Herbert Masslau

Sippenhaft durch „Hartz IV“

(31. Juli 2011)

 

 

Vorbemerkung

Der Autor dieser Zeilen war in der mündlichen Verhandlung am 13. November 2008 selbst zugegen als im Verfahren B 14 AS 2/08 R [mittlerweile BVerfG, 1 BvR 1083/09] die Einführung der Sippenhaft in das deutsche Sozialrecht vom 14. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) unter Vorsitz von Prof. Spellbrink gebilligt wurde.

Besonders pervers war jener Moment, in welchem mit Hinweis auf die Möglichkeit, der Mutter der betroffenen Tochter könnte das Sorgerecht für diese entzogen werden, wenn sie nicht im Rahmen der sog. Familiennothilfe ihren vom neuen Lebensgefährten an sich gewährten Unterhalt an die eigene Tochter durchreiche, um deren Existenzminimum sicherzustellen, – es kann durchaus gesagt werden: – gedroht wurde.

Das war so einer der Momente, wo mir der Dorfrichter Adam aus Heinrich von Kleists Der zerbrochene Krug in den Sinn kam.

In einer von mir in einem anderen Zusammenhang erhobenen Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht (1 BvR 232/11) habe ich dann unter Anderem den nachfolgenden Text verfaßt, den ich dann auch in den sozialgerichtlichen Klagen seither verwende. Hintergrund ist dabei nicht der § 9 Abs. 2 SGB II, der mit der alten sozialhilferechtlichen sog. vertikalen Methode der Anrechnung von Einkommen bricht zu Gunsten der sog. horizontalen Methode, so daß jemand, der durch eigenes Einkommen nicht hilfebedürftig ist, im Rahmen der sog. Bedarfsgemeinschaft selber hilfebedürftig werden kann, weil sein Einkommen in den gemeinsamen Topf der Bedarfsgemeinschaft kommt, einer perversen Rechtskonstruktion, die dem immer noch herrschenden Individualitätsprinzip im Sozialhilferecht diametral zuwider läuft. Entsprechend galt es im Rahmen des Sozialhilferechts höchstrichterlich bisher als anerkannt, daß die zwangsweise Versozialhilferisierung gegen das verfassungsmäßig garantierte Persönlichkeitsrecht und letztlich auch die Menschenwürde verstößt. Hintergrund im Falle meiner Familie ist die Sippenhaft hinsichtlich der Kostensenkungsaufforderung bei den Unterkunftskosten (KdU), von welcher über mich als alleinerziehendem Vater auch meine drei Kinder (minderjährig und U-25) mitbetroffen sind, obwohl diese zumindest nach den niedrigeren Berechnungen der Sozialbehörde und der Sozialgerichte wegen Einkommen aus Unterhalt, Wohngeld und Kindergeld als nicht hilfebedürftig gelten, was bei einer Ermittlung der „angemessenen“ KdU durch die Optionskommune und einer verfassungsgemäßen Regelleistung anders aussähe.

Mit geringfügiger Ergänzung und unter Auslassung der familienspezifischen Einzelheiten entspricht also der nachfolgende Text meinem Schriftsatz vom 4. April 2011 an das Bundesverfassungsgericht.

 

Sippenhaft

Verfassungswidrigkeit der Sippenhaftung im Spannungsverhältnis Individualisierungsgrundsatz vs. Bedarfsgemeinschaft

Das Bundessozialgericht (BSG) hat in seinem Urteil vom 7. November 2006 im Verfahren B 7b AS 8/06 R (Rdnrn. 12 u. 13) festgestellt:

„Materiellrechtliche Grundlage für die Auslegung des Prozessrechts ist, dass das SGB II keinen Anspruch einer Bedarfsgemeinschaft als solcher, die keine juristische Person darstellt, kennt, sondern dass - außer bei ausdrücklichem gesetzlichen Ausschluss – Anspruchsinhaber jeweils alle einzelnen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft sind,…“.

„Aus der Bedarfsgemeinschaft kann auch ansonsten keine Gesamtgläubigerschaft (§ 428 Bürgerliches Gesetzbuch <BGB>) oder eine gesetzliche Verfahrens- und Prozessstandschaft jedes Mitglieds für die Ansprüche der anderen Mitglieder abgeleitet werden. Auch dies würde dem Einzelanspruchscharakter widersprechen;…“.

„Das einzelne Mitglied der Bedarfsgemeinschaft kann also schon deshalb nicht mit einer eigenen Klage die Ansprüche aller Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft verfolgen.“

Das BSG hat aber dennoch im Laufe der Zeit das Spannungsverhältnis zwischen Individualisierungsgrundsatz und Bedarfsgemeinschaft zu Gunsten der Bedarfsgemeinschaft verschoben. Erinnert sei hier insbesondere an die sog. „faktische Stiefkinder“-Entscheidung B 14 AS 2/08 R vom 13. November 2008, die jetzt als Verfahren 1 BvR 1083/09 beim BVerfG anhängig ist. Erinnert sei auch an die Entscheidung im Verfahren B 14 AS 51/09 R vom 19. Oktober 2010, in welcher sich folgender wichtiger Satz findet (Rdnr. 20):

„Hierbei ist nochmals klarzustellen, dass für den Kläger zu 2 aus der Berücksichtigung seiner Rente als Einkommen seines Sohnes im SGB II keinerlei rechtliche Pflichten erwachsen, seinen Sohn tatsächlich mit dem betreffenden Betrag auch zu unterstützten (…).“

Damit hat das BSG durch seine Rechtsprechung familiäre Notsituationen provoziert, die in dieser Form unter dem alten Sozialhilfesystem BSHG mit seinem „echten“ Individualisierungsgrundsatz und seinem Begriff der Einstandsgemeinschaft so nicht möglich waren.

Es war schon immer Bestreben der Sozialhilfeträger seit Manifestierung der Massenarbeitslosigkeit nach der Wirtschaftskrise 1981/82 Sozialhilfeempfänger zu Menschen zweiter Klasse zu machen unter dem Motto „Sozialhilferecht bricht Zivilrecht“. Diesem wurde gerade unter Menschenrechtsaspekten nicht nachgegeben. Erst mit der Einführung von „Hartz IV“ – erinnert sei nur daran, daß in einer der ersten Entwürfe Hilfeempfänger sogar ihre Freunde angeben sollten, damit diese zu zivilrechtlich nicht möglichen, aber sozialhilferechtlich gewollten Unterhaltsleistungen herangezogen werden sollten – und der Konstruktion der sog. Bedarfsgemeinschaft, die nachwievor kein Rechtsbegriff ist, wurde die Sippenhaft möglich. Das BSG kann sich auch nicht damit herausreden, wenn es in der bereits zitierten Entscheidung B 7b AS 8/06 R (Rdnr. 13) feststellt:

„Dies mag wenig sinnvoll erscheinen, entspricht jedoch dem Willen des Gesetzgebers, der nicht einfach übergangen werden kann.“

Es bleibt die Sippenhaftung. Im Falle der „faktischen Stiefkinder“-Entscheidung – dieser Begriff mußte ja extra vom BSG geprägt werden, weil es rechtlich nur Stiefkinder als nicht leibliche Kinder eines eingeheirateten Ehepartners gibt – wird daraus die perverse Situation, daß einem hilfebedürftigen Mädchen die Hilfebedürftigkeit abgestritten wird, weil ihre Mutter das wiederum vom Lebensgefährten an sie gezahlte Unterhaltsgeld unter Androhung des Entzugs des Personensorgerechts im Rahmen der familiären Nothilfe an das eigene Kind durchreichen soll, in Spekulation darauf, daß die dann hilfebedürftig gewordene Mutter ein zweites Mal vom Lebensgefährten die Unterhaltsleistung bekommt, in Spekulation darauf, daß der zivilrechtlich nicht unterhaltsverpflichtete Lebensgefährte der Mutter auch deren Tochter mitunterhält, ohne daß sich das BSG dabei noch groß der Mühe unterzogen hätte, die gleichfalls bestehende „echte“ Unterhaltspflicht des Lebensgefährten gegenüber seiner eigenen Tochter als rechtlich problematisch zu thematisieren. – Interessanterweise hat das LSG NRW, indem es die Position des BSG bezog und die Berufung als unbegründet zurückwies, dennoch wegen grundsätzlicher Bedeutung die Revision zugelassen, weil es auf Grund der massiven Kritik in der juristischen Literatur und der Hängigkeit beim BVerfG (1 BvR 1083/09) „eine nochmalige höchst-richterliche Befassung“ für angezeigt hielt [LSG NRW, Beschluß vom 16. Februar 2010, Az.: L 20 AS 21/09, zit.n. https://sozialgerichtsbarkeit.de – Revision unter B 4 AS 67/11 R]. –

Dieser Fall ist kompliziert, weil er gleichsam über Bande spielt, indem es innerhalb einer Haushaltsgemeinschaft, einer neuen Familie, drei verschiedene Bedarfsgemeinschaften (Lebensgefährte u. Tochter, Mutter u. Tochter, Mutter u. Lebens-gefährte) gibt.

Einfacher stellt sich die Sache im Falle des Vaters, der Rentner ist und mit seinem volljährigen, aber U-25-Sohn zusammenlebt, dar: Der zivilrechtlich nicht unterhaltspflichtige Vater, weil seine Rente unterhalb des Selbstbehalts liegt, der zudem selber qua lege vom Bezug von SGB II-Leistungen ausgeschlossen ist, soll „moralisch“ gezwungen werden, die bei seinem hilfebedürftigen Sohn durch Anrechnung von Rentenanteilen des Vaters in nicht unbedeutender Höhe gekürzte Sozialleistung aufzufüllen, obwohl er durch kein Gesetz dazu gezwungen werden kann.

Bliebe dies so bestehen, würde das zur Folge haben, daß Sozialhilfeempfänger – auch SGB II’ler sind Sozialhilfeempfänger – zunehmend vom Zivilrecht ausgeschlossen würden.

Das kann nicht sein!

 

 

 

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