Der nachfolgende Artikel ist veranlaßt durch die Unsitte an
deutschen Sozialgerichten, eigene Meinungen zu Sachthemen zur Grundlage von
gerichtlichen Entscheidungen zu machen, wo eigentlich sachverständige Kunde von
anderen Personen angebracht wäre.
Richter und Richterinnen dürfen aber nur dann ihre eigene
Meinung zu einem Sachverhalt in die gerichtliche Entscheidung einfließen
lassen, wenn sie über eine entsprechende Sachkunde verfügen. Dies wäre dann der Fall, wenn diejenigen Richterinnen und Richter von
Sozialgerichten, welche zum Beispiel über Fragen des Krankenversicherungsleistungsrechtes in
einem konkreten Fall entscheiden und dabei eigene medizinische Meinungen äußern,
selber über medizinische Kenntnisse verfügen, also etwa neben dem Abschluß
eines Jurastudiums auch über den Abschluß eines Medizinstudiums verfügen.
Leider gibt es immer wieder Anlaß und Grund, sich mit der
Rechtsproblematik der nicht-juristischen Sachkunde von Richterinnen und
Richtern zu beschäftigen, auch wenn die dazu vorliegende höchstrichterliche
Rechtsprechung eindeutig ist.
So hat der Bundesgerichtshof in einer Entscheidung [BGH,
Beschluß vom 9. Januar 2018, Rdnr. 16] festgehalten:
„Der Tatrichter darf, wenn es um die Beurteilung einer
Fachwissen voraussetzenden Frage geht, auf die Einholung eines
Sachverständigengutachtens nur verzichten, wenn er entsprechende eigene
besondere Sachkunde auszuweisen vermag. Zudem muss der Tatrichter, wenn er bei
seiner Entscheidung eigene Sachkunde in Anspruch nehmen will, den Parteien
zuvor einen entsprechenden Hinweis erteilen (Senat, Beschlüsse vom 8. März 2016
- VI ZR 243/14, juris Rn. 12; vom 13. Januar 2015 - VI ZR 204/14, NJW 2015,
1311 Rn. 5 mwN). Dies gilt auch, wenn der Tatrichter auf ein
Sachverständigengutachten verzichten will, weil er es auf Grundlage eigener
Sachkunde für ungeeignet hält (vgl. Senat, Urteil vom 6. November 1984 - VI ZR
26/83, VersR 1985, 86 mwN).“
In dem dem BGH zur Entscheidung vorliegenden Fall nahm die
dortige Klägerin den Beklagten wegen „einer
kieferchirurgischen und zahnärztlichen Behandlung auf Schadensersatz,
Schmerzensgeld und Feststellung in Anspruch.“ [BGH, a.a.O., Rdnr. 1]
Laut BGH ist das Berufungsgericht „unter entscheidungserheblichem Verstoß gegen den Anspruch der Klägerin
auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) zu der Annahme gelangt, dass ein
Fehler der Zahnersatzkonstruktion nicht nachgewiesen sei.“ [BGH, a.a.O.,
Rdnr. 6] ... „Jedenfalls hat das
Berufungsgericht keine eigene besondere Sachkunde ausgewiesen und die Klägerin
nicht darauf hingewiesen, dass es das beantragte Sachverständigengutachten
aufgrund eigener Sachkunde für ungeeignet hält.“ [BGH, a.a.O., Rdnr. 14]
... „Vielmehr hat es im Zusammenhang mit
einem Vergleichsvorschlag erläutert, dass eine umfangreiche Beweisaufnahme
durch Zeugenvernehmung und durch Einholung von zwei Sachverständigengutachten
erforderlich sei.“ [BGH, a.a.O., Rdnr. 18]
Damit aber hatte das Berufungsgericht offen gelegt, daß es
gar nicht über die Sachkunde verfügt, die es in der Berufungsentscheidung
vorgetäuscht hatte.
Die hier behandelte Rechtsfrage ist durch das
Bundesverfassungsgericht auch (aller)höchstrichterlich entschieden [BVerfG,
Beschluß vom 17. September 2020, Az.: 2 BvR 1605/16, Rdnr. 20]:
„Der Beschluss vom 1.
Juli 2016 über die Gehörsrüge geht auf die Frage der Gerichtsbekanntheit der
Preise nicht ausdrücklich ein. Das Gericht stellt lediglich darauf ab, dass die
Beschwerdeführerin nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zwingend habe davon
ausgehen dürfen, dass das Gericht ihrem Sachvortrag uneingeschränkt folge
beziehungsweise vor der Entscheidung durch Urteil in jedem Fall ihren
Beweisantritten vollständig nachgehe. Soweit das Gericht damit zum Ausdruck
bringen wollte, dass es nach § 287 ZPO eine eigene Schadensschätzung habe
vornehmen dürfen, änderte dies nichts an dem Gehörsverstoß. Nach § 287 Abs. 1
Satz 2 ZPO bleibt es bei Streitigkeiten über die Höhe eines Schadens zwar dem
Ermessen des Gerichts überlassen, ob und inwieweit eine beantragte
Beweisaufnahme anzuordnen ist. Art. 103 Abs. 1 GG wird jedoch auch verletzt,
wenn das Gericht im Rahmen von § 287 ZPO eigene Sachkunde in Anspruch nimmt,
ohne darzulegen, woher es diese bezieht und ohne den Gegenbeweis zuzulassen
(vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 25. Oktober 2002 -
1 BvR 2116/01 -, Rn. 19).“
In dem der Verfassungsbeschwerde zugrunde liegenden Fall
ging es um „einen Zivilrechtsstreit über
eine Forderung aus einem Frachtvertrag.“ [BVerfG, a.a.O., Rdnr. 1], bei dem
zwar der vereinbarte Transport durchgeführt wurde, der Rücktransport der
Lademittel aber unterblieb, weswegen die Beklagte des
Ausgangsverfahrens Gegenforderungen aufstellte und die vereinbarte Vertragssumme
nicht vollständig beglich. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens beantragte einen
Mahnbescheid und erhob Klage vor dem zuständige Zivilgericht, welches aber die
Klage abwies und sich dabei auf gerichtsbekannte Preise berief [BVerfG, a.a.O.,
Rdnrn 4-6]. Es ging dabei unter anderem um Preise für die nicht zurückgegebenen
Europaletten (Gegenforderung).
Das BVerfG im Einzelnen: „Nach
der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darf ein Gericht
seiner Entscheidung auch keine Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde legen,
ohne den Parteien vorher Gelegenheit zu geben, sich zu ihnen zu äußern. An
dieser Anhörungspflicht ändert es nichts, wenn das Gericht eine Tatsache als ‚gerichtskundig’
bezeichnet. Gerichtskundig sind Tatsachen, die dem Richter kraft seines Amtes,
zum Beispiel aus früheren Prozessen, bekannt geworden sind. Die
Gerichtskundigkeit ist ein Unterfall der Offenkundigkeit. Nach § 291 ZPO
bedürfen offenkundige Tatsachen keines Beweises. Die Frage, ob Beweis erhoben
werden muss, hat aber mit der Frage, ob eine Tatsache verwertet werden darf,
nichts zu tun; dass eine Tatsache gerichtskundig ist, enthebt das Gericht nicht
der Pflicht, die ihm bekannte Tatsache, wenn es sie verwerten will, in den
Prozess einzuführen (...). Die Gelegenheit, einen Gegenbeweis anzutreten, darf
der Partei nicht abgeschnitten werden (...).“ [BVerfG, a.a.O., Rdnr. 15]
... „
Auch wenn diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes
zu einer zivilrechtlichen Streitigkeit erging, so kommt es auch im
Sozialgerichtlichen immer wieder zu sogenannten gerichtsbekannten Tatsachen,
welche aber nicht wirklich auf eigener Sachkunde des zur Entscheidung berufenen
Gerichts fußen.