Die seit der Erstellung des ursprünglichen Artikels vom
20. Dezember 2004 erfolgte Rechtsprechung und die Änderung des
Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zum 1. April 2008 hatten bereits eine
entsprechende Ergänzung dieses Artikels notwendig gemacht, welche mit der
überarbeiteten und erweiterten Fassung vom 30. November 2008 erfolgte.
Einerseits die weitere Gesetzesverschärfung, die am 25.
Oktober 2013 in Kraft trat, andererseits einander widerstreitende
obergerichtliche Rechtsprechung machten eine weitere Überarbeitung und
Ergänzung dieses Artikels notwendig.
Die ursprünglich (2008) geplante Auseinandersetzung mit
der seinerzeit noch sehr unterschiedlichen Rechtsprechung zum Eilrechtsschutz
hat sich inzwischen durch die Angleichung der obergerichtlichen Rechtsprechung
erübrigt. Bis auf den Aspekt der Unterkunftskosten (KdU), der in diesem Artikel
als Spezialfall abgehandelt wird.
Gesetzeshistorie
Mit dem Sechsten Gesetz zur Änderung
des Sozialgerichtsgesetzes (6.SGGÄndG) vom 17. August 2001 [BGBl. I,
Nr. 43, 22. August 2004, S. 2144 ff.] wurde das Sozialgerichtsgesetz – im
Nachhinein kann gesagt werden: wohl schon im Hinblick auf die Umgestaltung der
Sozialgesetzgebung – umgestaltet. Insbesondere wurde mit dem § 86a [Wiederherstellung
der aufschiebenden Wirkung in Anlehnung an § 80 Abs. 5 VwGO] und § 86b
[Einstweilige Anordnung in Anlehnung an § 123 Abs. 1 VwGO] der
zukünftigen Versozialhilferisierung der Arbeitslosen Rechnung getragen.
Vor dieser Umgestaltung des
Sozialgerichtsgesetzes (SGG) wurde im alten § 97 SGG festgelegt, wann eine
Klage Aufschiebende Wirkung hatte. Der neue § 86a SGG erweitert die
Aufschiebende Wirkung allgemein auch auf Widersprüche im
sogenannten Vorverfahren vor dem gerichtlichen Verfahren [*]. Ferner gilt die Aufschiebende
Wirkung generell bei Anfechtungsklagen, nicht jedoch bei
Verpflichtungsklagen. Aber auch hier ist der Wurm drin. Denn, gerade dort, wo
es für Arbeitslose besonders wichtig ist, wird die Aufschiebende Wirkung gesetzlich
ausgeschlossen, nämlich „in Angelegenheiten ... der Bundesanstalt für Arbeit
bei Verwaltungsakten, die eine laufende Leistung entziehen oder herabsetzen“ (§
86a Abs. 2 Nr. 2 SGG) und „in anderen durch Bundesgesetz vorgeschriebenen
Fällen“ (§ 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG).
Mit dem neuen Arbeitslosengeld II ab 1.
Januar 2005 wurde dies sogar in § 39 SGB II (Sofortige Vollziehung)
festgelegt:
„Widerspruch und Anfechtungsklage gegen
einen Verwaltungsakt, der 1. über Leistungen der Grundsicherung für
Arbeitsuchende entscheidet oder 2. ... haben keine aufschiebende Wirkung."
Im Laufe der Jahre erfolgten Ergänzungen
zu Lasten der Hilfebedürftigen als Folge von für die Hilfebedürftigen günstiger
Rechtsprechung.
2016 lautet der Ausschluß von der
aufschiebenden Wirkung wie folgt:
„Keine aufschiebende Wirkung haben
Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, 1. der Leistungen
der Grundsicherung für Arbeitsuchende aufhebt, zurücknimmt, widerruft,
entzieht, die Pflichtverletzung und die Minderung des Auszahlungsanspruchs
feststellt oder Leistungen zur Eingliederung in Arbeit oder Pflichten
erwerbsfähiger Leistungsberechtigter bei der Eingliederung in Arbeit regelt, 2.
mit dem zur Beantragung einer vorrangigen Leistung aufgefordert wird oder 3.
mit dem nach § 59 in Verbindung mit § 309 des Dritten Buches zur persönlichen
Meldung bei der Agentur für Arbeit aufgefordert wird.“
Dieser kurze Rekurs auf den hier nicht
weiter interessierenden § 86a SGG ist nötig, da eine Einstweilige Anordnung nach
§ 86b SGG in den Fällen nicht in Frage kommt, in denen das Ziel mit der
Aussetzung der Sofortigen Vollziehung erreicht werden kann, also
durch die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung.
Dies ist zum Beispiel der Fall bei der
Verpflichtung zum Arbeitsdienst, den sogenannten 1-Euro-Jobs. In einem solchen
Fall ist eine Doppelstrategie wohl unvermeidlich, will sagen: Widerspruch und
Anfechtungsklage gegen den entsprechenden Bescheid mit gleichzeitigem Antrag
auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung (§ 86b Abs. 1 Nr.
2 SGG) vor Gericht [*] und parallel im Falle der Bestrafung nach §§ 31 ff. SGB
II (Leistungskürzung) Widerspruch und Anfechtungsklage, weil dann im Falle des
Obsiegens die alte Leistungsbewilligung fortgilt.
[*] Nach § 86a Abs. 3 SGG kann die
Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen hat oder über den Widerspruch
entscheidet, in den Fällen des § 86a Abs. 2 SGG die Sofortige Vollziehung aussetzen.
Allerdings dürfte dies in der Realität keine Rolle spielen. Denn die Behörde,
die etwa den Arbeitszwang mit der Sofortigen Vollziehung versieht,
tut dies mit Absicht, nämlich der Absicht, Leistungen einzusparen, und sei es
auch über den Umweg der Strafe nach §§ 31 ff. SGB II. Insofern dürfte in der
Realität die gerichtlich angeordnete Aussetzung der Sofortigen Vollziehung mit
Hilfe von § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG ausschließlich in Frage kommen.
Berufungsbeschränkung 2008
Zum 1. April 2008 wurde das
Sozialgerichtsgesetz geändert [BGBl. I, 2008, Nr. 11, S. 444-448]. Diese
Änderungen dienen im Wesentlichen der Einschränkung der Klage- und Beschwerderechte
der Leistungsempfängerinnen und -empfänger nach SGB II und SGB XII. Ausführlich
hierzu mein Artikel „SGG-Änderungsgesetz 2008 – Gesetz
gegen ‚Hartz IV’-Betroffene“.
Für das hier behandelte Eilverfahren, die Einstweilige
Anordnung, ist die Regelung in §172 Abs. 3 Nr. 1 SGG von Bedeutung.
Hier wird nämlich die Beschwerde vor dem Landessozialgericht (LSG) gegen eine
Eilentscheidung des Sozialgerichts (SG) dann nicht mehr zugelassen, „wenn in
der Hauptsache die Berufung nicht zulässig wäre“. Bisher galt, daß gegen
die Eilentscheidung eines SG die Berufung vor dem LSG ohne Einschränkung
möglich war.
Aber die Beschwerde wurde nicht nur
grundsätzlich eingeschränkt, sondern gleichzeitig wurde durch Änderung des §
144 SGG der die Berufung beschränkende Streitwert von bisher 500 Euro auf 750
Euro erhöht.
Die Bedeutung dieser Einschränkung im
Eilverfahren ergibt sich nicht ohne Weiteres aus der Änderung des SGG allein,
sondern wird erst dann wirklich deutlich, wenn auch der Charakter der einzelnen
Sozialgerichte berücksichtigt wird.
Zunächst ist klar erkennbar, daß eine
Heraufsetzung des Streitwertes – im Verfahren der Einstweiligen Anordnung
überhaupt der Einführung eines Beschwerde-Streitwertes – eine Beschränkung der
Beschwerdemöglichkeit darstellt.
So ist zu erwarten, daß in Zukunft
erstinstanzlich abgelehnte Anträge auf Einstweilige Anordnung nur noch
dann die Beschwerde-Instanz erreichen, wenn sie für den gesamten
Bewilligungszeitraum (in der Regel 6 Monate) den Bewilligungsbescheid in seiner
Gänze (geldlich) umfassen. D.h., Einzelaspekte wie Differenzen bei den
Unterkunftskosten, wie die strittige Anrechnung von Einkommensanteilen, wie Einzelfragen
wie die Berücksichtigung von Schulkosten werden dann komplett rausgekickt. Denn
bisher war es möglich, daß bei einer ablehnenden Rechtsauffassung des SG, die
dann sowohl das Eil- wie auch das Hauptverfahren betraf, immerhin im
Eilverfahren die Chance bestand, daß das LSG zu Gunsten der Betroffenen
entschied mit Wirkung auch auf das erstinstanzliche Hauptverfahren. Der
umgekehrte Weg kam allerdings auch vor; hier entfaltet dann die neue Regelung
im SGG quasi eine vorläufige Schutzwirkung für die Betroffenen.
Auch bei Bestrafungen nach § 31 SGB II war
zu erwarten, daß nicht die Frage der Rechtmäßigkeit der Leistungskürzung oder
der Anwendbarkeit des § 31 SGB II überhaupt ausschlaggebend waren für eine
Zulassung der Berufung, sondern einzig und allein die Höhe des gekürzten
Geldbetrages.
Also, die Beschwerde ist automatisch nur
gegeben bei einem höheren Streitwert als 750 Euro (§ 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG),
ansonsten nur, wenn sie vom SG ausdrücklich zugelassen wurde. Eine
Rechtsmittelbelehrung am Ende des gerichtlichen Beschlusses reicht nicht.
Daß die
Streitwertgrenze im Zivilrecht bei „nur“ 600 Euro liegt (§ 511 Abs. 2 Nr. 1
ZPO) – das Gleiche gilt im Arbeitsgerichtsverfahren – ist bezeichnend. Für von
existenzsichernden Leistungen Abhängige gibt es nicht einmal eine abweichende
Regelung in § 144 SGG. Dabei sprach das BSG in seiner Entscheidung im Verfahren
B 14 AS 13/10 R davon, daß ein Betrag von monatlich 20,45 Euro kein
Bagatellbetrag mehr sei. Wie sollen Betroffene hier im Rahmen eines Eilrechtsverfahrens
zu ihrem Recht kommen, wenn dies kurzfristig vonnöten ist, weil sonst nicht
mehr durch das Hauptsacheverfahren revidierbare Nachteile entstehen? Dieses
Rechtsproblem ist bis heute virulent.
Berufungsbeschränkung 2013
Mit Artikel 7 des Gesetz zur Neuorganisation
der bundesunmittelbaren Unfallkassen, zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes
und zur Änderung anderer Gesetze (BUK-Neuorganisationsgesetz – BUK-NOG) vom
19. Oktober 2013 [BGBl. I, 2013, Nr. 63, S. 3847] wurde § 172 Abs. 3 SGG wie
folgt geändert:
„Die Beschwerde ist ausgeschlossen 1. in
Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, wenn in der Hauptsache die Berufung
der Zulassung bedürfte, 2 … .“
Was zunächst harmlos klingt, hat
gravierende Bedeutung.
Die vorherige Fassung des § 172 Abs. 3 SGG
lautete:
„Die Beschwerde ist ausgeschlossen 1. in
Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, wenn in der Hauptsache die Berufung
nicht zulässig wäre; … .“
„Zulässig“ wäre demnach eine Beschwerde an
das LSG im Eilrecht auch nach den Bestimmungen des § 144 Abs. 2 SGG,
insbesondere im Hinblick auf die grundsätzliche Bedeutung einer Sache, die
häufig von LSG angenommen wurde. Die Gesetzesänderung bezieht sich nun aber auf
§ 144 Abs. 1 SGG, der besagt, daß die Berufung der Zulassung bedarf, wenn der
Streitwert von 750 Euro nicht überschritten wird. (Der weitere Fall hat keine
Bedeutung angesichts der Länge des SGB II-Bewilligungszeitraumes von jetzt 12
Monaten bzw. im Falle gekürzter KdU von weiterhin 6 Monaten.)
Wenn also gemäß § 144 Abs. 1 SGG die
Berufung der ausdrücklichen Zulassung bedarf durch das SG bzw. das LSG, wobei
die Fälle des Absatz 2 automatisch subsumiert sind, dann ist die Beschwerde an
das LSG im Eilrechtsverfahren ausgeschlossen. Daraus folgt, daß in der Praxis
die Beschwerde an das LSG nur noch zulässig ist, wenn es um existenzsichernde
Leistungen geht, die den Streitwert von 750 Euro überschreiten. Dies gilt seit
dem 25. Oktober 2013 so.
Die Gesetzesbegründung lautet lapidar
„Mit Nummer 1 wird – der überwiegenden
Meinung in Rechtsprechung und Literatur entsprechend – klargestellt, dass es in
Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes für die Frage der
Beschwerdemöglichkeit lediglich darauf ankommt, ob in der Hauptsache der in §
144 Absatz 1 SGG geregelte Berufungsstreitwert erreicht wird.“ [BTDrs. 17/12297, S. 40]
und gibt den wahren Grund, die Entlastung
der Landessozialgerichte zu Lasten des Rechtsschutzes von Hilfebedürftigen im
Hinblick auf existenzsichernde Sozialleistungen, nicht wieder.
Verfassungsrechtlich ist dies nicht zu
beanstanden, da die Rechtswegganrantie Art. 19 Abs. 4 GG lediglich die
grundsätzliche gerichtliche Überprüfungsmöglichkeit vorschreibt und nicht die
Anzahl der Instanzen:
„Die verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgewährleistungen
sichern jedenfalls die einmalige Möglichkeit zur Einholung einer gerichtlichen
Entscheidung zur Überprüfung einer behaupteten Rechtsverletzung; eine weitere
Instanz kann in Anspruch genommen werden, wenn der Gesetzgeber sie
bereitgestellt hat und die Voraussetzungen ihrer Anrufung erfüllt sind (…).“ [BVerfG, Beschluß vom 8. Januar 2004, Az.: 1 BvR 864/03,
Rdnr. 16, zit.n. http://www.bverfg.de/entscheidungen/rk20040108_1bvr086403.html]
„Das Recht auf effektiven Rechtsschutz garantiert bei
Rechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt den Zugang zu den Gerichten,
die Prüfung des Streitbegehrens in einem förmlichen Verfahren sowie die
verbindliche gerichtliche Entscheidung. Art. 19 Abs. 4 GG umfasst zwar nicht
das Recht auf Überprüfung der richterlichen Entscheidung; sehen die
Prozessordnungen allerdings eine weitere gerichtliche Instanz vor, so sichert
Art. 19 Abs. 4 GG die Effektivität des Rechtsschutzes auch insoweit (…).“ [BVerfG, Beschluß vom 12. Februar 2007, Az.: 2 BvR 273/06,
zit. n. Rechtsprechungsdatenbank auf www.bundesverfassungsgericht.de]
D.h., ein Rechtsstaat muß eine
gerichtliche Überprüfung ermöglichen, aber eine einzige Instanz ist
verfassungsrechtlich ausreichend, es sei denn, der Gesetzgeber hat mehrere
Instanzen vorgesehen, was aber das Gutdünken des Gesetzgebers bleibt.
„Soweit ein Fall des Absatzes 1 [Wiederherstellung der
aufschiebenden Wirkung bei Widerspruch oder Anfechtungsklage, s.o.] nicht
vorliegt, kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige
Anordnung in bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht,
daß durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines
Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte.“
So beginnt Absatz 2 von § 86b SGG. Damit
drückt das Gesetz schon selber aus, worum es bei der Einstweiligen Anordnung
geht: den vorläufigen Schutz vor irreparabler Rechtsverletzung vor einer
endgültigen gerichtlichen Entscheidung.
Allgemeines
Wer sich dazu in der Lage wähnt, kann
einen Antrag auf Einstweilige Anordnung vor dem zuständigen
Sozialgericht selbst stellen. Dies bietet sich schon aus dem Grunde an, um
Rechtsanwaltsgebühren zu sparen, da die Verfahren vor den Sozial- und Landessozialgerichten
ohne Anwaltszwang sind.
Die Einstweilige Anordnung kann
schon vor Erhebung der eigentlichen Klage (Hauptsacheverfahren) beantragt
werden (§ 86b Abs. 3 SGG), um übermäßige Nachteile abzuwenden; sie dient also
eigentlich nicht dazu Ansprüche zu erfüllen, sondern Rechte zu sichern.
Der Antrag auf Einstweilige Anordnung gewinnt
seine Bedeutung ja gerade dadurch, daß ein Widerspruch keine aufschiebende
Wirkung hat.
Zunächst einmal setzt der Antrag auf Einstweilige
Anordnung voraus, daß überhaupt ein Antrag wegen Leistungen nach dem
SGB II oder SGB XII gestellt ist.
Weitere Voraussetzung für einen Antrag auf
Einstweilige Anordnung ist, daß der betreffende Verwaltungsakt (VA)
mit einem Widerspruch oder einer Anfechtungsklage [soll VA-Ausführung hindern]
belegt ist. Der Verwaltungsakt darf also noch nicht durch Fristablauf
rechtskräftig geworden sein.
Bei einer Verpflichtungsklage [sog.
unechte Leistungsklage, die auf eine Änderung des VA zielt, z.B. um höhere
Leistungen zu bekommen] ist immer die Einstweilige Anordnung geboten.
Auch die rückwirkende Aussetzung der
Vollziehung ist möglich, wenn der Verwaltungsakt bereits vollzogen ist.
Wichtig: Das Gericht entscheidet nur auf
Antrag!
Zuständig bei der Einstweiligen
Anordnung ist das Sozialgericht, welches auch für die Klage in der
Hauptsache zuständig ist oder wäre.
Grundsätzlich gilt für den Antrag nach §
86b SGG das, was für jede Klage auch gilt: genaue Benennung der Antragsgegnerin
– da es sich um einen Antrag handelt ist nicht von Klägern und Beklagten die
Rede, sondern von Antragstellern und Antragsgegnern – und genaue Darlegung des
Streitgegenstandes, mithin, um was es geht und welches Recht verletzt ist.
Da im Antragsverfahren der Einstweiligen
Anordnung die Eilbedürftigkeit eine zentrale Rolle spielt, ist
besondere Sorgfalt beim Antrag wichtig. Während bei einer gewöhnlichen Klage
schon mal der eine oder andere Beleg während des Verfahrens – eventuell auch
erst nach Aufforderung durch das Gericht – nachgeschoben werden kann, sollten
die notwendigen Belege (Kopien) im Antragsverfahren auf Einstweilige
Anordnung unbedingt vollständig sein, da in der Regel ohne mündliche
Verhandlung oder richterliche Anhörung und auch ohne weiteren Schriftwechsel
nach Anhörung der Antragsgegnerin durch Beschluß seitens des Gerichtes
entschieden wird. Wird dabei Wesentliches vergessen, kann es zur Ablehnung der Einstweiligen
Anordnung führen, obwohl es ansonsten zu einer solchen gekommen wäre.
Ferner sollte im Falle erstmaligen Leistungsbezuges nach SGB II oder SGB XII
der Antrag auf Einstweilige Anordnung eine eidesstattliche
Versicherung enthalten, daß die gemachten Angaben der Wahrheit entsprechen.
Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch
Bei einer Einstweiligen Anordnung muß
unbedingt beachtet werden, daß an eine Einstweilige Anordnung besondere
(erschwerende) Voraussetzungen geknüpft sind. Dabei müssen für eine Einstweilige
Anordnung zwei unabdingbare Merkmale erfüllt sein: der Anordnungsgrund und
der Anordnungsanspruch.
Auch wenn im Antragsverfahren auf Einstweilige
Anordnung die Eilbedürftigkeit einer gerichtlichen Regelung die
primäre Rolle spielt, wie es auch der Begriff Anordnungsgrund verdeutlicht,
so kann diese dennoch nur dann rechtliche Bedeutung erlangen, wenn sie auf dem
Grund eines Rechtsanspruchs (Anordnungsanspruch) steht.
Der Anordnungsanspruch muß
also gegeben sein, das heißt, es muß ein Rechtsanspruch auf eine bestimmte
Leistung bestehen. Bei den Leistungsansprüchen nach SGB II und SGB XII kommt es
in der Regel ohnehin auf eine bestimmte Leistung an; Anfechtungsklagen spielen
hier – mit Ausnahme der Leistungskürzung gemäß §§ 31 ff. SGB II
– eher keine Rolle, dafür umso mehr die Verpflichtungsklage als eine
Form der Leistungsklage. Wie bei der Verpflichtungsklage muß also auch im
Antragsverfahren auf Einstweilige Anordnung begründet werden, warum
ein Rechtsanspruch besteht.
An dieser Stelle sollen nicht und können
nicht Einzelfallbetrachtungen vorgenommen werden. Einstweilige Anordnungen dürften
in der Praxis aber weniger eine Rolle spielen etwa bei Einmaligen Leistungen
als vielmehr bei Themen wie keine volle Mietübernahme.
Hier kommt es auf eine sorgfältige Darstellung der Sachlage und der Beifügung
aller relevanten Dokumente, insbesondere Bescheide des Amtes, eigene Anträge
und Einlassungen an. Denn, wie gesagt, eine mündliche Verhandlung oder eine
Anhörung vor dem Richter ist eher selten im Verfahren auf Einstweilige
Anordnung.
Nun muß dem Gericht nicht unbedingt ein
fachjuristischer Antrag vorgelegt werden, mit Urteilssequenzen übergeordneter
Instanzen etwa, da im Gegensatz zum Verfahren vor Zivilgerichten – vereinfacht:
was die Partei nicht vorträgt findet keine Berücksichtigung – im
verwaltungsgerichtlichen Verfahren generell, zu dem als spezielles
verwaltungsgerichtliches Verfahren das sozialgerichtliche Verfahren zählt, der
‘Untersuchungsgrundsatz‘ gilt (§ 103 SGG: „Das Gericht erforscht den
Sachverhalt von Amts wegen“). Wie aber nun einsichtig sein dürfte, gebietet
es ja gerade die Eilbedürftigkeit im Verfahren auf Einstweilige Anordnung,
daß das Gericht sich nicht erst monatelang mit der Sache beschäftigen und
umständlich den Sachverhalt aufklären kann. Bei der Einstweiligen Anordnung geht
es ja gerade um eine vorläufige Regelung, damit eine Entscheidung in der
Hauptsache – die kann ja sogar gegenteilig ausgehen – nicht wegen eines vorher schon
irreparabel gewordenen Rechtsschadens bedeutungslos geworden ist, etwa wenn
wegen Räumungsklage die Wohnung gewechselt werden mußte, obwohl später der
Leistungsträger zur Übernahme der vollen Miete verurteilt wird. Somit besteht
für den Antragsteller/die Antragstellerin also im eigenen Interesse der Zwang
möglichst sorgfältig und umfassend den Sachverhalt für das Gericht
darzustellen.
Der Anordnungsgrund sollte
dem Gericht die Eilbedürftigkeit einer vorläufigen gerichtlichen Regelung
verdeutlichen. Das heißt, es muß dem Gericht deutlich werden, warum die Sache
nicht noch Zeit hat. Obwohl mittlerweile einige Sozialgerichte den Anordnungsgrund
allein bereits durch den Existenzsicherungscharakter der „Hartz
IV“-Leistung als gegeben ansehen, sollte dennoch nicht auf diese Darstellung
verzichtet werden.
Nun kann im Sozialrecht nach SGB II und
SGB XII, eben weil die Sozialhilfe, zu der seinem Regelungscharakter nach auch
das Arbeitslosengeld II gehört (gegenseitiger Ausschluß: § 5 Abs. 2 SGB II/§ 21
SGB XII), dem Grundsatz nach nachrangig ist, zunächst die Eilbedürftigkeit
unterstellt werden. Gleichwohl gilt dies nicht für jeden Streitgegenstand.
Eilbedürftigkeit kann sicherlich in all
den Fällen unterstellt werden, in denen es um die rechtswidrige Kürzung von
Leistungen geht. Deshalb spielt die Einstweilige Anordnung gerade
in den Bereichen KdU (und EGV) eine besondere Rolle.
Andererseits kann ein Antrag auf Einstweilige
Anordnung – obwohl später das Hauptsacheverfahren positiv ausgeht –
scheitern, weil das Gericht etwa wegen vorhandenem Schonvermögen, aus dem der
Leistungsanspruch erstmal hätte vorgeschossen werden können, eine
Eilbedürftigkeit verneint. Hier gilt es also sorgfältig zu überlegen, ob der
Aufwand für einen selbst, der mit einem Antrag auf Einstweilige Anordnung verbunden
ist, auch gerechtfertigt ist.
Trotz Eilbedürftigkeit brauchen Einstweilige
Anordnungen ihre Zeit. In der Regel sollte das Gericht aber innerhalb
eines Monats einen Antrag auf Einstweilige Anordnung entschieden
haben.
Spezialfall KdU
Das LSG NRW hat(te) zwischenzeitlich die Rechtsauffassung
bundesweit bekannt gemacht, im Falle gekürzter Unterkunftskosten (KdU) sei ein
Eilrechtsgrund/Anordnungsgrund nur gegeben, wenn eine Zwangsräumung drohte. Während
der 12. und 19. Senat des LSG NRW an dieser Rechtsauffassung weiterhin
festhalten, haben sich der 6. und 7. Senat mittlerweile hiervon distanziert.
So greift die
Rechtsauffasung des 12. LSG-NRW-Senats [Beschluß vom 13. Mai 2015, Az.: L 12
AS 573/15 B ER u. L 12 AS 574/15 B; ebenso schon: Beschluß vom 17. Februar
2015, Az.: L 12 AS 47/15 B ER] nicht, weil sich der 12. Senat des LSG NRW zwar
vom 6. Senat des LSG NRW distanziert, aber lediglich die absurde Behauptung im
Hinblick auf § 569 Abs. 3 Nr. 2 BGB und § 22 Abs. 9 SGB II wiederholt, ohne
sich mit den durchschlagenden mietrechtlichen Argumenten des 6. Senats des LSG
NRW (z.B. bei fristgerechter Kündigung), denen sich der 11. und 13. Senat des
LSG Niedersachsen-Bremen angeschlossen haben [Beschluß vom 26. Januar 2015,
Az.: L 11 AS 261/14 B und Beschluß vom 27. Juli 2015, Az.: L 13 AS 205/15 B
ER], auseinanderzusetzen.
Das gleiche betrifft die
Rechtsauffassung des 19. Senats des LSG NRW [Beschluß vom 6. Juli 2015, Az.: L
19 AS 931/15 B ER], in welcher sich der 19. Senat im Gegensatz zum 12. Senat
zwar überhaupt mit der Gegenposition des 6. Senats im Hinblick auf das
Mietvertragsrecht auseinandersetzt, hier aber im Kern die mietrechtlichen
Entscheidungen des BGH teilweise mißversteht, teilweise überinterpretiert – so
etwa bei Bezug auf BGH, Urteil vom 10. Oktober 2912, Az.: VIII ZR 107/12, wenn
er den Leitsatz „Eine ordentliche Kündigung
wegen Zahlungsverzugs ist auch unterhalb der für die fristlose Kündigung
geltenden Grenze des § 543 Abs. 2 Nr. 3 BGB möglich.“ und „Angesichts dieser unterschiedlichen Anforderungen an
die fristlose und die ordentliche Kündigung besteht kein Grund, die vom
Gesetzgeber für die fristlose Kündigung wegen Zahlungsverzugs festgelegten
Grenzen auf die ordentliche Kündigung zu übertragen.“ [BGH, a.a.O., Rdnr. 19]unterschlägt oder gar die
Hilfebedürftigen einem unsicheren, weil nicht prognostizierbaren
Zivilrechtsverfahren aussetzen will, indem er auf „Allerdings hat der Senat im Zusammenhang mit der Bedeutung der
Schonfristzahlung für eine ordentliche Kündigung ausgeführt, die innerhalb der
Frist des § 569 BGB erfolgte nachträgliche Zahlung könne die Pflichtverletzung
des Mieters in einem milderen Licht erscheinen lassen und unter diesem Gesichtspunkt
von Bedeutung sein (vgl. Senatsurteil vom 16. Februar 2005 - VIII ZR 6/04, aaO
unter II 2 d cc).“[BGH,
a.a.O., Rdnr. 31] verweist, also einer freien Beurteilung, deren Ausgang eben
nicht sicher ist.
Hierzu noch folgende Rechtsprechung:
„Es ist den Betroffenen regelmäßig nicht zuzumuten,
einen zivilrechtlichen Kündigungsgrund nach §§ 543, 569 Bürgerliches Gesetzbuch
(BGB) entstehen zu lassen, eine Kündigung hinzunehmen, eine Räumungsklage
abzuwarten und auf nachfolgende Beseitigung der Kündigung gemäß § 569 Abs. 3
Nr. 2 BGB zu hoffen. Neben dem drohenden Verlust des Lebensmittelpunkts
entstehen weitere Nachteile wie die Kosten des Kündigungsrechtsstreits, ein
Schufa-Eintrag, die Zerrüttung des Mietverhältnisses, die zeit- und
kostenaufwändigen Suche nach einer preiswerten Ersatzwohnung und der
Umzugsaufwand.“ [Bayerisches LSG,
Beschluss vom 19. März 2013, Az.: L 16 AS 61/13 B ER]
„Die Kläger können auch nicht darauf verwiesen werden,
ihren tatsächlichen mietvertraglichen Verpflichtungen nicht vollständig
nachzukommen und eine weitere Erhöhung der hier nach den Feststellungen des LSG
bereits vorhandenen Mietschulden hinzunehmen. Im Bereich der KdU sind die
existenzsichernden Leistungen dergestalt geregelt, dass ein Anspruch auf
Übernahme der KdU-Aufwendungen nicht erst besteht, wenn eine Kündigung des
Mietverhältnisses unmittelbar bevorsteht. Es besteht mit dieser Maßgabe eine
Verpflichtung des SGB II-Trägers zur Deckung des (hier vorübergehend erhöhten)
individuellen Bedarfs jedes Grundrechtsträgers (…).“ [BSG, Urteil vom 23. Mai 2013, Az.: B 4 AS 67/12 R,
Rdnr. 23]
welcher eindeutig der Vorzug gebürt.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat
diese Rechtsfrage noch offengelassen:
„Ob Art. 19 Abs. 4 GG erst
bei drohender Wohnungslosigkeit die Gewährung von Eilrechtsschutz gebietet,
oder ob - wie vom Beschwerdeführer geltend gemacht - im Einzelfall auch aus
anderen, der drohenden Wohnungslosigkeit vorgelagerten nennenswerten
Beeinträchtigungen (vergleiche hierzu Bayerisches Landessozialgericht,
Beschluss vom 19. März 2013 - L 16 AS 61/13 B ER -, juris, Rn. 30;
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 28. Januar 2015 - L 11
AS 261/14 B -, juris, Rn. 13; Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen,
Beschluss vom 17. Juni 2015 - L 6 AS 833/15 B ER -, juris, Rn. 32 ff.) von Verfassungs
wegen ein zwingendes Bedürfnis nach der Gewährung von Eilrechtsschutz entstehen
kann, kann hier dahinstehen.“
[BVerfG, Kammerbeschluß vom 18. April 2016, Az.: 1 BvR 704/16, Rdnr. 5]
Die Tatsache aber, daß das BVerfG die hier
vom Autor bevorzugte obergerichtliche Rechtsprechung überhaupt aufführt, läßt
eine zukünftige verfassungsrechtliche Interpretation erahnen [Aktualisierung: Diese Rechtsprechung ist nun mit BVerfG, Kammerbeschluß vom 1. August 2017, Az.: 1 BvR 1910/12 erfolgt: „Die Beurteilung des Anordnungsgrundes darf nicht
schematisch erfolgen. … Daher ist bei der Prüfung, ob ein
Anordnungsgrund für den Eilrechtsschutz vorliegt, im Rahmen der wertenden
Betrachtung zu berücksichtigen, welche negativen Folgen finanzieller, sozialer,
gesundheitlicher oder sonstiger Art ein Verlust gerade der konkreten Wohnung
für die Betroffenen hätte.“ - Herbert Masslau, 27. August 2017]. Schließlich kann
es nicht angehen, daß aus rein fiskalischen Gründen willkürlich festgelegte
kommunale KdU-Grenzbeträge, auch unter Mithilfe von Gefälligkeitsgutachten,
Menschen in die Obdachlosigkeit treiben.
Zwangsvollstreckung
Sollte im Falle einer positiven
gerichtlichen Entscheidung ein Leistungsträger (SGB II:
Arbeitsagentur/Arbeitsgemeinschaft/Optionskommune – SGB XII: Kommune) dennoch
die Leistung nicht gewähren, dann muß bei dem Sozialgericht, das die Einstweilige
Anordnung angeordnet hat, gemäß § 199 Abs. 1 Nr. 2 SGG ein Antrag auf
Vollstreckung des Anordnungstitels gestellt werden. Allerdings muß als
Voraussetzung die Anordnung des Gerichtes auch einen vollstreckbaren Titel
(z.B. eine konkrete Leistung) überhaupt enthalten.
Vor dem 25. Oktober 2013 bedeutete dies,
daß innerhalb eines Monats (§ 929 Abs. 2 ZPO) die Vollstreckung beantragt
werden mußte.
Bereits früher führte dies zu einander
widersprechender obergerichtlicher Rechtsprechung [für die Monatsfrist:
Schleswig-Holsteinisches LSG, Beschluß vom 4. Januar 2007, Az.: L 11 B 509/06
AS ER und LSG Berlin-Brandenburg, Beschluß vom 7. November 2012, Az.: L 23 SO
239/12 B ER; gegen die Monatsfrist: Sächsisches LSG, Beschluß vom 22. April
2008, Az.: L 2 B 111/08 AS ER].
Inzwischen ist dieses Rechtsproblem – hier
mal zu Gunsten der Betroffenen – geregelt. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG wurde
dahingehend geändert, daß die Anwendbarkeit von § 929 Abs. 2 ZPO nicht mehr
enthalten ist [BGBl. I, 2013, Nr. 63, S. 3847]. Laut Gesetzesbegründung soll
damit „unnötige[r] Handlungsdruck für den Antragsteller“ [BTDrs. 17/12297, S.
39] genommen werden, da ja die an Recht und Gesetz gebundenen Behörden sich
auch an dieses halten würden. Daß dem nicht so ist, beweist aktuelle
erstinstanzliche Rechtsprechung:
„Der Antragsgegner wird gegen eine
Zwangsgeldandrohung von 1.000 EUR aufgefordert, den Beschluss vom 18.9.2012 bis
spätestens Freitag, den 26. Oktober 2012, in Form der Erteilung eines
Bescheides unter gleichzeitiger Anweisung von 674 EUR für September 2012 sowie
674 EUR für Oktober 2012 umzusetzen.“ [SG Berlin, Beschluß vom 23. Oktober 2012, Az.: S 37 AS 23126/12
ER ein Jahr vor der Gesetzesänderung]
„Der Antragsgegner wird unter Androhung
eines Zwangsgeldes von € 500,00 aufgefordert, den Beschluss des SG Magdeburg
vom 11.06.2015, S 16 SO 142/14 ER, bis spätestens 31.01.2016 … umzusetzen.“ [SG Magdeburg, Beschluß vom 29. Dezember
2015, Az.: S 16 SO 176/15 ER]
Hier bleibt den Betroffenen seit dem 25.
Okrober 2013 nur der Verlust des gerichtlichen Titels und damit der Zwang zu
einer erneuten Antragstellung im Verfahren des Einstweiligen Rechtsschutzes
erspart.