequenzen hinsichtlich der Regelleistung (80%) zu entscheiden [17]. Für den Bf. negativ hinzu kam, daß er gemäß § 24 SGB II a.F. noch einen Zuschlag von 80,- Euro bekam, sodaß „[d]ie Gesamtsumme […] damit höher [ist] als die damalige Regelleistung für Alleinstehende.“ [20]

Kurze Anmerkung des Autors: Das BVerfG vertritt schon länger die Auffassung, daß nur die Gesamtschau relevant ist, also eine verfassungswidrige Unterdeckung nur vorliegt, wenn die Gesamtleistung zu niedrig ausfällt. Dabei sind dann auch die Zuschüsse zur Krankenversicherung zu berücksichtigen, womit der Krankenversicherungsschutz sichergestellt wird, und es sind im Rahmen von Vb. und Eilrechtsverfahren die 30,- Euro Versicherungspauschale als für die Existenzsicherung zur Verfügung stehende Mittel zu betrachten wie überhaupt alle Freibeträge vom Einkommen.

 

Ein Schritt zurück

Dies betrifft zunächst die Ausführungen des BVerfG zur Regelleistung, und zwar zur Zulässigkeit der Reduzierung für ein erwachsenes Haushaltsmitglied auf 80% der Eckregelleistung.

„Die Annahme, das Hinzutreten eines weiteren Erwachsenen zu einer Bedarfsgemeinschaft führe zu einer regelbedarfsrelevanten Einsparung von 20 %, kann sich zumindest für die Zwei-Personen-Bedarfsgemeinschaft in der Gesamtbetrachtung auf eine ausreichende empirische Grundlage stützen. Das Bundesverfassungsgericht hat für Partnerinnen und Partner bereits ausdrücklich gebilligt, dass der Bedarf einer weiteren erwachsenen Person in einer Bedarfsgemeinschaft in einer Höhe von insgesamt 180 % für zwei Personen von dem statistisch ermittelten Bedarf der Alleinstehenden abgeleitet werden darf (vgl. BVerfGE 125, 175 <245>)“ [21].

„Nach wie vor fehlen zwar Daten zu den relevanten Haushalten, zum Verwandtschaftsverhältnis oder zum Konsumverhalten in der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), die der Gesetzgeber zur Bestimmung des existenzsichernden Bedarfs nutzt (vgl. BVerfGE 125, 175 <232 ff.>). Doch sind auch keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, warum ein erwachsenes Kind, das - wie der Beschwerdeführer - nur mit einem Elternteil zusammen lebt, einen höheren Bedarf haben soll als der hinzutretende Erwachsene in einem Paarhaushalt (vgl. Dudel/Garbuszus/Ott/Werdig, Überprüfung der bestehenden und Entwicklung neuer Verteilungsschlüssel zur Ermittlung von Regelbedarfen auf Basis der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2008, 2013, S. 286).“ [21]

Also, es fehlen Daten, die ja als statistischer Beweis für die Richtigkeit der Behauptung vonnöten wären, aber wenn man alle Augen zudrückt, „sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich“, daß 180% Regelleistung für zwei Erwachsene nicht doch ausreichend sind.

Eine solche Begründung von einem Beschwerdeführer bzw. einer Beschwerdeführerin in einer Verfassungsbeschwerde vorgebracht, wäre diesen vom BVerfG sofort mit Nichtannahme wegen mangelndem Subsidiaritätserfordernis um die Ohren gehauen worden. Was ist von einem Verfassungsgericht zu erwarten, das sich nicht einmal an seine eigenen Anforderungen hält?! Die Zwei-Klassen-Justiz nimmt immer absurdere, aber auch offensichtlichere Formen an.

In diesem Zusammenhang ist noch ein weiterer Aspekt von Bedeutung: die Generalunkosten des Haushalts werden dem von SGB II-Leistungen ausgeschlossenen Vater des Bf. zugeordnet, nicht dem erwachsenen Bf., der die „Bedarfsgemeinschaft“ begründet. Wie bereits weiter oben dargelegt, spielt dies aus Sicht des Grundsicherungsträgers finanziell betrachtet keine Rolle. Umgangen wird damit aber das Problem des Grundrechtseingriffs betreffs des Eigentumsschutzes Art. 14 GG im Hinblick auf die väterliche Rente. Die vom BVerfG willkürlich akzeptierte Zuordnung der Eckregelleistung zum Vater, obwohl dieser Mitglied der vom Sohn begründeten „Bedarfsgemeinschaft“ wurde und nicht umgekehrt, hat nur den einen „sachlichen“ Grund: die vom BVerfG beabsichtigte und vorgenommene Ausklammerung der Verfassungsbeschwerde des Vaters des Bf.

Gerade angesichts solcher Vorgehensweisen wird deutlich, wie das BVerfG zunehmend „Hartz IV“-Betroffene verarscht. Die immer wieder vom BVerfG geforderte Gesamtschau wird den Betroffenen zu ihrem Nachteil verweigert. Denn, um der Sache wirklich gerecht zu werden, und das hieße sowohl die Grundrechtsverletzung Art. 14 hinsichtlich der väterlichen Rente – zumindest in Höhe des Differenzbetrages von 345,- Euro zu 276,- Euro = 69,- Euro – zu vermeiden, als auch formal korrekt dem Sohn die volle Regelleistung zuzugestehen, hätten beide Personen die Eckregelleistung (100%) zugesprochen bekommen müssen. Wie diese Schlechterstellung von Familien mit der vom BVerfG geforderten „Selbstbestimmung der Beteiligten (Art. 2 Abs. 1 GG) und der Freiheit in der Gestaltung des familiären Zusammenlebens (Art. 6 Abs. 1 GG)“ [12] vereinbar ist, bleibt das nicht dargelegte und unentschiedene Geheimnis des BVerfG-Senats. Sonst verlangt das BVerfG im Rahmen seiner selbst erfundenen Subsidiaritätsanforderungen von Bf. immer die genaue Darlegung der Verletzung von Grundrechten. Hier aber läßt es für sich selbst argumentative Schwammigkeiten gelten:

„Es erscheint hinreichend plausibel, wenn der Gesetzgeber davon ausgeht, dass Eltern in häuslicher Gemeinschaft auch mit einem erwachsenen Kind regelmäßig den überwiegenden Teil der Kosten von Wohnungsausstattung, Hausrat oder etwa einer Tageszeitung oder anderen Mediendienstleistungen tragen und auf genaue Abrechnungen wie unter Fremden verzichten (…). Daher ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn der Gesetzgeber in der Bedarfsgemeinschaft in § 20 Abs. 2 Satz 2 SGB II für ein Kind einen geringeren Existenzsicherungsbedarf ansetzt als für den Elternteil.“ [22]

Dies ist rein spekulativ. Genauso ist denkbar, daß das U-25-Kind, weil es am meisten telefoniert, den Telefonanschluß (Festnetz) zahlt oder schon vor der Bedürftigkeit ein Tageszeitungsabonnement hatte, welches nach Eintritt der Bedürftigkeit der ganzen Familie weiterhin zur Verfügung steht, oder zusätzlich ist aufgrund anderer Einstellungen oder Interessen (politische, sonstige) des erwachsenen (!) Kindes. 

Hier geht es also nur darum, ein spekulatives Konstrukt aufzubauen, um Kosten zu sparen.

 

Noch einen Schritt zurück

Etwas ganz Besonderes hat sich das BVerfG geleistet, indem es SGB II und SGB XII im Sinne von Art. 3 GG (Gleichheitsgebot) für im Grunde „ungleich“ erklärte:

„Die unterschiedliche Ausgestaltung der Leistungen zur Existenzsicherung für unter- und über 25-jährige Kinder in Bedarfsgemeinschaft mit ihren Eltern oder einem Elternteil sowie zwischen im elterlichen Haushalt lebenden volljährigen Kindern im Zweiten Buch und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch ist mit den Anforderungen des allgemeinen Gleichheitssatzes in Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar.“ [23]

„Der Gesetzgeber hat Leistungen zur Existenzsicherung für Eltern und Kinder in unterschiedlichen Leistungssystemen unterschiedlich ausgestaltet. Er behandelt hier den Beschwerdeführer im System des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch mit den Regeln der Bedarfsgemeinschaft zu seinem Nachteil anders als ein volljähriges Kind in der Einstandsgemeinschaft, wie sie im Zwölften Buch Sozialgesetzbuch normiert ist. Dort wird Einkommen und Vermögen nicht über das 18. Lebensjahr hinaus angerechnet. Die Zielgruppen der jeweiligen Sicherungssysteme unterscheiden sich in einem Maße voneinander, das es bereits fraglich erscheinen lässt, ob überhaupt vergleichbare Sachverhalte vorliegen; jedenfalls sind unterschiedliche Anrechnungsregeln sachlich gerechtfertigt. Das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch erfasst Hilfebedürftige, die entweder insbesondere vorübergehend (Drittes Kapitel) oder dauerhaft voll erwerbsgemindert (Viertes Kapitel), deren Möglichkeiten, sich selbst zu unterhalten, also deutlich eingeschränkt sind. Deshalb hat der Gesetzgeber entschieden, dass Einkommen der Eltern nicht auf Leistungen an entsprechend erwerbsgeminderte, volljährige Kinder anzurechnen ist, die noch bei ihren Eltern wohnen, um so ihre Selbstständigkeit zu stärken. Demgegenüber zielt das Zweite Buch Sozialgesetzbuch auf Bedürftige, die ihren Lebensunterhalt grundsätzlich selbst sichern könnten. Die Leistungen zur Existenzsicherung werden vorübergehend gewährt und sie werden durch Leistungen zur Vermittlung in Arbeit ergänzt. Diese Unterschiede genügen, um auch unterschiedliche Anrechnungsregeln sachlich zu begründen.“ [24]

Das BVerfG ignoriert dabei den gegenseitigen Ausschluß beider existenzsichernder Sozialleistungssysteme, wie dieser in § 5 Abs. 2 SGB II und § 21 SGB XII normiert ist.

Das BVerfG ignoriert auch die BSG-Rechtsprechung, die besagt, daß „… die Leistungen nach dem SGB II, dem SGB XII und dem AsylbLG […] drei nebeneinanderstehende Existenzsicherungssysteme [bilden].“ [25]

Von jedem Bf. hätte das BVerfG im Rahmen der selbstherrlich bestimmten Subsidiarität die argumentative Auseinandersetzung mit den Normvorgaben und der höchstrichterlichen Rechtsprechung hierzu verlangt und andererseits die Vb. nicht zur Entscheidung angenommen. Selbst hält es sich nicht an seine eigenen Vorgaben, sondern begnügt sich mit der rein spekulativen Annahme, die SGB II-Leistungen dienten in erster Linie der Vermittlung in Arbeit und würden nur vorübergehend geleistet. Wie sich das mit der manifesten Langzeitarbeitslosigkeit erklärt oder im Hinblick auf Abiturienten, die ja gar nicht bis zum Abitur vermittelt werden können, darauf bleibt das BVerfG ebenfalls eine Antwort schuldig.

Wie Pippi Langstrumpf es singt, so macht sich das BVerfG die Welt, wie es ihm gefällt. Für Fünfzehntausend Euro Grundgehalt im Monat kann man mehr verlangen!

 

 

Fußnoten:

  [1] Wladimir Iljitsch Uljanov genannt „Lenin“ 1904

  [2] BVerfG, Senatsbeschluß vom 27. Juli 2016, Az.: 1 BvR 371/11

  [3] BSG, Urteil vom 7. November 2006, Az.: B 7b AS 8/06 R, Rdnr. 12

  [4] BSG, Urteil vom 28. Oktober 2014, Az.: B 14 AS 61/13 R, Rdnr. 10

  [5] BSG, Urteil vom 20. Februar 2014, Az.: B 14 AS 53/12 R, Rdnr. 14

  [6] BSG, Urteil vom 20. Februar 2014, Az.: B 14 AS 53/12 R, Rdnr. 15

  [7] BSG, Urteil vom 13. Mai 2009, Az.: B 4 AS 39/08 R, Rdnr. 14

  [8] BSG, Urteil vom 14. März 2012, Az.: B 14 AS 45/11 R, Rdnr. 15

  [9] BVerfG, a.a.O., Rdnr. 23

[10] BVerfG, a.a.O., Rdnr. 30

[11] BVerfG, a.a.O., Rdnrn. 32, 57]

[12] BVerfG, a.a.O., Rdnr. 39

[13] BVerfG, a.a.O., Rdnr. 65

[14] BVerfG, a.a.O., Rdnr. 45

[15] BVerfG, a.a.O., Rdnrn. 52, 53

[16] BVerfG, a.a.O., Rdnr. 59

[17] BVerfG, a.a.O., Rdnr. 45; auch: Rdnrn. 67, 76

[18] BVerfG, a.a.O., Rdnr. 62

[19] BVerfG, a.a.O., Rdnr. 66

[20] BVerfG, a.a.O., Rdnr. 49

[21] BVerfG, a.a.O., Rdnr. 55

[22] BVerfG, a.a.O., Rdnr. 56

[23] BVerfG, a.a.O., Rdnr. 68

[24] BVerfG, a.a.O., Rdnr. 74

[25] BSG, Urteil vom 25. Juni 2015, Az.: B 14 AS 17/14 R, Rdnr. 9

 

 

 

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