Das Bundessozialgericht (BSG) hat am 19. August 2015 in dem
Verfahren B 14 AS 1/15 R erstmals eine Grundsatzentscheidung zur
Zwangsverrentung gefällt.
Nicht nur ist das BSG dabei auf die wesentlichen
Rechtsfragen aus fachgerichtlicher Sicht eingegangen, es hat auch
verfassungsrechtliche Gesichtspunkte in seiner Entscheidung behandelt.
Allerdings hat das BSG, wie vorher schon einige
Landessozialgerichte, falsche Pferde aufgezäumt und die eigentlich zu
stellenden verfassungsrechtlichen Fragen nicht gestellt.
Ich behaupte, daß das BSG dies mit böser Absicht getan hat,
in der Erwartung, daß jetzt die Grundsicherungsträger und die Sozialgerichte
erstmal viele Jahre Grundrechte mit Füßen treten können, bevor es zu weiteren
Gerichtsentscheidungen kommt, die dann aber wahrscheinlich ohne Wirkung
bleiben, weil die betreffenden Rentenbescheide rechtskräftig geworden sind.
Ansonsten hat das BSG mit seiner hier behandelten
Grundsatzentscheidung die meisten obergerichtlichen Entscheidungen der
Landessozialgerichte bestätigt. Dies gilt insbesondere für Aspekte wie die, daß
es sich bei der Aufforderung zur Zwangsverrentung um einen Verwaltungsakt
handelt, die Regelungen der Unbilligkeitsverordnung abschließend sind.
Die BSG-Entscheidung B 14 AS 1/15 R
Die Entscheidungselemente:
1. Die Aufforderung zur Beantragung einer vorzeitigen
Altersrente im Sinne von § 12a SGB II ist ein Verwaltungsakt im Sinne von § 31
SGB X
Das BSG hat dies damit begründet, daß mit der Aufforderung
die „geltende gesetzliche Verpflichtung nach § 12a Satz 1 SGB II“ [BSG,
a.a.O., Rdnr. 12] umgesetzt wird. Und genau hier liegt auch der wesentliche
Unterschied zur Kostensenkungsaufforderung bei den Unterkunftskosten (KdU). Für
die Aufforderung zur vorzeitigen Rentenantragstellung gibt es mit § 12a SGB II
eine Rechtsnorm, eine gesetzliche Grundlage. Hingegen ist die Aufforderung zur
Senkung der KdU auf das „angemessene“ Maß ein juristisches Hirngespinst, allein
gefestigt durch die sozialgerichtliche Rechtsprechung, so daß die
KdU-Kostensenkungsaufforderung in der Tat lediglich Warnfunktion entfaltet,
während erst der KdU-Absenkungsbescheid ein angreifbarer Verwaltungsakt ist.
2. Mit § 12a in Verbindung mit § 5 Abs. 3 SGB II sind die
materiell-rechtlichen Voraussetzungen gegeben
Hilfebedürftig nach § 9 SGB II ist nicht, wer seinen
Lebensunterhalt selber bestreiten kann. Hierzu gehört auch die Beantragung
vorrangiger Sozialleistungen anderer Sozialleistungsträger (hier:
Rentenversicherung). Entscheidend ist die „Vermeidung, Beseitigung,
Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit“ [BSG, a.a.O., Rdnr.
21].
Dabei stellt § 12a SGB II die „in den §§ 5, 7 und 9 SGB
II vorausgesetzte[n] Pflicht zur Inanspruchnahme einer vorrangigen
Sozialleistung ‚klar’“ [BSG, a.a.O., Rdnr. 19].
„Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen einer Aufforderung sind
die Verpflichtung des Leistungsberechtigten nach § 12a SGB II, eine vorrangige
Leistung zu beantragen und in Anspruch zu nehmen, und die fehlerfreie
Ermessensentscheidung des Leistungsträgers nach § 5 Abs 3 Satz 1 SGB II, den
Leistungsberechtigten zur Antragstellung aufzufordern.“ [BSG, a.a.O., Rdnr.
20]
Diese „Verpflichtung des Leistungsberechtigten nach § 12a
SGB II“ wird weiterhin verdeutlicht durch § 39 Nr. 3 SGB II, wonach
Widerspruch und Anfechtungsklage gegen den Verwaltungsakt keine aufschiebende
Wirkung entfalten [BSG, a.a.O., Rdnr. 19].
Kommen Leistungsberechtigte ihrer Pflicht zur
Rentenantragstellung nicht nach – ich würde es so formulieren: liefern sich die
Hilfebedürftigen nicht selbst ans Messer –, so kann der SGB II-Leistungsträger
nach § 5 Abs. 3 SGB II selbst den Antrag stellen und die entsprechenden
Rechtsbehelfe und Rechtsmittel einlegen.
Hier spielt das dem Grundsicherungsträger eingeräumte
Ermessen eine wesentliche Rolle [dazu unter Punkt 4.].
3. Zur Vermeidung unbilliger Härten gibt es die
Unbilligkeitsverordnung, deren Regelungen abschließend sind
Die via § 13 Abs. 2 SGB II erlassene Unbilligkeitsverordnung
[Verordnung zur Vermeidung unbilliger Härten durch Inanspruchnahme einer
vorgezogenen Altersrente vom 14. April 2008, BGBl. I, 2008, S. 734] ist in
ihren Regelungen abschließend. Dabei stellt § 1 UnbilligkeitsV lediglich den
Grundsatz für die Unbilligkeitstatbestände, die in den folgenden §§ 2 bis 5
UnbilligkeitsV genannt sind, dar und dient nicht in seiner
Grundsatzformulierung als Türöffner für weitere, nicht genannte unbillige
Härten [BSG, a.a.O., Rdnr. 23]. Dies hatte ich bereits in meinem ersten Artikel
zur Zwangsverrentung so gesehen
[http://www.HerbertMasslau.de/zwangsverrentung.html].
Das BSG lädt dann allerdings selbst wieder zur Spekulation
ein, indem es urteilt, daß weiteren, von der Unbilligkeitsverordnung „nicht
erfassten unzumutbaren besonderen Härten im Rahmen der Ermessensausübung
begegnet werden kann“ [BSG, a.a.O., Rdnr. 24].
Die unkonkrete Regelung des § 3 UnbilligkeitsV bestimmt das
BSG, wie zuvor schon die obergerichtliche Rechtsprechung, entlang der
Gesetzesbegründung, d.h. mit drei Monaten als Definition für den unbestimmten
Rechtsbegriff „in nächster Zukunft“ [BSG, a.a.O., Rdnrn. 35, 39].
4. Zum Ermessen des Grundsicherungsträgers
Zur Rechtmäßigkeitsvoraussetzung der Zwangsverrentung
gehört, wie bereits viele Landessozialgerichte geurteilt hatten, die Ausübung
von Ermessen seitens des Grundsicherungsträgers.
So stellt es das BSG ins Ermessen des
Grundsicherungsträgers, ob dieser den SGB II-Leistungsempfänger, die SGB
II-Leistungsempfängerin überhaupt auffordert, der Zwangsverrentung
nachzukommen, oder ob es einen hindernden Härtefall gibt, der nicht bereits von
der Unbilligkeitsverordnung erfaßt ist [BSG, a.a.O., Rdnr. 26].
Auch die eigene Antragstellung des Grundsicherungsträgers
gemäß § 5 Abs. 3 SGB II steht in dessen Ermessen [BSG, a.a.O., Rdnr. 27].
Dieses Ermessen des Grundsicherungsträgers soll den SGB II-Leistungsberechtigten
zur Prüfung befähigen, „ob er der Aufforderung folgt, die der
Leistungsträger durch eigene Antragstellung auch durchzusetzen beabsichtigt,
oder ob er im Streit um die Aufforderung Gründe vorbringt, die gegen ihre
spätere Durchsetzung und damit auch gegen die Aufforderung sprechen können. Die
Ermessensgesichtspunkte, die den Leistungsträger trotz einer Verpflichtung des
Leistungsberechtigten zur Inanspruchnahme einer vorrangigen Leistung und trotz
nichtbefolgter Aufforderung zur Antragstellung von einer eigenen künftigen
Antragstellung absehen lassen könnten, sind bereits bei der Aufforderung des
Leistungsberechtigten zur Antragstellung zu erwägen und müssen im
Aufforderungsbescheid iS des § 35 Abs 1 Satz 3 SGB X erkennbar sein.“ [BSG,
a.a.O., Rdnr. 27].
Hier sollte sich allerdings niemand einer Illusion hingeben.
Allein schon der menschenverachtende Umgang des BSG mit den
Hilfebedürftigen bei den KdU belegt, daß die Anforderungen an diese Prüfpflicht
des Grundsicherungsträgers rein formal und nicht inhaltlich gemeint sind. Das
heißt, schreibt ein Grundsicherungsträger etwa einen Satz wie diesen „Weitere
besondere unbillige Härten sind nicht erkennbar und vom Leistungsberechtigten
auch nicht vorgetragen worden“, dann dürfte das als ausreichend Bestand vor den
Sozialgerichten, auch dem BSG, haben. Es reicht, daß der Grundsicherungsträger
behauptet, er habe sich Gedanken gemacht.
Im Übrigen ist das Ermessen des Grundsicherungsträgers eher
vergleichbar mit dem sogenannten Nullermessen, denn das BSG legt fest, daß das
Ermessen des Grundsicherungsträgers „hinsichtlich des Ob einer Aufforderung
… seinen Ausgangspunkt beim Grundsatz der gesetzlichen Verpflichtung des
Leistungsberechtigten nach § 12a SGB II zur Realisierung vorrangiger Sozialleistungen
zu nehmen“ hat [BSG, a.a.O., Rdnr. 28]. Damit ist klar, daß das Ermessen
des SGB II-Leistungsträgers sich beschränkt zum einen auf die Überprüfung, ob
Tatbestände der Unbilligkeitsverordnung gegeben sind, und zum anderen darauf,
ob atypische Härtefälle vorliegen. Oder, wie es das BSG ausdrückt: „Seine [i.e.
der Grundsicherungsträger, H.M.] Ermessensausübung ist gerichtlich nur
eingeschränkt darauf zu prüfen (…), ob er sein Ermessen überhaupt ausgeübt, ob
er die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder ob er von dem
Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise
Gebrauch gemacht hat (‚Rechtmäßigkeits-, aber keine Zweckmäßigkeitskontrolle’)“
[BSG, a.a.O., Rdnr. 36].
Trifft schon die Unbilligkeitsverordnung auf fast niemanden
zu, so ist dies bei den atypischen Härtefällen noch mehr gegeben, weil die
Sozialgerichte nach dieser BSG-Entscheidung gar keinen Spielraum mehr haben. So
ist etwa die Rechtsprechung des LSG Berlin-Brandenburg, Beschluß vom 5.
November 2014, Az.: L 25 AS 2731/14 B ER, wonach auch zu berücksichtigen sei,
daß bei einem vorzeitigen Rentenantrag Eingliederungsleistungen gemäß §§ 16 ff.
SGB II nicht mehr zum Tragen kämen, vom Tisch. Das BSG konkret hierzu: „An
der Vereinbarkeit der erzwungenen Selbsthilfe mit [dem, H.M.] GG ändert
sich nichts dadurch, dass der Bezieher einer vorzeitigen Altersrente von den
Leistungen zur Eingliederung in Arbeit nach dem SGB II ausgeschlossen ist“ [BSG,
a.a.O., Rdnr. 47].
Aber schon der Europäische
Gerichtshof hatte richtig festgestellt [EuGH, Urteil der Großen Kammer vom 15.
September 2015, Az.: C 67/14, Rdnrn. 45 u. 46]:
„…, dass – … – die
überwiegende Funktion der in Rede stehenden Leistungen gerade darin besteht,
das Minimum an Existenzmitteln zu gewährleisten, das erforderlich ist, um ein
Leben zu führen, das der Menschenwürde entspricht.
Aus diesen Erwägungen
ergibt sich somit, dass die betreffenden Leistungen nicht als finanzielle
Leistungen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt … erleichtern sollen, eingestuft
werden können (…), sondern als ‚Sozialhilfe’ … .“
5. Ergänzender Sozialhilfebezug nach dem SGB XII stellt
keinen Hinderungsgrund dar
Ebenfalls eine Absage erteilt wurde einzelnen Gerichten, die
im Rahmen der Einzelfallprüfung eine Prognose hinsichtlich des zukünftigen SGB
XII-Anspruchs verlangten. So etwa LSG Sachsen-Anhalt, Beschluß vom 10. Dezember
2014, Az.: L 2 AS 520/14 B ER: „In die Abwägung einzustellen ist auch, ob
die durch die vorzeitige Rentenantragstellung eingesparten SGB II Leistungen
geringer als die statt dessen prognostisch zusätzlich neben der verminderten
vorzeitig in Anspruch genommenen Rente zu zahlenden Mehrleistungen an
ergänzenden SGB XII Leistungen wären.“
Hier sagt nun das BSG klipp und klar:
„Dass abhängig von der Höhe der Rente der Kläger seinen
notwendigen Lebensunterhalt ggf nicht ausreichend aus eigenen Kräften und
Mitteln bestreiten könnte und ihm deshalb insoweit nach § 19 Abs 1, § 27 Abs 1
SGB XII im Umfang seiner durch die Altersrente verminderten Hilfebedürftigkeit
Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII zu leisten sein könnte, ändert
nichts daran, dass der Kläger mit dem Bezug der vorzeitigen Altersrente iS des
§ 12a Satz 1 SGB II seine Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II beseitigt und aus
diesem existenzsicherungsrechtlichen Leistungssystem ausscheidet.“ [BSG,
a.a.O., Rdnr. 33]
Und:
„Nur hinzu kommt, dass eine isolierte Betrachtung der
Höhe des Leistungsanspruchs nach dem SGB II oder SGB XII und der Höhe der
vorrangigen Sozialleistung ohnehin nicht geeignet ist, eine Unzumutbarkeit
ihrer Inanspruchnahme aufgrund außergewöhnlicher Umstände zu begründen, weil §
12a Satz 1 SGB II schon eine Verminderung der Hilfebedürftigkeit für die
Verpflichtung zur Inanspruchnahme genügen lässt und das Nachrangprinzip auch im
SGB XII gilt (…). Eine nicht bedarfsdeckende vorzeitige Altersrente beseitigt
wegen § 7 Abs 4 Satz 1 SGB II zwar die Hilfebedürftigkeit iS des SGB II, ihr
Bezug schlägt indes im Sinne einer Verminderung auch auf die Hilfebedürftigkeit
im Sinne des gleichrangig und selbstständig neben dem SGB II stehenden SGB XII
durch, nach dem bei nicht bedarfsdeckender vorzeitiger Altersrente ein
ergänzender Existenzsicherungsanspruch besteht (…).“ [BSG, a.a.O., Rdnr.
41]
„Das gesetzliche Regelungskonzept einer Inanspruchnahme
vorrangiger Sozialleistungen zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder
Verminderung der aktuellen Hilfebedürftigkeit iS des SGB II fragt nicht nach
einer etwaigen künftigen Hilfebedürftigkeit iS des SGB XII. Im Rahmen der
Ermessensausübung vor Aufforderung zur vorzeitigen Rentenantragstellung sind
Prognosen über eine künftige Hilfebedürftigkeit nicht anzustellen.“ [BSG,
a.a.O., Rdnr. 42]
Dabei nimmt das BSG bewußt die strengeren Anrechnungsregeln
des SGB XII in Kauf: „Mit einem Wechsel von Leistungen nach dem SGB II zu
solchen nach dem SGB XII verbundenen Härten im Einzelfall, etwa bei
Vorhandensein von Altersvorsorgevermögen, das durch das SGB II geschützt ist
und durch das SGB XII nicht geschützt wäre, kann im Rahmen der
Ermessensausübung begegnet werden.“ [BSG, a.a.O., Rdnr. 47] Da hierzu keine
Rechtsgrundlage existiert und die Grundsicherungsträger an der Schonung solcher
Vermögen kein Interesse haben, zumal für das SGB XII die Kommunalbehörden
zuständig sind, ist diese Entscheidung des BSG nichts als eine hämische eigene
„Existenzsicherung“ als Richter.
Warum hier keine Gesamtschau hinsichtlich der tatsächlichen
Verringerung der Sozialleistungen angestellt wird, verdeutlichen folgende
Beispiele (grob gerechnet): Ein Alleinstehender, eine Alleinstehende beziehen aus
Sicht des Grundsicherungsträgers 970 Euro nach dem SGB II (400 Euro
Regelleistung, 350 Euro KdU + 50 HK, 170 Euro KV/PflV-Beitrag), müssen statt
mit 65 ½ Jahren mit 63 Jahren in Rente gehen, also 30 Monate früher. Das
erspart an SGB II-Leistungen 29.100 Euro. Dies gilt für alle nachfolgenden
Beispielberechnungen.
Angenommen, die Rente betrüge genau 970 Euro, dann betrügen
die Abschläge 30 Monate mal 0,3 Prozent, also 9 Prozent oder 87,30 pro Monat, 1047,60
Euro pro Jahr. Von der Rente – bezogen auf 2015 – sind vorliegend keine Steuern
gemäß § 22 Nr. 1a EStG zu entrichten, weil 2015 nur 70% der Rente
steuerpflichtig sind und der steuerfreie Betrag bei 1191 Euro liegt. Zwar spart
der SGB XII-Träger Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge, weil diese der
Rentner, die Rentnerin gemäß § 237 SGB V, §§ 55, 60 Abs. 4 SGB XI entrichten
muß, und zwar die KV-Beiträge zur Hälfte (in 2015: 7,3%) plus 8,80 Euro
Zusatzbeitrag gemäß § 242a SGB V und für kinderlose Rentnerinnen und Rentner –
kinderlos heißt, die Kinder sind erwachsen und eigenständig – die 2,60 % für
die Pflegeversicherung. Steuerpflichtige Zusatzeinkommen z.B. aus Jobs,
Vermietungen bleiben hier mal außer Betracht. Dann ergibt sich ein Abzug von
9,9 % plus 8,80 Euro (Basis 970 ./. 87,30) = 96,20 Euro, insgesamt also von 183,50
Euro monatlich, die der SGB XII-Träger zusätzlich aufbringen muß. Nun ist aber
zu berücksichtigen, daß der SGB XII-Träger nicht 970 Euro monatlich zu leisten
hätte, sondern nur 800 Euro, weil die KV-/PflV-Leistungen entfallen, d.h. von
den monatlich 183,50 Euro zusätzlicher Belastung sind also 170 Euro abzuziehen,
so daß nur eine Belastung von monatlich 13,50 Euro oder jährlich162 Euro übrig
bliebe. Die Zwangsverrentung wäre für den Staat also 180 Jahre günstiger, d.h.
der bzw. die Zwangsverrentete müßte 243 Jahre alt werden, um einen Vorteil
durch die höheren SGB XII-Leistungen zu erlangen.
Ohne Zwangsverrentung, bei demselben Rentenanspruch von 970
Euro monatlich ergäben sich als KV-/PflV-Abzug (9,9% + 8,80 Euro) 105 Euro. Den
verbliebenen 865 Euro Rente (970 ./. 105) stände ein SGB XII-Anspruch von 800
Euro (970 ./. 170 KV/PflV) gegenüber, so daß nicht nur kein Sozialhilfeanspruch
gegeben wäre, sondern der Rentner, die Rentnerin monatlich 65 Euro zusätzlich
für z.B. eine gesündere Ernährung zur Verfügung hätten.
In dem letzten Beispiel wird deutlich, daß dem Rentner, der
Rentnerin sogar 65 Euro x 12 Monate = 780 Euro jährlich x 25 Lebensjahre
Sterbestatistik = 19.500 Euro an Vermögenseigentum durch die Zwangsverrentung
geklaut werden. Was ist das, wenn nicht ein Fall der Verletzung von Art. 14 GG?!
Aber das BSG spekuliert langfristig auf gebrochene
Erwerbsbiographien mit prekären Arbeitsverhältnissen, also Rente nur noch für
die Reichen wie im Feudalismus, die anderen bekommen dann ohnehin Sozialhilfe,
so daß ein Beispiel berechnet werden soll, wo jemand nur 500 Euro
Rentenanspruch erlangt hat.
Ohne Zwangsverrentung ergäben sich 2015 bei 9,9%
KV/PflV-Abzug + 8,80 Euro KV-Zusatzbeitrag monatlich 58,30 Abzug, also eine
Rente von monatlich 441,70 Euro und damit ein SGB XII-Anspruch von 358,30 Euro
(800 ./. 441,70).
Mit Zwangsverrentung ergäbe sich zunächst eine Rentenkürzung
um 45 Euro (30 Monate = 9%). Von den verbliebenen 455 Euro Rente wären
insgesamt 53,85 (9,9% + 8,80 Euro) KV-/PflV-Abzug vorzunehmen, so daß 401,15
Euro an Rente verblieben, so daß ein SGB XII-Anspruch von 399,85 Euro (800 ./. 401,15)
gegeben wäre.
Die durch die Zwangsverrentung zusätzlich zu erbringenden
SGB XII-Leistungen beliefen sich auf 41,55 Euro monatlich (399,85 ./. 358,30),
jährlich knapp 500 Euro. Der Rente beziehende Hilfeempfänger bzw. die
Hilfeempfängerin müßten (29.100 : 500) zusätzlich zu den 63,5 Jahren weitere
58,5 Jahre, mithin 122 Jahre alt werden, bevor die zusätzlichen SGB
XII-Leistungen den Gewinn aus den eingesparten SGB II-Leistungen übersteigen
würden, der Staat also einen Verlust durch die Zwangsverrentung erwirtschaften
würde.
Daß dabei das BSG zwar die Auswirkungen auf andere
Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft erkennt [BSG, a.a.O., Rdnr. 32] führt zu
keinem anderen Ergebnis, da das BSG hier wieder den Individualitätsgrundsatz
hochhält. Daß § 9 Abs. 2 SGB II diesem Individualitätsgrundsatz mit seiner
horizontalen statt vertikalen Einkommensanrechnung eklatant widerspricht,
interessiert das BSG dabei nicht. Mit solchen Antagonismen hat das BSG keine
Probleme.
Im vom BSG zu entscheidenden Fall waren Auswirkungen gemäß
§§ 43, 90, 94 SGB XII auf Kinder des bzw. der Zwangsverrenteten nicht zu
entscheiden. Hierzu meine Problembeschreibung in
http://www.HerbertMasslau.de/zwangsverrentung.html.
6. Die Zwangsverrentung ist laut BSG verfassungsgemäß
Laut BSG leitet sich aus dem Regelleistungsurteil des
Bundesverfassungsgerichts zu „Hartz IV“ vom 9. Februar 2010 [Az.: 1 BvL 1/09
u.a.] die durch Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG gewährleistete Garantie
eines menschenwürdigen Existenzminimums ab. Nur dieses sei zu garantieren.
Insofern schütze das Grundrecht zwar vor der Zurechnung fiktiver Einkommen,
diese sähe das Gesetz aber auch nicht vor [BSG, a.a.O., Rdnr. 44].
Zunächst einmal wiederholt das BSG die schon obergerichtlich
praktizierte dämliche Behauptung, eine Verletzung des Eigentumsschutzes des
Art. 14 Abs. 1 GG läge nicht vor, da das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die
mit der vorzeitigen Inanspruchnahme einer Altersrente verbundenen
Rentenabschläge für mit Art. 14 Abs. 1 GG vereinbar erklärt habe [BSG, a.a.O.,
Rdnr. 45].
Das BSG führt die BVerfG-Entscheidungen 1 BvL 3/05 u.a. und
1 BvR 1631/04 an und argumentiert in derselben hirnverbrannten Art und Weise,
wie ich es schon in meinem Artikel – http://www.HerbertMasslau.de/zwangsverrentung-ii.html
– hinsichtlich einiger obergerichtlicher Entscheidungen kritisiert hatte.
Die vom BSG genannten BVerfG-Entscheidungen gereichen nicht
zur Begründung der BSG-Entscheidung, weil sie „nur“ feststellen, daß die Kürzung
bei vorzeitiger Inanspruchnahme einer Altersrente um 0,3 Prozentpunkte je Monat
der vorzeitigen Inanspruchnahme verfassungsgemäß ist. Es geht dabei um die
Entlastung der Rentenkasse durch den längeren Rentenbezug durch die vorzeitige
Inanspruchnahme. Der wesentliche Unterschied, den wahrzunehmen die BSG-Richter
offensichtlich geistig überfordert waren, liegt im Punkt der Freiwilligkeit.
Diese Freiwilligkeit einer vorzeitigen Inanspruchnahme ist aber bei der
Zwangsverrentung gemäß §§ 12a, 5 Abs. 3 SGB II nicht gegeben. Dazu heißt es in
einer der beiden vom BSG angeführten BVerfG-Entscheidungen: „Sofern die Wahl
besteht, werden sich Versicherte durch die Rentenkürzungen zudem regelmäßig
veranlasst sehen, länger erwerbstätig zu bleiben und damit auch länger Beiträge
in die gesetzliche Sozialversicherung zu zahlen“ [BVerfG, Kammerbeschluß
vom 5. Februar 2009, Az.: 1 BvR 1631/04, Rdnr. 16].
Daß gerade diejenigen, die die Abschaffung der
Rentenversicherungsbeitragszahlungen im Rahmen des SGB II seit 2011 mit §§ 12a
und 5 Abs. 3 SGB II die Zwangsverrentung eingeführt haben, ist schon eine
Frechheit sondersgleichen, daß sich aber hochbezahlte Bundesrichter – BSG ca.
10 Tsd. Euro Grundgehalt – nicht einmal die Mühe machen, im Rahmen einer Art.
14 GG-Betrachtung den Unterschied zwischen freiwilliger Frühverrentung und
erzwungener Frühverrentung rechtlich zu diskutieren, zeugt entweder von
juristischer Unfähigkeit oder aber einer menschenverachtenden Betrachtungsweise.
Weiterhin urteilt das BSG:
„Soweit in der Antragstellung durch den Leistungsträger
anstelle des Leistungsberechtigten auf eine vorzeitige Altersrente mit
dauerhaften Rentenabschlägen ein eigenständiger Eingriff in dessen
Dispositionsfreiheit als Ausdruck seiner allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art
2 Abs 1 GG liegt, weil sich der Leistungsberechtigte gegen die Inanspruchnahme
und Beantragung der Rente entschieden hat und der durch den Antrag des
Leistungsträgers bewirkte Rentenbezug deshalb gegen seinen Willen stattfindet,
ist dieser Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt.“ [BSG, a.a.O.,
Rdnr. 46]
Denn dieses Mittel dient dem Zweck „der Sicherung des
Nachrangs existenzsichernder Leistungen“ [BSG, a.a.O.].
Und:
„Denn im Rahmen der hier vorzunehmenden
verfassungsrechtlichen Abwägung steht dem Existenzsicherungsanspruch des
Einzelnen unter Wahrung seiner Dispositionsfreiheit zur Beantragung einer
vorzeitigen Altersrente das Interesse der Allgemeinheit gegenüber, durch
steuerfinanzierte Mittel nur dem Hilfebedürftigen zu helfen, der sich mangels
zumutbarer Selbsthilfemöglichkeiten nicht zu helfen vermag und deshalb der
Hilfe des Existenzsicherungsrechts bedarf. Den Interessen des
Leistungsberechtigten wird dadurch Rechnung getragen, dass besondere,
unzumutbare Härten seine Heranziehung zur Selbsthilfe gegen seinen Willen
ausschließen und fiktive Einnahmen aus vorrangigen Sozialleistungen nicht
bedarfsdeckend berücksichtigt werden.“ [BSG, a.a.O.]
Übrigens, nicht zu vergessen, es ist dasselbe BSG, welches
mit seiner menschenverachtenden KdU-Rechtsprechung und Deckelung der KdU über
das Wohngeldgesetz eine Anpassung der KdU an die Mietwohnungsmarktrealität
verweigert!
Eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes Art. 3 Abs.
1 GG sei auch nicht gegeben.
Bezüglich anderer Leistungsbezieher und
Leistungsbezieherinnen nach dem SGB II erfolge eine Gleichbehandlung aufgrund
der §§ 12a und 5 Abs. 3 SGB II [BSG, a.a.O., Rdnr. 48].
Bezüglich derjenigen Leistungsbezieher und
Leistungsbezieherinnen, die keinen Anspruch auf vorzeitige Altersrente haben –
hier meint das BSG offensichtlich jene, die aufgrund ihrer entsprechenden
Erwerbsbiographie gar keinen Anspruch auf eine Altersrente und damit auch nicht
auf eine vorzeitige haben, etwa weil sie die 35-jährige Anwartschaft gemäß § 36
SGB VI nicht erfüllen, und somit bis 65+ im SGB II-Bezug bleiben und dann
Grundsicherung nach SGB XII beziehen – sei eine Vergleichbarkeit beider Gruppen
nicht gegeben [BSG, a.a.O.].
Bezüglich der Gruppe der Nichtleistungsbeziehenden, die eine
vorzeitige Altersrente in Anspruch nehmen könnten, fehle es schon überhaupt an
einer Vergleichbarkeit[BSG, a.a.O.].
Fazit:
Viele „Hartz IV“-Empfängerinnen und -empfänger dürften in
Zukunft neben Klagen gegen die Zwangsverrentung im SGB II parallel gegen die
Rentenbescheide im Rahmen des SGB VI klagen müssen.
Ich kann nur meine Aufforderung wiederholen, auf gar keinen
Fall freiwillig die Zwangsverrentung zu unterschreiben.
Im Rahmen des Art. 3 GG hat es das BSG bewußt unterlassen,
der Frage näher nachzugehen, ob nicht die zunehmende Benachteiligung
derjenigen, deren regulärer Renteneintritt zwischen 65 und 67 Jahren liegt,
nicht doch das Übermaßverbot verletzt, obwohl sich dies bereits im
entschiedenen Fall angeboten hatte.
Weiterhin offen bleibt im Rahmen der atypischen Härte zumindest
für Hilfeempfängerinnen und Hilfeempfänger mit erwachsenen Kindern die Frage
der Wirkungen der §§ 43, 90 und 94 SGB XII bei Zwangsverrentung. Dies darf
nicht dem Ermessen der Grundsicherungsträger überlassen bleiben, sondern dies
hat bezogen auf die Zwangsverrentung der Gesetzgeber zu klären. Insofern ist
hier eine Parallele zur KdU-Problematik § 22 SGB II gegeben, wo der Gesetzgeber
absichtlich und damit der Willkür Vorschub leistend keine Rahmenbedingungen
festgelegt hat, und das BSG die Situation durch seine schleppende und teilweise
absurde und widersprüchliche Rechtsprechung noch mehr chaotisiert hat.
Vom BSG ist nichts mehr zu erwarten. Und wer Kinder hat,
sollte sich mit diesen eine gemeinsame Verweigerungstrategie überlegen.
Nachbemerkung
Die BSG-Entscheidung ist aber noch unter einem anderen
Gesichtspunkt von Bedeutung: der langfristigen Abschaffung der gesetzlichen
Rentenversicherung.
1883 wurde die Krankenversicherung eingeführt (heute SGB V),
1884 die Unfallversicherung (heute SGB VII),
1889 die Rentenversicherung (heute SGB VI),
1927 die Arbeitslosenversicherung (heute SGB III),
nach dem Zweiten Weltkrieg die Sozialhilfe (heute SGB II und
SGB XII), die Pflegeversicherung (SGB XI) und andere Hilfen wie Wohngeld,
Kindergeld und spezielle Hilfen für Jugendliche (SGB VIII) und für Menschen mit
Behinderungen (SGB IX).
Wird einmal davon abgesehen, daß z.B. das Wohngeldrecht
immer mal wieder zur Beseitigung von Sozialhilfebezug eingesetzt wird wie 2009
und 2016, zwischendurch wie etwa mit der Abschaffung eines zwischenzeitlichen
Heizkostenzuschlags im Wohngeldrecht auch wieder der umgekehrte Weg beschritten
wird, dann ist ganz generell ein Abschaffungstrend zu erkennen. Und zwar im
historischen Rückwärtsgang:
Mittlerweile ist die Arbeitslosenversicherung bis auf einen
Kurzzeitbezug abgeschafft. Jetzt folgt die Rentenversicherung seit ein paar
Jahren zuerst durch ein immer geringeres Leistungsniveau, dann durch
Privatversicherungsmodelle, die sich nur für Leute lohnen, die ohnehin über
genügend Vermögen verfügen oder Beamte sind. 2004 wurde auch schon der große
Kahlschlag im Krankenversicherungsrecht begonnen. Dieser vollzieht sich aber
anders und nicht so stringent wie bei der Renten- und Arbeitslosenversicherung,
weil hier die Krankenhausmafia ein gehöriges Wort eigener Bereicherung
mitzureden hat. Am Ende wird es nur noch die private Risikovorsorge geben für
diejenigen, die auf Kosten der Gesamtgesellschaft sich genügend bereichern
konnten und den Parteibuchbeamten, die der Staat unter anderem und im
besonderen als Sozialrichter benötigt. Der zwangsverarmte Teil der Gesellschaft
wird mit Notunterkünften, einer auf die Notfallmedizin abgespeckten
Krankenversicherung und einer knapp über der Verhungernsgrenze liegenden
Sozialhilfe irgendwie am leben gehalten, physisch. Dabei ist der deutsche Staat
immer noch der preußische Staat, der darauf achten wird, daß nicht eine
revolutionäre Volksmasse die Verhältnisse umstürzt, sondern der Staat selber wird
durch kleine Häppchen, die er den verarmten Menschen zuwirft, gerade soviel,
daß sie noch nicht auf die Barrikaden gehen, dies zu verhindern suchen.
Daß Teil dieser Gesamtentwicklung zunehmend
menschenverachtende Richtersprüche sind, ist selbstredend. Auch BSG-Richter
haben ein Parteibuch und damit spezifische Interessen.