Herbert Masslau

Zwangsverrentung – BSG ignoriert Grundgesetz

(27. Oktober 2015)

 

 

Vorbemerkung

Das Bundessozialgericht (BSG) hat am 19. August 2015 in dem Verfahren B 14 AS 1/15 R erstmals eine Grundsatzentscheidung zur Zwangsverrentung gefällt.

Nicht nur ist das BSG dabei auf die wesentlichen Rechtsfragen aus fachgerichtlicher Sicht eingegangen, es hat auch verfassungsrechtliche Gesichtspunkte in seiner Entscheidung behandelt.

Allerdings hat das BSG, wie vorher schon einige Landessozialgerichte, falsche Pferde aufgezäumt und die eigentlich zu stellenden verfassungsrechtlichen Fragen nicht gestellt.

Ich behaupte, daß das BSG dies mit böser Absicht getan hat, in der Erwartung, daß jetzt die Grundsicherungsträger und die Sozialgerichte erstmal viele Jahre Grundrechte mit Füßen treten können, bevor es zu weiteren Gerichtsentscheidungen kommt, die dann aber wahrscheinlich ohne Wirkung bleiben, weil die betreffenden Rentenbescheide rechtskräftig geworden sind.

Ansonsten hat das BSG mit seiner hier behandelten Grundsatzentscheidung die meisten obergerichtlichen Entscheidungen der Landessozialgerichte bestätigt. Dies gilt insbesondere für Aspekte wie die, daß es sich bei der Aufforderung zur Zwangsverrentung um einen Verwaltungsakt handelt, die Regelungen der Unbilligkeitsverordnung abschließend sind.

 

Die BSG-Entscheidung B 14 AS 1/15 R

Die Entscheidungselemente:


1. Die Aufforderung zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente im Sinne von § 12a SGB II ist ein Verwaltungsakt im Sinne von § 31 SGB X

Das BSG hat dies damit begründet, daß mit der Aufforderung die „geltende gesetzliche Verpflichtung nach § 12a Satz 1 SGB II“ [BSG, a.a.O., Rdnr. 12] umgesetzt wird. Und genau hier liegt auch der wesentliche Unterschied zur Kostensenkungsaufforderung bei den Unterkunftskosten (KdU). Für die Aufforderung zur vorzeitigen Rentenantragstellung gibt es mit § 12a SGB II eine Rechtsnorm, eine gesetzliche Grundlage. Hingegen ist die Aufforderung zur Senkung der KdU auf das „angemessene“ Maß ein juristisches Hirngespinst, allein gefestigt durch die sozialgerichtliche Rechtsprechung, so daß die KdU-Kostensenkungsaufforderung in der Tat lediglich Warnfunktion entfaltet, während erst der KdU-Absenkungsbescheid ein angreifbarer Verwaltungsakt ist.

 

2. Mit § 12a in Verbindung mit § 5 Abs. 3 SGB II sind die materiell-rechtlichen Voraussetzungen gegeben

Hilfebedürftig nach § 9 SGB II ist nicht, wer seinen Lebensunterhalt selber bestreiten kann. Hierzu gehört auch die Beantragung vorrangiger Sozialleistungen anderer Sozialleistungsträger (hier: Rentenversicherung). Entscheidend ist die „Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit“ [BSG, a.a.O., Rdnr. 21].

Dabei stellt § 12a SGB II die „in den §§ 5, 7 und 9 SGB II vorausgesetzte[n] Pflicht zur Inanspruchnahme einer vorrangigen Sozialleistung ‚klar’“ [BSG, a.a.O., Rdnr. 19].

„Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen einer Aufforderung sind die Verpflichtung des Leistungsberechtigten nach § 12a SGB II, eine vorrangige Leistung zu beantragen und in Anspruch zu nehmen, und die fehlerfreie Ermessensentscheidung des Leistungsträgers nach § 5 Abs 3 Satz 1 SGB II, den Leistungsberechtigten zur Antragstellung aufzufordern.“ [BSG, a.a.O., Rdnr. 20]

Diese „Verpflichtung des Leistungsberechtigten nach § 12a SGB II“ wird weiterhin verdeutlicht durch § 39 Nr. 3 SGB II, wonach Widerspruch und Anfechtungsklage gegen den Verwaltungsakt keine aufschiebende Wirkung entfalten [BSG, a.a.O., Rdnr. 19].

Kommen Leistungsberechtigte ihrer Pflicht zur Rentenantragstellung nicht nach – ich würde es so formulieren: liefern sich die Hilfebedürftigen nicht selbst ans Messer –, so kann der SGB II-Leistungsträger nach § 5 Abs. 3 SGB II selbst den Antrag stellen und die entsprechenden Rechtsbehelfe und Rechtsmittel einlegen.

Hier spielt das dem Grundsicherungsträger eingeräumte Ermessen eine wesentliche Rolle [dazu unter Punkt 4.].

 

3. Zur Vermeidung unbilliger Härten gibt es die Unbilligkeitsverordnung, deren Regelungen abschließend sind

Die via § 13 Abs. 2 SGB II erlassene Unbilligkeitsverordnung [Verordnung zur Vermeidung unbilliger Härten durch Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente vom 14. April 2008, BGBl. I, 2008, S. 734] ist in ihren Regelungen abschließend. Dabei stellt § 1 UnbilligkeitsV lediglich den Grundsatz für die Unbilligkeitstatbestände, die in den folgenden §§ 2 bis 5 UnbilligkeitsV genannt sind, dar und dient nicht in seiner Grundsatzformulierung als Türöffner für weitere, nicht genannte unbillige Härten [BSG, a.a.O., Rdnr. 23]. Dies hatte ich bereits in meinem ersten Artikel zur Zwangsverrentung so gesehen [http://www.HerbertMasslau.de/zwangsverrentung.html].

Das BSG lädt dann allerdings selbst wieder zur Spekulation ein, indem es urteilt, daß weiteren, von der Unbilligkeitsverordnung „nicht erfassten unzumutbaren besonderen Härten im Rahmen der Ermessensausübung begegnet werden kann“ [BSG, a.a.O., Rdnr. 24].

Die unkonkrete Regelung des § 3 UnbilligkeitsV bestimmt das BSG, wie zuvor schon die obergerichtliche Rechtsprechung, entlang der Gesetzesbegründung, d.h. mit drei Monaten als Definition für den unbestimmten Rechtsbegriff „in nächster Zukunft“ [BSG, a.a.O., Rdnrn. 35, 39].

 

4. Zum Ermessen des Grundsicherungsträgers

Zur Rechtmäßigkeitsvoraussetzung der Zwangsverrentung gehört, wie bereits viele Landessozialgerichte geurteilt hatten, die Ausübung von Ermessen seitens des Grundsicherungsträgers.

So stellt es das BSG ins Ermessen des Grundsicherungsträgers, ob dieser den SGB II-Leistungsempfänger, die SGB II-Leistungsempfängerin überhaupt auffordert, der Zwangsverrentung nachzukommen, oder ob es einen hindernden Härtefall gibt, der nicht bereits von der Unbilligkeitsverordnung erfaßt ist [BSG, a.a.O., Rdnr. 26].

Auch die eigene Antragstellung des Grundsicherungsträgers gemäß § 5 Abs. 3 SGB II steht in dessen Ermessen [BSG, a.a.O., Rdnr. 27].

Dieses Ermessen des Grundsicherungsträgers soll den SGB II-Leistungsberechtigten zur Prüfung befähigen, „ob er der Aufforderung folgt, die der Leistungsträger durch eigene Antragstellung auch durchzusetzen beabsichtigt, oder ob er im Streit um die Aufforderung Gründe vorbringt, die gegen ihre spätere Durchsetzung und damit auch gegen die Aufforderung sprechen können. Die Ermessensgesichtspunkte, die den Leistungsträger trotz einer Verpflichtung des Leistungsberechtigten zur Inanspruchnahme einer vorrangigen Leistung und trotz nichtbefolgter Aufforderung zur Antragstellung von einer eigenen künftigen Antragstellung absehen lassen könnten, sind bereits bei der Aufforderung des Leistungsberechtigten zur Antragstellung zu erwägen und müssen im Aufforderungsbescheid iS des § 35 Abs 1 Satz 3 SGB X erkennbar sein.“ [BSG, a.a.O., Rdnr. 27].

Hier sollte sich allerdings niemand einer Illusion hingeben.

Allein schon der menschenverachtende Umgang des BSG mit den Hilfebedürftigen bei den KdU belegt, daß die Anforderungen an diese Prüfpflicht des Grundsicherungsträgers rein formal und nicht inhaltlich gemeint sind. Das heißt, schreibt ein Grundsicherungsträger etwa einen Satz wie diesen „Weitere besondere unbillige Härten sind nicht erkennbar und vom Leistungsberechtigten auch nicht vorgetragen worden“, dann dürfte das als ausreichend Bestand vor den Sozialgerichten, auch dem BSG, haben. Es reicht, daß der Grundsicherungsträger behauptet, er habe sich Gedanken gemacht.

Im Übrigen ist das Ermessen des Grundsicherungsträgers eher vergleichbar mit dem sogenannten Nullermessen, denn das BSG legt fest, daß das Ermessen des Grundsicherungsträgers „hinsichtlich des Ob einer Aufforderung … seinen Ausgangspunkt beim Grundsatz der gesetzlichen Verpflichtung des Leistungsberechtigten nach § 12a SGB II zur Realisierung vorrangiger Sozialleistungen zu nehmen“ hat [BSG, a.a.O., Rdnr. 28]. Damit ist klar, daß das Ermessen des SGB II-Leistungsträgers sich beschränkt zum einen auf die Überprüfung, ob Tatbestände der Unbilligkeitsverordnung gegeben sind, und zum anderen darauf, ob atypische Härtefälle vorliegen. Oder, wie es das BSG ausdrückt: „Seine [i.e. der Grundsicherungsträger, H.M.] Ermessensausübung ist gerichtlich nur eingeschränkt darauf zu prüfen (…), ob er sein Ermessen überhaupt ausgeübt, ob er die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder ob er von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (‚Rechtmäßigkeits-, aber keine Zweckmäßigkeitskontrolle’)“ [BSG, a.a.O., Rdnr. 36].

Trifft schon die Unbilligkeitsverordnung auf fast niemanden zu, so ist dies bei den atypischen Härtefällen noch mehr gegeben, weil die Sozialgerichte nach dieser BSG-Entscheidung gar keinen Spielraum mehr haben. So ist etwa die Rechtsprechung des LSG Berlin-Brandenburg, Beschluß vom 5. November 2014, Az.: L 25 AS 2731/14 B ER, wonach auch zu berücksichtigen sei, daß bei einem vorzeitigen Rentenantrag Eingliederungsleistungen gemäß §§ 16 ff. SGB II nicht mehr zum Tragen kämen, vom Tisch. Das BSG konkret hierzu: „An der Vereinbarkeit der erzwungenen Selbsthilfe mit [dem, H.M.] GG ändert sich nichts dadurch, dass der Bezieher einer vorzeitigen Altersrente von den Leistungen zur Eingliederung in Arbeit nach dem SGB II ausgeschlossen ist“ [BSG, a.a.O., Rdnr. 47].

Aber schon der Europäische Gerichtshof hatte richtig festgestellt [EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 15. September 2015, Az.: C 67/14, Rdnrn. 45 u. 46]:

„…, dass – … – die überwiegende Funktion der in Rede stehenden Leistungen gerade darin besteht, das Minimum an Existenzmitteln zu gewährleisten, das erforderlich ist, um ein Leben zu führen, das der Menschenwürde entspricht.

Aus diesen Erwägungen ergibt sich somit, dass die betreffenden Leistungen nicht als finanzielle Leistungen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt … erleichtern sollen, eingestuft werden können (…), sondern als ‚Sozialhilfe’ … .“

 

5. Ergänzender Sozialhilfebezug nach dem SGB XII stellt keinen Hinderungsgrund dar

Ebenfalls eine Absage erteilt wurde einzelnen Gerichten, die im Rahmen der Einzelfallprüfung eine Prognose hinsichtlich des zukünftigen SGB XII-Anspruchs verlangten. So etwa LSG Sachsen-Anhalt, Beschluß vom 10. Dezember 2014, Az.: L 2 AS 520/14 B ER: „In die Abwägung einzustellen ist auch, ob die durch die vorzeitige Rentenantragstellung eingesparten SGB II Leistungen geringer als die statt dessen prognostisch zusätzlich neben der verminderten vorzeitig in Anspruch genommenen Rente zu zahlenden Mehrleistungen an ergänzenden SGB XII Leistungen wären.“

Hier sagt nun das BSG klipp und klar:

„Dass abhängig von der Höhe der Rente der Kläger seinen notwendigen Lebensunterhalt ggf nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln bestreiten könnte und ihm deshalb insoweit nach § 19 Abs 1, § 27 Abs 1 SGB XII im Umfang seiner durch die Altersrente verminderten Hilfebedürftigkeit Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII zu leisten sein könnte, ändert nichts daran, dass der Kläger mit dem Bezug der vorzeitigen Altersrente iS des § 12a Satz 1 SGB II seine Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II beseitigt und aus diesem existenzsicherungsrechtlichen Leistungssystem ausscheidet.“ [BSG, a.a.O., Rdnr. 33]

Und:

„Nur hinzu kommt, dass eine isolierte Betrachtung der Höhe des Leistungsanspruchs nach dem SGB II oder SGB XII und der Höhe der vorrangigen Sozialleistung ohnehin nicht geeignet ist, eine Unzumutbarkeit ihrer Inanspruchnahme aufgrund außergewöhnlicher Umstände zu begründen, weil § 12a Satz 1 SGB II schon eine Verminderung der Hilfebedürftigkeit für die Verpflichtung zur Inanspruchnahme genügen lässt und das Nachrangprinzip auch im SGB XII gilt (…). Eine nicht bedarfsdeckende vorzeitige Altersrente beseitigt wegen § 7 Abs 4 Satz 1 SGB II zwar die Hilfebedürftigkeit iS des SGB II, ihr Bezug schlägt indes im Sinne einer Verminderung auch auf die Hilfebedürftigkeit im Sinne des gleichrangig und selbstständig neben dem SGB II stehenden SGB XII durch, nach dem bei nicht bedarfsdeckender vorzeitiger Altersrente ein ergänzender Existenzsicherungsanspruch besteht (…).“ [BSG, a.a.O., Rdnr. 41]

„Das gesetzliche Regelungskonzept einer Inanspruchnahme vorrangiger Sozialleistungen zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der aktuellen Hilfebedürftigkeit iS des SGB II fragt nicht nach einer etwaigen künftigen Hilfebedürftigkeit iS des SGB XII. Im Rahmen der Ermessensausübung vor Aufforderung zur vorzeitigen Rentenantragstellung sind Prognosen über eine künftige Hilfebedürftigkeit nicht anzustellen.“ [BSG, a.a.O., Rdnr. 42]

Dabei nimmt das BSG bewußt die strengeren Anrechnungsregeln des SGB XII in Kauf: „Mit einem Wechsel von Leistungen nach dem SGB II zu solchen nach dem SGB XII verbundenen Härten im Einzelfall, etwa bei Vorhandensein von Altersvorsorgevermögen, das durch das SGB II geschützt ist und durch das SGB XII nicht geschützt wäre, kann im Rahmen der Ermessensausübung begegnet werden.“ [BSG, a.a.O., Rdnr. 47] Da hierzu keine Rechtsgrundlage existiert und die Grundsicherungsträger an der Schonung solcher Vermögen kein Interesse haben, zumal für das SGB XII die Kommunalbehörden zuständig sind, ist diese Entscheidung des BSG nichts als eine hämische eigene „Existenzsicherung“ als Richter.

Warum hier keine Gesamtschau hinsichtlich der tatsächlichen Verringerung der Sozialleistungen angestellt wird, verdeutlichen folgende Beispiele (grob gerechnet): Ein Alleinstehender, eine Alleinstehende beziehen aus Sicht des Grundsicherungsträgers 970 Euro nach dem SGB II (400 Euro Regelleistung, 350 Euro KdU + 50 HK, 170 Euro KV/PflV-Beitrag), müssen statt mit 65 ½ Jahren mit 63 Jahren in Rente gehen, also 30 Monate früher. Das erspart an SGB II-Leistungen 29.100 Euro. Dies gilt für alle nachfolgenden Beispielberechnungen.

Angenommen, die Rente betrüge genau 970 Euro, dann betrügen die Abschläge 30 Monate mal 0,3 Prozent, also 9 Prozent oder 87,30 pro Monat, 1047,60 Euro pro Jahr. Von der Rente – bezogen auf 2015 – sind vorliegend keine Steuern gemäß § 22 Nr. 1a EStG zu entrichten, weil 2015 nur 70% der Rente steuerpflichtig sind und der steuerfreie Betrag bei 1191 Euro liegt. Zwar spart der SGB XII-Träger Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge, weil diese der Rentner, die Rentnerin gemäß § 237 SGB V, §§ 55, 60 Abs. 4 SGB XI entrichten muß, und zwar die KV-Beiträge zur Hälfte (in 2015: 7,3%) plus 8,80 Euro Zusatzbeitrag gemäß § 242a SGB V und für kinderlose Rentnerinnen und Rentner – kinderlos heißt, die Kinder sind erwachsen und eigenständig – die 2,60 % für die Pflegeversicherung. Steuerpflichtige Zusatzeinkommen z.B. aus Jobs, Vermietungen bleiben hier mal außer Betracht. Dann ergibt sich ein Abzug von 9,9 % plus 8,80 Euro (Basis 970 ./. 87,30) = 96,20 Euro, insgesamt also von 183,50 Euro monatlich, die der SGB XII-Träger zusätzlich aufbringen muß. Nun ist aber zu berücksichtigen, daß der SGB XII-Träger nicht 970 Euro monatlich zu leisten hätte, sondern nur 800 Euro, weil die KV-/PflV-Leistungen entfallen, d.h. von den monatlich 183,50 Euro zusätzlicher Belastung sind also 170 Euro abzuziehen, so daß nur eine Belastung von monatlich 13,50 Euro oder jährlich162 Euro übrig bliebe. Die Zwangsverrentung wäre für den Staat also 180 Jahre günstiger, d.h. der bzw. die Zwangsverrentete müßte 243 Jahre alt werden, um einen Vorteil durch die höheren SGB XII-Leistungen zu erlangen.

Ohne Zwangsverrentung, bei demselben Rentenanspruch von 970 Euro monatlich ergäben sich als KV-/PflV-Abzug (9,9% + 8,80 Euro) 105 Euro. Den verbliebenen 865 Euro Rente (970 ./. 105) stände ein SGB XII-Anspruch von 800 Euro (970 ./. 170 KV/PflV) gegenüber, so daß nicht nur kein Sozialhilfeanspruch gegeben wäre, sondern der Rentner, die Rentnerin monatlich 65 Euro zusätzlich für z.B. eine gesündere Ernährung zur Verfügung hätten.

In dem letzten Beispiel wird deutlich, daß dem Rentner, der Rentnerin sogar 65 Euro x 12 Monate = 780 Euro jährlich x 25 Lebensjahre Sterbestatistik = 19.500 Euro an Vermögenseigentum durch die Zwangsverrentung geklaut werden. Was ist das, wenn nicht ein Fall der Verletzung von Art. 14 GG?!

Aber das BSG spekuliert langfristig auf gebrochene Erwerbsbiographien mit prekären Arbeitsverhältnissen, also Rente nur noch für die Reichen wie im Feudalismus, die anderen bekommen dann ohnehin Sozialhilfe, so daß ein Beispiel berechnet werden soll, wo jemand nur 500 Euro Rentenanspruch erlangt hat.

Ohne Zwangsverrentung ergäben sich 2015 bei 9,9% KV/PflV-Abzug + 8,80 Euro KV-Zusatzbeitrag monatlich 58,30 Abzug, also eine Rente von monatlich 441,70 Euro und damit ein SGB XII-Anspruch von 358,30 Euro (800 ./. 441,70).

Mit Zwangsverrentung ergäbe sich zunächst eine Rentenkürzung um 45 Euro (30 Monate = 9%). Von den verbliebenen 455 Euro Rente wären insgesamt 53,85 (9,9% + 8,80 Euro) KV-/PflV-Abzug vorzunehmen, so daß 401,15 Euro an Rente verblieben, so daß ein SGB XII-Anspruch von 399,85 Euro (800 ./. 401,15) gegeben wäre.

Die durch die Zwangsverrentung zusätzlich zu erbringenden SGB XII-Leistungen beliefen sich auf 41,55 Euro monatlich (399,85 ./. 358,30), jährlich knapp 500 Euro. Der Rente beziehende Hilfeempfänger bzw. die Hilfeempfängerin müßten (29.100 : 500) zusätzlich zu den 63,5 Jahren weitere 58,5 Jahre, mithin 122 Jahre alt werden, bevor die zusätzlichen SGB XII-Leistungen den Gewinn aus den eingesparten SGB II-Leistungen übersteigen würden, der Staat also einen Verlust durch die Zwangsverrentung erwirtschaften würde.

Daß dabei das BSG zwar die Auswirkungen auf andere Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft erkennt [BSG, a.a.O., Rdnr. 32] führt zu keinem anderen Ergebnis, da das BSG hier wieder den Individualitätsgrundsatz hochhält. Daß § 9 Abs. 2 SGB II diesem Individualitätsgrundsatz mit seiner horizontalen statt vertikalen Einkommensanrechnung eklatant widerspricht, interessiert das BSG dabei nicht. Mit solchen Antagonismen hat das BSG keine Probleme.

Im vom BSG zu entscheidenden Fall waren Auswirkungen gemäß §§ 43, 90, 94 SGB XII auf Kinder des bzw. der Zwangsverrenteten nicht zu entscheiden. Hierzu meine Problembeschreibung in http://www.HerbertMasslau.de/zwangsverrentung.html.

 

6. Die Zwangsverrentung ist laut BSG verfassungsgemäß

Laut BSG leitet sich aus dem Regelleistungsurteil des Bundesverfassungsgerichts zu „Hartz IV“ vom 9. Februar 2010 [Az.: 1 BvL 1/09 u.a.] die durch Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG gewährleistete Garantie eines menschenwürdigen Existenzminimums ab. Nur dieses sei zu garantieren. Insofern schütze das Grundrecht zwar vor der Zurechnung fiktiver Einkommen, diese sähe das Gesetz aber auch nicht vor [BSG, a.a.O., Rdnr. 44].

Zunächst einmal wiederholt das BSG die schon obergerichtlich praktizierte dämliche Behauptung, eine Verletzung des Eigentumsschutzes des Art. 14 Abs. 1 GG läge nicht vor, da das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die mit der vorzeitigen Inanspruchnahme einer Altersrente verbundenen Rentenabschläge für mit Art. 14 Abs. 1 GG vereinbar erklärt habe [BSG, a.a.O., Rdnr. 45].

Das BSG führt die BVerfG-Entscheidungen 1 BvL 3/05 u.a. und 1 BvR 1631/04 an und argumentiert in derselben hirnverbrannten Art und Weise, wie ich es schon in meinem Artikel – http://www.HerbertMasslau.de/zwangsverrentung-ii.html – hinsichtlich einiger obergerichtlicher Entscheidungen kritisiert hatte.

Die vom BSG genannten BVerfG-Entscheidungen gereichen nicht zur Begründung der BSG-Entscheidung, weil sie „nur“ feststellen, daß die Kürzung bei vorzeitiger Inanspruchnahme einer Altersrente um 0,3 Prozentpunkte je Monat der vorzeitigen Inanspruchnahme verfassungsgemäß ist. Es geht dabei um die Entlastung der Rentenkasse durch den längeren Rentenbezug durch die vorzeitige Inanspruchnahme. Der wesentliche Unterschied, den wahrzunehmen die BSG-Richter offensichtlich geistig überfordert waren, liegt im Punkt der Freiwilligkeit. Diese Freiwilligkeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme ist aber bei der Zwangsverrentung gemäß §§ 12a, 5 Abs. 3 SGB II nicht gegeben. Dazu heißt es in einer der beiden vom BSG angeführten BVerfG-Entscheidungen: „Sofern die Wahl besteht, werden sich Versicherte durch die Rentenkürzungen zudem regelmäßig veranlasst sehen, länger erwerbstätig zu bleiben und damit auch länger Beiträge in die gesetzliche Sozialversicherung zu zahlen“ [BVerfG, Kammerbeschluß vom 5. Februar 2009, Az.: 1 BvR 1631/04, Rdnr. 16].

Daß gerade diejenigen, die die Abschaffung der Rentenversicherungsbeitragszahlungen im Rahmen des SGB II seit 2011 mit §§ 12a und 5 Abs. 3 SGB II die Zwangsverrentung eingeführt haben, ist schon eine Frechheit sondersgleichen, daß sich aber hochbezahlte Bundesrichter – BSG ca. 10 Tsd. Euro Grundgehalt – nicht einmal die Mühe machen, im Rahmen einer Art. 14 GG-Betrachtung den Unterschied zwischen freiwilliger Frühverrentung und erzwungener Frühverrentung rechtlich zu diskutieren, zeugt entweder von juristischer Unfähigkeit oder aber einer menschenverachtenden Betrachtungsweise.

Weiterhin urteilt das BSG:

„Soweit in der Antragstellung durch den Leistungsträger anstelle des Leistungsberechtigten auf eine vorzeitige Altersrente mit dauerhaften Rentenabschlägen ein eigenständiger Eingriff in dessen Dispositionsfreiheit als Ausdruck seiner allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art 2 Abs 1 GG liegt, weil sich der Leistungsberechtigte gegen die Inanspruchnahme und Beantragung der Rente entschieden hat und der durch den Antrag des Leistungsträgers bewirkte Rentenbezug deshalb gegen seinen Willen stattfindet, ist dieser Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt.“ [BSG, a.a.O., Rdnr. 46]

Denn dieses Mittel dient dem Zweck „der Sicherung des Nachrangs existenzsichernder Leistungen“ [BSG, a.a.O.].

Und:

„Denn im Rahmen der hier vorzunehmenden verfassungsrechtlichen Abwägung steht dem Existenzsicherungsanspruch des Einzelnen unter Wahrung seiner Dispositionsfreiheit zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente das Interesse der Allgemeinheit gegenüber, durch steuerfinanzierte Mittel nur dem Hilfebedürftigen zu helfen, der sich mangels zumutbarer Selbsthilfemöglichkeiten nicht zu helfen vermag und deshalb der Hilfe des Existenzsicherungsrechts bedarf. Den Interessen des Leistungsberechtigten wird dadurch Rechnung getragen, dass besondere, unzumutbare Härten seine Heranziehung zur Selbsthilfe gegen seinen Willen ausschließen und fiktive Einnahmen aus vorrangigen Sozialleistungen nicht bedarfsdeckend berücksichtigt werden.“ [BSG, a.a.O.]

Übrigens, nicht zu vergessen, es ist dasselbe BSG, welches mit seiner menschenverachtenden KdU-Rechtsprechung und Deckelung der KdU über das Wohngeldgesetz eine Anpassung der KdU an die Mietwohnungsmarktrealität verweigert!

Eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes Art. 3 Abs. 1 GG sei auch nicht gegeben.

Bezüglich anderer Leistungsbezieher und Leistungsbezieherinnen nach dem SGB II erfolge eine Gleichbehandlung aufgrund der §§ 12a und 5 Abs. 3 SGB II [BSG, a.a.O., Rdnr. 48].

Bezüglich derjenigen Leistungsbezieher und Leistungsbezieherinnen, die keinen Anspruch auf vorzeitige Altersrente haben – hier meint das BSG offensichtlich jene, die aufgrund ihrer entsprechenden Erwerbsbiographie gar keinen Anspruch auf eine Altersrente und damit auch nicht auf eine vorzeitige haben, etwa weil sie die 35-jährige Anwartschaft gemäß § 36 SGB VI nicht erfüllen, und somit bis 65+ im SGB II-Bezug bleiben und dann Grundsicherung nach SGB XII beziehen – sei eine Vergleichbarkeit beider Gruppen nicht gegeben [BSG, a.a.O.].

Bezüglich der Gruppe der Nichtleistungsbeziehenden, die eine vorzeitige Altersrente in Anspruch nehmen könnten, fehle es schon überhaupt an einer Vergleichbarkeit  [BSG, a.a.O.].

 

Fazit:

Viele „Hartz IV“-Empfängerinnen und -empfänger dürften in Zukunft neben Klagen gegen die Zwangsverrentung im SGB II parallel gegen die Rentenbescheide im Rahmen des SGB VI klagen müssen.

Ich kann nur meine Aufforderung wiederholen, auf gar keinen Fall freiwillig die Zwangsverrentung zu unterschreiben.

Im Rahmen des Art. 3 GG hat es das BSG bewußt unterlassen, der Frage näher nachzugehen, ob nicht die zunehmende Benachteiligung derjenigen, deren regulärer Renteneintritt zwischen 65 und 67 Jahren liegt, nicht doch das Übermaßverbot verletzt, obwohl sich dies bereits im entschiedenen Fall angeboten hatte.

Weiterhin offen bleibt im Rahmen der atypischen Härte zumindest für Hilfeempfängerinnen und Hilfeempfänger mit erwachsenen Kindern die Frage der Wirkungen der §§ 43, 90 und 94 SGB XII bei Zwangsverrentung. Dies darf nicht dem Ermessen der Grundsicherungsträger überlassen bleiben, sondern dies hat bezogen auf die Zwangsverrentung der Gesetzgeber zu klären. Insofern ist hier eine Parallele zur KdU-Problematik § 22 SGB II gegeben, wo der Gesetzgeber absichtlich und damit der Willkür Vorschub leistend keine Rahmenbedingungen festgelegt hat, und das BSG die Situation durch seine schleppende und teilweise absurde und widersprüchliche Rechtsprechung noch mehr chaotisiert hat.

Vom BSG ist nichts mehr zu erwarten. Und wer Kinder hat, sollte sich mit diesen eine gemeinsame Verweigerungstrategie überlegen.

 

Nachbemerkung

Die BSG-Entscheidung ist aber noch unter einem anderen Gesichtspunkt von Bedeutung: der langfristigen Abschaffung der gesetzlichen Rentenversicherung.

1883 wurde die Krankenversicherung eingeführt (heute SGB V),

1884 die Unfallversicherung (heute SGB VII),

1889 die Rentenversicherung (heute SGB VI),

1927 die Arbeitslosenversicherung (heute SGB III),

nach dem Zweiten Weltkrieg die Sozialhilfe (heute SGB II und SGB XII), die Pflegeversicherung (SGB XI) und andere Hilfen wie Wohngeld, Kindergeld und spezielle Hilfen für Jugendliche (SGB VIII) und für Menschen mit Behinderungen (SGB IX).

Wird einmal davon abgesehen, daß z.B. das Wohngeldrecht immer mal wieder zur Beseitigung von Sozialhilfebezug eingesetzt wird wie 2009 und 2016, zwischendurch wie etwa mit der Abschaffung eines zwischenzeitlichen Heizkostenzuschlags im Wohngeldrecht auch wieder der umgekehrte Weg beschritten wird, dann ist ganz generell ein Abschaffungstrend zu erkennen. Und zwar im historischen Rückwärtsgang:

Mittlerweile ist die Arbeitslosenversicherung bis auf einen Kurzzeitbezug abgeschafft. Jetzt folgt die Rentenversicherung seit ein paar Jahren zuerst durch ein immer geringeres Leistungsniveau, dann durch Privatversicherungsmodelle, die sich nur für Leute lohnen, die ohnehin über genügend Vermögen verfügen oder Beamte sind. 2004 wurde auch schon der große Kahlschlag im Krankenversicherungsrecht begonnen. Dieser vollzieht sich aber anders und nicht so stringent wie bei der Renten- und Arbeitslosenversicherung, weil hier die Krankenhausmafia ein gehöriges Wort eigener Bereicherung mitzureden hat. Am Ende wird es nur noch die private Risikovorsorge geben für diejenigen, die auf Kosten der Gesamtgesellschaft sich genügend bereichern konnten und den Parteibuchbeamten, die der Staat unter anderem und im besonderen als Sozialrichter benötigt. Der zwangsverarmte Teil der Gesellschaft wird mit Notunterkünften, einer auf die Notfallmedizin abgespeckten Krankenversicherung und einer knapp über der Verhungernsgrenze liegenden Sozialhilfe irgendwie am leben gehalten, physisch. Dabei ist der deutsche Staat immer noch der preußische Staat, der darauf achten wird, daß nicht eine revolutionäre Volksmasse die Verhältnisse umstürzt, sondern der Staat selber wird durch kleine Häppchen, die er den verarmten Menschen zuwirft, gerade soviel, daß sie noch nicht auf die Barrikaden gehen, dies zu verhindern suchen.

Daß Teil dieser Gesamtentwicklung zunehmend menschenverachtende Richtersprüche sind, ist selbstredend. Auch BSG-Richter haben ein Parteibuch und damit spezifische Interessen.

 

 

 

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