Herbert Masslau

Sachkunde des Gerichts

(2. September 2021)

 

 

Der nachfolgende Artikel ist veranlaßt durch die Unsitte an deutschen Sozialgerichten, eigene Meinungen zu Sachthemen zur Grundlage von gerichtlichen Entscheidungen zu machen, wo eigentlich sachverständige Kunde von anderen Personen angebracht wäre.

Richter und Richterinnen dürfen aber nur dann ihre eigene Meinung zu einem Sachverhalt in die gerichtliche Entscheidung einfließen lassen, wenn sie über eine entsprechende Sachkunde verfügen. Dies wäre dann der Fall, wenn diejenigen Richterinnen und Richter von Sozialgerichten, welche zum Beispiel über Fragen des Krankenversicherungsleistungsrechtes in einem konkreten Fall entscheiden und dabei eigene medizinische Meinungen äußern, selber über medizinische Kenntnisse verfügen, also etwa neben dem Abschluß eines Jurastudiums auch über den Abschluß eines Medizinstudiums verfügen.

Leider gibt es immer wieder Anlaß und Grund, sich mit der Rechtsproblematik der nicht-juristischen Sachkunde von Richterinnen und Richtern zu beschäftigen, auch wenn die dazu vorliegende höchstrichterliche Rechtsprechung eindeutig ist.

 

So hat der Bundesgerichtshof in einer Entscheidung [BGH, Beschluß vom 9. Januar 2018, Rdnr. 16] festgehalten:

„Der Tatrichter darf, wenn es um die Beurteilung einer Fachwissen voraussetzenden Frage geht, auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens nur verzichten, wenn er entsprechende eigene besondere Sachkunde auszuweisen vermag. Zudem muss der Tatrichter, wenn er bei seiner Entscheidung eigene Sachkunde in Anspruch nehmen will, den Parteien zuvor einen entsprechenden Hinweis erteilen (Senat, Beschlüsse vom 8. März 2016 - VI ZR 243/14, juris Rn. 12; vom 13. Januar 2015 - VI ZR 204/14, NJW 2015, 1311 Rn. 5 mwN). Dies gilt auch, wenn der Tatrichter auf ein Sachverständigengutachten verzichten will, weil er es auf Grundlage eigener Sachkunde für ungeeignet hält (vgl. Senat, Urteil vom 6. November 1984 - VI ZR 26/83, VersR 1985, 86 mwN).“

In dem dem BGH zur Entscheidung vorliegenden Fall nahm die dortige Klägerin den Beklagten wegen „einer kieferchirurgischen und zahnärztlichen Behandlung auf Schadensersatz, Schmerzensgeld und Feststellung in Anspruch.“ [BGH, a.a.O., Rdnr. 1]

Laut BGH ist das Berufungsgericht „unter entscheidungserheblichem Verstoß gegen den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) zu der Annahme gelangt, dass ein Fehler der Zahnersatzkonstruktion nicht nachgewiesen sei.“ [BGH, a.a.O., Rdnr. 6] ... „Jedenfalls hat das Berufungsgericht keine eigene besondere Sachkunde ausgewiesen und die Klägerin nicht darauf hingewiesen, dass es das beantragte Sachverständigengutachten aufgrund eigener Sachkunde für ungeeignet hält.“ [BGH, a.a.O., Rdnr. 14] ... „Vielmehr hat es im Zusammenhang mit einem Vergleichsvorschlag erläutert, dass eine umfangreiche Beweisaufnahme durch Zeugenvernehmung und durch Einholung von zwei Sachverständigengutachten erforderlich sei.“ [BGH, a.a.O., Rdnr. 18]

Damit aber hatte das Berufungsgericht offen gelegt, daß es gar nicht über die Sachkunde verfügt, die es in der Berufungsentscheidung vorgetäuscht hatte.

 

Die hier behandelte Rechtsfrage ist durch das Bundesverfassungsgericht auch (aller)höchstrichterlich entschieden [BVerfG, Beschluß vom 17. September 2020, Az.: 2 BvR 1605/16, Rdnr. 20]:

„Der Beschluss vom 1. Juli 2016 über die Gehörsrüge geht auf die Frage der Gerichtsbekanntheit der Preise nicht ausdrücklich ein. Das Gericht stellt lediglich darauf ab, dass die Beschwerdeführerin nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zwingend habe davon ausgehen dürfen, dass das Gericht ihrem Sachvortrag uneingeschränkt folge beziehungsweise vor der Entscheidung durch Urteil in jedem Fall ihren Beweisantritten vollständig nachgehe. Soweit das Gericht damit zum Ausdruck bringen wollte, dass es nach § 287 ZPO eine eigene Schadensschätzung habe vornehmen dürfen, änderte dies nichts an dem Gehörsverstoß. Nach § 287 Abs. 1 Satz 2 ZPO bleibt es bei Streitigkeiten über die Höhe eines Schadens zwar dem Ermessen des Gerichts überlassen, ob und inwieweit eine beantragte Beweisaufnahme anzuordnen ist. Art. 103 Abs. 1 GG wird jedoch auch verletzt, wenn das Gericht im Rahmen von § 287 ZPO eigene Sachkunde in Anspruch nimmt, ohne darzulegen, woher es diese bezieht und ohne den Gegenbeweis zuzulassen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 25. Oktober 2002 - 1 BvR 2116/01 -, Rn. 19).“

In dem der Verfassungsbeschwerde zugrunde liegenden Fall ging es um „einen Zivilrechtsstreit über eine Forderung aus einem Frachtvertrag.“ [BVerfG, a.a.O., Rdnr. 1], bei dem zwar der vereinbarte Transport durchgeführt wurde, der Rücktransport der Lademittel aber unterblieb, weswegen die Beklagte des Ausgangsverfahrens Gegenforderungen aufstellte und die vereinbarte Vertragssumme nicht vollständig beglich. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens beantragte einen Mahnbescheid und erhob Klage vor dem zuständige Zivilgericht, welches aber die Klage abwies und sich dabei auf gerichtsbekannte Preise berief [BVerfG, a.a.O., Rdnrn 4-6]. Es ging dabei unter anderem um Preise für die nicht zurückgegebenen Europaletten (Gegenforderung).

Das BVerfG im Einzelnen: „Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darf ein Gericht seiner Entscheidung auch keine Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde legen, ohne den Parteien vorher Gelegenheit zu geben, sich zu ihnen zu äußern. An dieser Anhörungspflicht ändert es nichts, wenn das Gericht eine Tatsache als ‚gerichtskundig’ bezeichnet. Gerichtskundig sind Tatsachen, die dem Richter kraft seines Amtes, zum Beispiel aus früheren Prozessen, bekannt geworden sind. Die Gerichtskundigkeit ist ein Unterfall der Offenkundigkeit. Nach § 291 ZPO bedürfen offenkundige Tatsachen keines Beweises. Die Frage, ob Beweis erhoben werden muss, hat aber mit der Frage, ob eine Tatsache verwertet werden darf, nichts zu tun; dass eine Tatsache gerichtskundig ist, enthebt das Gericht nicht der Pflicht, die ihm bekannte Tatsache, wenn es sie verwerten will, in den Prozess einzuführen (...). Die Gelegenheit, einen Gegenbeweis anzutreten, darf der Partei nicht abgeschnitten werden (...).“ [BVerfG, a.a.O., Rdnr. 15] ...

Auch wenn diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zu einer zivilrechtlichen Streitigkeit erging, so kommt es auch im Sozialgerichtlichen immer wieder zu sogenannten gerichtsbekannten Tatsachen, welche aber nicht wirklich auf eigener Sachkunde des zur Entscheidung berufenen Gerichts fußen.

Also aufgepaßt!

 

 

 

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