Herbert Masslau

Kostensenkungsaufforderungen bei den Unterkunftskosten aus verfassungsrechtlicher Sicht

(16. Juni 2013)

 

 

Die Kostensenkungsaufforderung zur Senkung der „unangemessenen“ Unterkunftskosten (KdU) stellt nach gültiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes (BSG) [BSG, Urteil vom 15. April 2008, Az.: B 14/7b AS 34/06 R, Rdnr. 37] lediglich eine „Warnung“ dar. Damit ist ihr der Charakter der zivilrechtlichen „Mahnung“ zuerkannt. Im Unterschied zur zivilrechtlichen Mahnung eines Bürgers, die auch noch kein Zwangsmittel darstellt, keinen durchsetzbaren Titel, wohl aber Voraussetzung ist für die Einleitung eines Gerichtsverfahrens zur Durchsetzung eines solchen Titels, findet analog dem Verwaltungsvollstreckungsrecht per Verwaltungsakt (VA), nämlich per Leistungsbescheid, die Absenkung der KdU statt, ohne daß es hierfür eines gerichtlichen Titels bedarf.

Erst vor den Sozialgerichten im Rahmen eines sozialgerichtlichen Eilrechts- oder Klageverfahrens wird die Rechtmäßigkeit der aufgrund der Kostensenkungsaufforderung erfolgten tatsächlichen Absenkung der KdU überprüft.

Es geht hier nicht darum, daß der Grundsicherungsträger echte Phantasiezahlen, die vollkommen willkürlich gegriffen sind, in die Kostensenkungsaufforderung reinschreibt. Es sei durchaus unterstellt, wie es der Realität entspricht, daß die Grundsicherungsträger auf die Tabellenwerte Wohngeldgesetz (WoGG) zurückgreifen: Tab. § 8 WoGG (2001/2005), Tab. § 12 Abs. 1 WoGG (2009). Entscheidend ist, daß keine Analyse des örtlichen Wohnungsmarktes stattfindet, sondern „Hartz IV“-Empfängerinnen und -Empfängern de facto genau jener „Gegenbeweis“ abverlangt wird, der laut BSG unzulässig ist [BSG, Urteile vom 17. Dezember 2009, Az.: B 4 AS 50/09 R, Rdnr. 22 und vom 13. April 2011, Az.: B 14 AS 106/10 R, Rdnr. 32].

Das Problem, um das es hier geht, ist, daß es das BSG zugelassen hat, daß der Grundsicherungsträger erstmal die KdU-Leistung absenken darf. Im Sozialhilferecht (SGB II, SGB XII) erlaubt die Kostensenkungsaufforderung dem Grundsicherungsträger die Absenkung der KdU, obwohl die Rechtmäßigkeit der Kostensenkungsaufforderung noch nicht gerichtlich, sei es im Eilrechtsverfahren durch Beschluß, sei es im Hauptsacheverfahren durch Urteil bestätigt ist.

Ironischerweise stellt gerade das BSG zum Wohnen fest, daß es sich beim Wohnen um ein Menschenrecht handelt und die Wohnkosten Teil des sozio-kulturellen Existenzminimums sind [BSG, Urteil vom 16. Dezember 2008, Az.: B 4 AS 1/08 R, Rdnr. 15]. Dem spricht das Recht der Grundsicherungsträger, noch vor einer gerichtlichen Überprüfung die bewilligten KdU absenken zu dürfen, Hohn.

„Hartz IV“-Empfängerinnen und -Empfänger sind schon auf der untersten Stufe, müssen bereits vom Existenzminimum leben, welches ihnen ohngeachtet der Realität einfach gekürzt wird – realistischerweise aus rein fiskalischen Gründen.

Die Konstruktion des § 22 SGB II eröffnet jedem kommunalen Träger willkürliche Handlungsperspektiven, obwohl die KdU lediglich aus der Regelleistung, die bundesweit nach EVS festgelegt ist, herausgenommen wurden, um sie der Pauschalierung zu entziehen. Insofern, wie es der 4. BSG-Senat mal zurecht kritisiert hat [BSG, Urteil vom 19. Februar 2009, Az.: B 4 AS 30/08 R, Rdnr. 16], hat sich der Bundesgesetzgeber hier seiner Pflicht und Verantwortung entzogen – und ich behaupte, mit genau der Absicht, den Kommunen die Möglichkeit zu eröffnen, aus rein fiskalischen Gründen die KdU willkürlich festlegen zu können.

Dem sind inzwischen einige Sozialgerichte entgegengetreten:

Auf den Aspekt der Verfassungswidrigkeit, den Kommunen die Bestimmung der „angemessenen“ KdU zu überlassen, verweisen

– SG Mainz, Urteil vom 8. Juni 2012, Az.: S 17 AS 1452/09

– SG Mainz, Urteil vom 19. April 2012, Az.: S 17 AS 518/12

– SG Leipzig, Urteil vom 15. Februar 2013, Az.: S 20 AS 2707/12

– SG Dresden, Urteil vom 25. Januar 2013, Az.: S 20 AS 4915/11.

Alle Urteile berufen sich auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Regelleistung [BVerfG, Urteile vom 9. Februar 2010, Az. 1 BvL 1/09 u.a.] und halten die BSG-Rechtsprechung nicht mehr für tragfähig, da die Gewährleistung des verfassungsrechtlichen Existenzminimums, hier: das Wohnen, durch Parlamentsgesetz erfolgen muß. Es darf auch keine Unbestimmtheit – die „angemessenen“ KdU sind ein unbestimmter Rechtsbegriff, der durch die Sozialgerichte auszulegen ist – gegeben sein; allein der Bundesgesetzgeber muß im Rahmen des SGB II dieses Existenzminimum regeln, die Bestimmung darf nicht den zuständigen Behörden oder Sozialgerichten überlassen bleiben. Das SG Mainz und das SG Leipzig folgern daraus, daß die tatsächlichen KdU solange als „angemessen“ zu gelten haben und zu übernehmen sind, wie sie nicht in einem offensichtlichen Mißverhältnis zu den Lebensumständen des Hilfebedürftigen stehen, wobei das SG Mainz eigentlich noch weitergeht, indem es die Übernahme der tatsächlichen KdU für insoweit als gerechtfertigt ansieht, als daß es sich nicht um eine Luxuswohnung handelt. Das SG Dresden führt seine Argumentation nicht konsequent zu Ende, sondern greift auf Tab. § 12 WoGG zurück, solange keine BVerfG-Rechtsprechung vorliegt, während das SG Mainz und das SG Leipzig immerhin den § 22 SGB II verfassungskonform auslegen wollen.

Entsprechend der argumentativen Logik beziehen die genannten Sozialgerichte ihre Beurteilung nicht nur auf die Anwendung der Tabellenwerte WoGG, sondern auch auf das sog. schlüssige Konzept des BSG. Für die Kostensenkungsaufforderung folgt daraus, daß sie zwangsläufig bedeutungslos ist, solange der Bundesgesetzgeber als das für das SGB II zuständige Verfassungsorgan den § 22 SGB II nicht inhaltlich hinreichend bestimmt hat.

Genau diese Klippe versucht das BSG zu umschiffen, um nicht dem BVerfG den § 22 SGB II vorlegen zu müssen, und, so steht berechtigt zu befürchten, den Kommunen auf Jahre hinaus rechtswidrige Kostenersparnisse zu Lasten der „Hartz IV“-Empfängerinnen und -Empfänger zu ermöglichen. So befand das BSG [BSG, Urteil vom 22. August 2012, Az.: B 14 AS 13/12 R, Rdnr. 33], daß individuelle Hinderungsgründe im Rahmen der Ermittlung der „konkreten Angemessenheit“ von den Grundsicherungsträgern zu berücksichtigen und von den Sozialgerichten zu ermitteln seien und erst dann die Hilfeempfängerinnen und -empfänger im Gerichtsverfahren darlegen müssen, weshalb Kostensenkungsbemühungen erfolglos seien. In einem anderen Zusammenhang hat das BSG dem Grundrecht auf Wohnen – systemwidrig ! – zum Durchbruch verholfen: Wird ein erwachsenes Mitglied der Bedarfsgemeinschaft nach §§ 31 ff. SGB II zu 100 Prozent sanktioniert, so sind vorübergehend die KdU auf die verbleibenden BG-Mitglieder aufzuteilen [BSG, Urteil vom 23. Mai 2013, Az.: B 4 AS 67/12 R], ist von einer vorübergehenden Unmöglichkeit der Kostensenkung der KdU auszugehen.

Das BSG ist permanent durch seine eigene grundrechtswidrige KdU-Rechtsprechung gezwungen, systemwidrig von den einzelnen gesetzlichen Bestimmungen abzuweichen. Das beste Beispiel ist die Festlegung der KdU entgegen § 22 SGB II als Pauschale in Form der Tabellenwerte WoGG plus 10-prozentigem Sicherheitsaufschlag: erst generell verboten und nur als Notlösung erlaubt [BSG, Urteil vom 7. November 2006, Az.: B 7b AS 18/06 R], dann allgemein zugelassen [BSG, Urteil vom 22. März 2012, Az.: B 4 AS 16/11 R], obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits in der info also Nr. 1/2012 meine revisionsrechtliche Kritik und Fragestellung vorlag, die jetzt erst Gegenstand vorliegender Revisionsverfahren [B 4 AS 3bis5/13 R] ist. Die Rechtsprechung des BSG seit 2006 hat es nämlich zugelassen, daß sich zunehmend die Grundsicherungsträger, vor allem aber die Sozialgerichte und Landessozialgerichte es sich einfach machen, die örtlich „angemessenen“ KdU nicht mehr ermitteln, sondern gleich auf die um den Sicherheitsaufschlag erhöhten Tabellenwerte WoGG rekurrieren. Dabei spricht § 22 SGB II zwar von einer Deckelung der tatsächlichen Unterkunftskosten, aber das BSG war nicht gezwungen, diese Deckelung bei den Tabellenwerten WoGG, die es im Regelfall für nicht anwendbar hält, festzuzurren. Wenn das BSG die Tabellenwerte WoGG für nicht anwendbar hält, weil diese einem anderen Ziel als der Deckung des tatsächlichen Unterkunftsbedarfs dienen, dann hätte es sich auch von vorneherein der Position des SG Mainz anschließen können, oder spätestens seit dessen erstem Urteil, daß „angemessen“ alles ist, was nicht als Luxuswohnung zu qualifizieren, sondern im Rahmen des Gewöhnlichen und Durchschnittlichen anzusiedeln ist.

 

 

 

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