Ermittlung des
Durchschnittseinkommens bei endgültiger Festsetzung vorläufiger Bescheide im
SGB II
(6. November 2019)
Vorbemerkung
Im Unterschied zu meinem Artikel „Vorläufige
Bewilligungsbescheide und Klagemöglichkeiten“ vom 29. September 2017, wo es
hauptsächlich um die Frage der Beklagbarkeit vorläufiger Bescheide geht, ist
vorliegend Gegenstand der Betrachtung die Entscheidung BSG, Urteil vom 11. Juli
2019, Az.: B 14 AS 44/18 R, wo es um die Folgen einer vorläufigen Bescheidung im
Hinblick auf die Bildung eines Durchschnittseinkommens geht.
Hierbei soll nicht Gegenstand sein der konkrete Fall,
insoweit es sich um einen Fall handelt, wo der Bewilligungszeitraum bei
In-Kraft-Treten der neuen gesetzlichen Regelung ab 1. August 2016 noch nicht
abgeschlossen war, so daß gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 2 SGB II auch hierauf die
Regelungen des § 41a SGB II anzuwenden waren.
Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, daß die
Endgültigkeitsfiktion des § 41a Abs. 5 SGB II, also der endgültigen
Leistungsfestsetzung kraft Gesetzes ohne ausdrücklichen Festsetzungsbescheid
gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 1 SGB II für vor dem 1. August 2016 bereits beendete
Bewilligungszeiträume mit dem 1. August 2016 begann. Das heißt, wenn die
Sozialleistungsbehörde keine endgültige Festsetzung getroffen hatte für
Bewilligungszeiträume, die bereits vor dem 1. August 2016 beendet waren, dann
galten die vorläufigen Bescheide mit dem 1. August 2017 als kraft Gesetzes für
endgültig festgestellt.
Durchschnittseinkommen
Egal, ob die Betroffenen gemäß § 41a Abs. 3 SGB II eine
endgültige Festsetzung der Leistungen beantragt haben oder ob die gemäß § 41a
Abs. 5 SGB II kraft Gesetzes erfolgte oder der Sozialleistungsträger von sich
aus die endgültige Feststellung vornahm, in jedem Fall ist bei der
abschließenden Feststellung des Leistungsanspruchs ein Durchschnittseinkommen
gemäß § 41a Abs. 4 SGB II zu bilden.
Für Fälle schwankenden Erwerbseinkommens – also etwa bei den
sogenannten Aufstockern – war dies schon in § 2 Abs. 3 Alg II-Verordnung für
Einkommen aus nichtselbständiger Erwerbsarbeit bzw. in § 3 Abs. 4 Alg
II-Verordnung für Einkommen aus selbständiger Erwerbstätigkeit vor der
Gesetzesänderung zum 1. August 2016 geregelt.
Die hier besprochene BSG-Entscheidung hat nun
höchstrichterlich entschieden, wie die Bildung des Durchschnittseinkommens
gemäß § 41a Abs. 4 SGB II vorzunehmen ist.
Dabei gilt ganz allgemein:
„Mit der zwingenden Vorgabe der Bildung eines monatlichen
Durchschnittseinkommens erfasst § 41a Abs 4 SGB II alle Arten von Einkommen im
Bewilligungszeitraum, bezieht alle Monate des Bewilligungszeitraums in die
Bildung des Durchschnittseinkommens ein und setzt nicht voraus, dass der
(schwankende) Bezug von Einkommen Grund der Vorläufigkeit war. Aus
Entstehungsgeschichte, Sinn und Zweck sowie aus systematischen Gründen ergeben
sich keine genügenden Anhaltspunkte dafür, von dieser am Wortlaut orientierten
Auslegung des § 41a Abs 4 SGB II abzusehen.“ [BSG, a.a.O., Rdnr. 21]
Dies ist gleichzeitig die Kernaussage der hier behandelten
BSG-Entscheidung.
War in § 2 Abs. 3 Alg II-Verordnung bis 31. Juli 2016 die
Bildung eines Durchschnittseinkommens noch als Kann-Bestimmung formuliert, also
auch die monatsgenaue Abrechnung behördlicherseits möglich, so ist § 41a Abs. 4
SGB II als Muß-Vorschrift formuliert, was das BSG in seiner hier genannten
Rechtsprechung nochmals unterstreicht. „‚Die Regelung dient der
Verwaltungsvereinfachung ... . Damit entfallen gegebenenfalls bis zu elf
differenzierte Leistungsberechnungen, ohne dass sich daraus für den
Bewilligungszeitraum insgesamt ein abweichender Leistungsanspruch ergäbe’
(BT-Drucks 18/8041 S 53).“ [BSG, a.a.O., Rdnr. 24]
Die Regelung, daß das Durchschnittseinkommen alle Monate des
Bewilligungszeitraumes einbezieht, ist an § 2 Abs. 3 zu unselbständigen
Einkommen und an § 3 Abs. 4 Alg II-Verordnung zu selbständigen Einkommen
angelehnt.
Neu, und jetzt durch die hier behandelte BSG-Entscheidung höchstrichterlich
festgezurrt, ist, daß es nicht auf den Grund der Vorläufigkeit ankommt und auch
nicht auf die Art des Einkommens.
„Dem Wortlaut lassen sich keine Anknüpfungspunkte dafür
entnehmen, dass es für die Bildung eines monatlichen Durchschnittseinkommens
darauf ankommt, ob der Bezug von Einkommen der Grund der Vorläufigkeit war,
erst recht nicht, dass der Grund der Vorläufigkeit der Bezug von (schwankendem)
Erwerbseinkommen war. Dem Wortlaut lässt sich auch nicht entnehmen, dass es für
die Bildung des Durchschnittseinkommens auf die Art des bezogenen Einkommens
ankommt, erst recht nicht, dass es nur für Erwerbseinkommen zu bilden ist. Dem
Wortlaut lässt sich schließlich auch nicht entnehmen, dass ein
Durchschnittseinkommen nur für die Monate zu bilden ist, in denen Einkommen
erzielt worden ist.“ [BSG, a.a.O., Rdnr. 22]
Grund der Vorläufigkeit
Wenn das BSG in seiner hier besprochenen Entscheidung derart
auf den Gesetzeswortlaut abhebt, dann muß dieses auch für den Grund der
Vorläufigkeit gelten.
Grund der vorläufigen Bescheidung kann nach § 41a Abs. 1 SGB
II nur sein, daß ein Leistungsanspruch dem Grunde nach feststeht, aber für die
Bestimmung der genauen Höhe längere Zeit benötigt wird (§ 41a Abs. 1 Nr. 2 SGB
II). § 41a Abs. 1 Nr. 1 SGB II faßt das Ganze etwas allgemeiner, indem
grundsätzlich längere Zeit benötigt wird, die Voraussetzungen für die
Leistungsgewährung an sich zu prüfen, wobei der Leistungsanspruch dem Grunde
nach zwar nicht feststeht, aber wahrscheinlich ist.
Hierzu eine vom Autor erwirkte Entscheidung den § 44a SGB
XII betreffend, dessen Absatz 1 bis auf den Hinweis zur Grundsicherung im Alter
und bei Erwerbsminderung wortidentisch ist mit der Norm § 41a Abs. 1 Nr. 1 u.
Nr. 2 SGB II:
„Darüber hinaus kann bei der Entscheidung zur vorläufigen
Bewilligung diese nicht auf die Kosten der Unterkunft beschränkt werden,
sondern hat aufgrund der Entstehungsgeschichte der Regelung einheitlich für den
gesamten Leistungsanspruch zu erfolgen (...).“ [SG Hildesheim, Urteil vom
7. Juni 2019, Az.: S 34 SO 13/19, Seite 5 UA] *)
Dieses ist und bleibt richtig, weil sonst die Regelung in §
41 Abs. 3 SGB II, wonach der Bewilligungszeitraum von 12 auf 6 Monate verkürzt
werden soll, hinsichtlich der gesonderten Erwähnung aufgrund von Vorläufigkeit
gemäß § 41a SGB II (Nr. 1) oder von Unangemessenheit der Kosten für Unterkunft
und Heizung (Nr. 2) keinen Sinn ergäbe.
Hier gilt zu berücksichtigen, daß es Grundsicherungsträger
gibt, die allein schon wegen angeblich unangemessener KdU vorläufige Bescheide
erlassen, weil sie dann in Zukunft einfach Änderungen vornehmen können, da kein
Bestandsschutz gilt, ohne die sie offensichtlich überfordernden §§ 44, 45, 48
und 50 SGB X anwenden zu müssen. Reine Bequemlichkeit zulasten der
Leistungsberechtigten.
Alles ist Einkommen
Dem BSG ist in seiner hier behandelten Entscheidung insoweit
zuzustimmen, als daß die Neuregelung § 41a Abs. 4 SGB II im Gegensatz zur
Altregelung der §§ 2 Abs. 3 und 3 Abs. 4 Alg II-Verordnung keine Beschränkung
mehr auf Erwerbseinkommen vorsieht.
Damit nimmt jegliches Einkommen teil an der
Durchschnittsbildung über alle Monate des Bewilligungszeitraumes.
Das betrifft auch das Kindergeld-Einkommen [BSG, a.a.O.,
Rdnr. 42].
In dem der hier behandelten BSG-Entscheidung zugrunde
liegenden Fall war das Kindergeld-Einkommen zunächst nicht für jeden Monat im
Bewilligungszeitraum gegeben, so daß das zugeflossene Kindergeld anteilig für
jeden Monat des Bewilligungszeitraumes aufgeteilt wurde [BSG, a.a.O., Rdnr.
42].
Insofern kritisiert das BSG in seiner hier genannten
Entscheidung andere Auffassungen aus der Rechtsliteratur [BSG, a.a.O., Rdnr.
38] und den Fachlichen Weisungen der Bundesanstalt für Arbeit zur Auslegung von
§ 41a Abs. 4 SGB II [BSG, a.a.O., Rdnr. 39].
Abweichung vom „Monatsprinzip“
Von dem „Monatsprinzip“ im SGB II [hier nur: BSG, Urteil vom
7. Dezember 2017, Az.: B 14 AS 8/17 R, Rdnrn. 19-21] „weicht § 41a Abs 4 SGB
II ab, weil bei der abschließenden Entscheidung nicht die in einem Monat
tatsächlich zugeflossenen Einnahmen der Berücksichtigung als Einkommen zugrunde
zu legen sind, sondern ein monatliches Durchschnittseinkommen zu bilden ist.
Diese Abweichung differenziert ebenso wenig nach Einkommensarten (insbesondere
Einkommen aus nichtselbständiger und aus selbständiger Arbeit, Einkommen aus
anderen Sozialleistungen), wie die Regelungen zum Monatsprinzip der §§ 11 ff
SGB II.“ [BSG, Urteil vom 11. Juli 2019, Az.: B 14 AS 44/18 R, Rdnr. 30]
Zum Verständnis:
Egal, ob „laufende Einnahmen“ oder „einmalige Einnahmen“,
beide sind in dem Zuflußmonat zu berücksichtigen.
Schon früher galten die Neuregelungen von § 11 Abs. 2 u. 3
SGB II hinsichtlich „laufender“ und „einmaliger Einnahmen“, welche vor 2011 in
§ 2 Abs. 2 u. 4 Alg II-Verordnung niedergeschrieben waren.
Im konkreten Fall, welcher der hier besprochenen
BSG-Entscheidung zugrunde lag, wurde für die Klägerin Kindergeld i.H.v. € 190,-
als deren Einkommen gemäß § 11 Abs. 1 SGB II für die Monate Mai und Juni
berücksichtigt. Hingegen wurde wegen des Erwerbseinkommens der Klägerin von der
Familienkasse das Kindergeld für die Monate Juli bis Oktober 2016 zunächst nach
Aufhebung der Bewilligung nicht gezahlt. Im November 2016, also nach dem Ende
des SGB II-Bewilligungszeitraumes, gab es eine Kindergeld-Nachzahlung für die
Monate Juli bis Oktober 2016 sowie die Wiederaufnahme der laufenden Zahlung von
Kindergeld [BSG, Urteil vom 11. Juli 2019, Az.: B 14 AS 44/18 R, Rdnr. 2].
Somit hat das BSG in der hier besprochenen Entscheidung die
im November 2016 erfolgte Kindergeld-Nachzahlung nicht berücksichtigt, weil sie
außerhalb des streitigen Bewilligungszeitraumes erfolgte. Siehe auch den
Verweis des BSG auf § 11 Abs. 2 u. 3 SGB II [BSG, a.a.O., Rdnr. 29].
Wäre also im konkreten Fall die Kindergeld-Nachzahlung nicht
im November 2016, sondern im Oktober 2016 zugeflossen, wäre das Kindergeld zum
Nachteil der Klägerin monatlich (durchschnittlich) mit 190,00 Euro
berücksichtigt worden statt nur mit 63,33 Euro (2 x 190 Euro : 6 Monate).
Die Beurteilung, ob die Regelung § 41a Abs. 4 SGB II
tatsächlich zu einer Verwaltungsvereinfachung führt, überläßt das BSG dem
Gesetzgeber [BSG, a.a.O., Rdnrn 36 u. 37]
Nur der Vollständigkeit halber soll an dieser Stelle erwähnt
werden, daß das BSG seine ständige Rechtsprechung wiederholt hat, wonach bei
Gewährung des pauschalen Grundfreibetrages gemäß § 11b Abs. 2 SGB II die
Versicherungspauschale gemäß § 6 Abs. 1 Alg II-Verordnung nicht zusätzlich vom
Einkommen in Abzug zu bringen ist [BSG, a.a.O., Rdnr. 42].
*) Der
Korrektheit halbersei erwähnt, daß diese Entscheidung des SG Hildesheim
inzwischen auf Berufung des beklagten Sozialleistungsträgers durch das LSG
Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 26. September 2019, Az.: L 8 SO 160/19
aufgehoben wurde, wogegen der Autor Nichtzulassungsbeschwerde an das BSG
gerichtet hat (Az.: B 8 SO 68/19 B). Aufgrund eines Bürofehlers meines Rechtsanwaltes - Anwaltszwang vor Bundesgerichten - wurde die Begründungsfrist für die Nichtzulassungsbeschwerde verpaßt, so daß es nicht zu einer Entscheidung des BSG kommt. Ich halte aufgrund meiner umfangreichen juristischen Erfahrung dennoch die erstinstanzliche Entscheidung für richtig, zumal dies durch die Entscheidung BVerwG, Az.: BVerwG 6 B 14.17 gestützt wird. Herbert Masslau, 6. Dezember 2019