Entgegen meiner sonstigen Gewohnheit der Auseinandersetzung
mit Entscheidungen des Bundessozialgerichtes (BSG) möchte ich diesmal die für
die Betroffenen zynische Rechtsprechung des 4. BSG-Senats als Gegensatzpaar mit
der für die Betroffenen positiven Schulbuch-Rechtsprechung des 14. BSG-Senats
behandeln, welche Letztere mittlerweile seine einfachgesetzliche Umsetzung in §
21 Absatz 6a SGB II gefunden hat.
Die Tablet-Entscheidung
Die Entscheidung BSG, Urteil vom 12. Mai 2021, Az.: B 4 AS
88/20 R kann verfassungsrechtlich keinen Bestand haben, weil sie
Hilfebedürftige im Regen stehen läßt.
Während der 14. BSG-Senat in der Schulbuch-Entscheidung vom
8. Mai 2019 wegen „nicht zutreffend erfassten Bedarfs für Schulbücher, wenn
keine Lernmittelfreiheit besteht“ [1] einen verfassungskonformen Anspruch
aus § 21 Abs. 6 SGB II hergeleitet hat, welcher inzwischen vom Gesetzgeber in §
21 Abs. 6a SGB II umgesetzt wurde, wurde dieser Anspruch für Hilfebedürftige
hinsichtlich von Schul-Tablets, Schul-PCs vom 4. BSG-Senat verweigert.
In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß bei der
Verhandlung zur Schulbuch-Entscheidung am 8. Mai 2019, an der ich als Zuhörer
teilgenommen hatte, der Vorsitzende Richter Becker immer wieder auch
Schul-Tablets parallel nannte [2]. Eine Art Vorahnung?
Es liegen trotz der BSG-Entscheidung vom 12. Mai 2021 aber
noch weitere Revisionen bezüglich Schul-Tablets vor, sind also trotz der
Entscheidung vom 12. Mai 2021 nicht zurückgenommen worden. Es handelt sich um
die Verfahren Az.: B 14 AS 95/20 R, B 4 AS 84/20 R, B 4 AS 4/21 R [Anmerkung 5.Mai 2022: Wie mir das BSG auf entsprechende Anfrage inzwischen mitgeteilt hat, wurden diese drei Revisionen alle zurückgenommen].
Interessant, insbesondere aus verfassungsrechtlicher Sicht,
ist, daß der 14. BSG-Senat bei seiner Schulbuch-Entscheidung vom 8. Mai 2019
unter Hinweis auf die BVerfG-Entscheidung vom 9. Februar 2010 den
Bundesgesetzgeber in der Pflicht gesehen hat, das Existenzminimum
sicherzustellen, und der bemerkenswerte Satz hierzu lautet:
„Mögliche Konflikte zwischen Bund und Ländern
hinsichtlich der Finanzierung der Schulbildung von Schülern, die Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II erhalten, dürfen nach den
aufgezeigten verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht auf dem Rücken der Schüler
ausgetragen werden.“ [3]
Das genaue Gegenteil findet sich in der BSG-Entscheidung vom
12. Mai 2021:
„Sofern den Rechtsunterworfenen Kosten dadurch entstehen,
dass die Länder sie ihnen zur Erfüllung der Schulpflicht auferlegen, ist nicht
das Fürsorgewesen, sondern vorrangig der Bereich der Eingriffsverwaltung
betroffen. Für den Bereich der Eingriffsverwaltung auf dem Gebiet des
Schulrechts tragen aber die Länder die Gesetzgebungskompetenz (...).“ [4]
Exkurs: staatliche
Schulpflicht
Artikel 7 Absatz 1
Grundgesetz garantiert die staatliche allgemeine Schulpflicht. Da die
Kultushoheit Länderhoheit ist, äußert sich die Schulpflicht konkret in den
einzelnen Schulgesetzen der Bundesländer. Für den hier besprochenen Fall wären
dies §§ 64 bis 71 Nds. Schulgesetz, wo die Schulpflicht im Einzelnen geregelt
ist.
Die staatliche Schulpflicht
schränkt sogar bei Minderjährigen das aus Artikel 6 Grundgesetz resultierende
Elternrecht ein: „Die Verpflichtung der Beschwerdeführer, ihre Kinder an dem
Unterricht einer nach dem Hessischen Schulgesetz anerkannten Schule teilnehmen
zu lassen, stellt eine zulässige Beschränkung ihres Erziehungsrechts dar.“ [5]
Dieser Antagonismus zweier BSG-Entscheidungen darf nicht stehen
bleiben und schon gar nicht zulasten der Hilfebedürftigen.
Hinzu kommt, daß der 4. BSG-Senat eine solche gravierende
Entscheidung gar nicht hätte treffen dürfen, denn:
„Mangels entsprechender Feststellungen des LSG zum
Landesrecht kann der Senat aber nicht beurteilen, ob der Bedarf im vorliegenden
Fall schon deswegen nicht unabweisbar war, weil das Landesrecht vorgesehen
hätte, Lernmittel an Empfänger von Leistungen nach dem SGB II ohne Entgelt
auszuleihen (...).“ [4]
Hier wäre eine Aufhebung des LSG-Urteils und eine
Zurückverweisung an das LSG angebracht gewesen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt bleibt in der bloßen
Behauptung des Gegenteils stecken.
So bemerkte schon das LSG Schleswig-Holstein:
„Der PC/Laptop wird zwar nur einmal bezahlt, er erfüllt
jedoch einen laufenden Bedarf, und zwar den, sachgerecht eine Schule besuchen,
gleichberechtigt am Unterricht teilnehmen und die Hausaufgaben erledigen zu
können, ohne gegenüber Mitschülern benachteiligt zu sein.“ [6]
Diese Rechtsauffassung wird durch die Schulbuch-Entscheidung
des 14. BSG-Senats gestützt [7].
Hingegen der 4. BSG-Senat:
„Entgegen der Auffassung, dass entscheidend sei, ob sich
die Nutzung einer Sache über einen längeren Zeitraum erstreckt (so in einem
Obiter Dictum LSG Nordrhein-Westfalen vom 22.5.2020 - L 7 AS 719/20 B ER -
juris RdNr 21), ist nicht auf die Nutzung eines Gegenstands, sondern auf dessen
Anschaffung abzustellen (so auch Meßling...).“ [8]
Dabei bleibt der 4. BSG-Senat im Interesse der SGB II- und
SGB XII-Kosteneinsparung schuldig, wie denn bei schulischer Nutzung diese
Trennung von Hardware und Software logisch hergeleitet werden soll. Der
scheinbare Erklärungsversuch des 4. BSG-Senats endet denn auch in einer
hilflosen Behauptung statt in einer Analyse des Widerspruchs der Trennung von
Hardware und Software:
„Die Anschaffung des Tablets erfolgt im vorliegenden Fall
prognostisch nicht mehrfach. Den Feststellungen des LSG ist zu entnehmen, dass
das Tablet für die gesamte Sekundarstufe I, also für sechs Jahre verwendet wird.
Ein laufender Bedarf besteht damit schon deswegen nicht. Nichts anderes gilt,
wenn man in Form einer abstrakt-generellen Betrachtungsweise darauf abstellt,
ob der geltend gemachte Mehrbedarf prognostisch typischerweise und unabhängig
von Bewilligungszeiträumen nicht nur ein einmaliger Bedarf ist (so BSG vom
8.5.2019 - B 14 AS 13/18 R - ... , RdNr 29; BSG vom 8.5.2019 - B 14 AS 6/18 R -
juris RdNr 29), denn es ist nicht ersichtlich, dass Tablets für den
Schulunterricht typischerweise wiederholt angeschafft werden müssen.“ [9]
Ein weiterer Antagonimus besteht in Folgendem:
„Fehlt es aufgrund der Berechnung des Regelbedarfs an
einer Deckung existenzsichernder Bedarfe, sind die einschlägigen Regelungen
über gesondert neben dem Regelbedarf zu erbringende Leistungen, zu denen § 21
Abs 6 SGB II gehört, verfassungskonform auszulegen (BVerfG vom 23.7.2014 - 1
BvL 10/12 ua - ... , RdNr 116, 125).“ [10]
Dagegen der 4. BSG-Senat:
„Erweisen sich die kodifizierten Regelungen - etwa
gemessen an den Vorgaben des BVerfG - als unzureichend, ist es nicht Sache der
Gerichte, sondern des Gesetzgebers, zusätzliche Ansprüche zu schaffen (vgl
BVerfG vom 23.7.2014 - 1 BvL 10/12 ua - ... RdNr 116).“ [11]
Hier wird sogar ein und dieselbe BVerfG-Entscheidung dazu
benutzt, antagonistischeRechtsauffassungen zu begründen.
„Ein zusätzlicher Bedarf ist vor allem bei
schulpflichtigen Kindern zu erwarten. Notwendige Aufwendungen zur
Erfüllung schulischer Pflichten gehören zu ihrem existentiellen Bedarf.“ [12]
Auch hier darf ein solches Verhalten des BSG nicht zulasten
der Hilfebedürftigen gehen, zumal gerade das BVerfG in ständiger Rechtsprechung
die verfassungskonforme Auslegung einfacher Gesetze fordert. Und ganz banal:
die Sicherung des Existenzminimums, zu dem auch die mit der Schulpflicht
verbundenen Ausgaben gehören, ist in diesem Fall [13] Aufgabe des SGB II und
damit des Bundesgesetzgebers.
Nachbemerkung
Wie bereits dargelegt, liegen derzeit noch drei Revisionen
zum Thema Schul-Tablet beim Bundessozialgericht, die auch nach der negativen
Entscheidung vom 12. Mai 2021 nicht zurückgezogen wurden.
Dabei ist zunächst zu beachten, daß der Vorsitzende des 14.
BSG-Senats, Richter Becker, zum 1. Juli 2021 altersbedingt in den Ruhestand
getreten ist [14], andere Richter dieses Senats sind inzwischen in den für das
Krankenversicherungsrecht zuständigen 3. Senat gewechselt. Der 14. Senat wird
zum 1. Januar 2022 aufgelöst [15].
Der verbleibende „Hartz IV“-Senat, der 4. BSG-Senat, ist
nach einem Intermezzo des Vorsitzenden Richters Voelzke 2020/2021, der diesem
Senat bereits von 2011-2017 vorsaß, nachdem er zusammen mit dem jetzigen
BSG-Präsidenten Schlegel 2008/2009 zusammen im 4. Senat saß, in „sicherer“
Hand. Nur nebenbei: Der BSG-Präsident Rainer Schlegel war über die CDU-Schiene
2010-2013 Spitzenbeamter des BMAS [16].
Es ist auch nichts damit gewonnen, daß Richter Voelzke
mittlerweile nicht mehr Vorsitzender Richter des 4. BSG-Senats ist und aller
Wahrscheinlichkeit gegen Ende 2021 aufgrund seines Geburtsjahrgangs 1956 altersbedingt
pensioniert wird. Denn für die Fortsetzung dieser Politik am verbleibenden
„Hartz IV“-Senat des BSG ist gesorgt. BSG-Präsident Schlegel, der aktuell
aufgrund des alternierenden Wechsels im BSG-Präsidentenamt zwischen SPD und CDU
als CDU-Mann amtiert, bleibt in dieser Position wohl noch aufgrund seines
Geburtsjahrgangs 1958 zwei Jahre länger am BSG als Richter Voelzke [17].
Die seit dem 1. September 2021 neue Vorsitzende des 4.
Senats, Richterin Miriam Meßling, kann zusammen mit Rainer Schlegel und Thomas Voelzke
verortet werden. Dieses nicht nur aufgrund ihrer Veröffentlichungen im juris-Kommentar
SGB II von Schlegel/Voelzke [18], sondern sie durfte beim Besuch des
Bundespräsidenten am 21. September 2021 zusammen mit BSG-Präsident Schlegel und
BSG-Vizepräsident Voelzke mit aufs Photo [19].
Und, wie schon oben dargelegt – „ist nicht auf die
Nutzung eines Gegenstands, sondern auf dessen Anschaffung abzustellen (so auch
Meßling...).“ [8] –, vertritt zum Thema Kostenübernahme für Schul-Tablets
die neue Vorsitzende Richterin Meßling dieselbe Rechtsauffassung wie der
vorherige Vorsitzende Richter Voelzke.
Hier sollten Betroffene also keine Hoffnung in den
verbliebenen „Hartz IV“-Senat des BSG hegen.
Quellen:
[1] BSG, Urteil vom
8. Mai 2019, Az.: B 14 AS 13/18 R, Rdnr. 31
[3] BSG, Urteil vom
8. Mai 2019, Az.: B 14 AS 13/18 R, Rdnr. 30
[4] BSG, Urteil vom
12. Mai 2021, Az.: B 4 AS 88/20 R, Rdnr. 21
[5] BVerfG,
Kammerbeschluß vom 31. Mai 2006, Az.: 2 BvR 1693/04, Rdnr. 15; s.a. BVerfG,
Kammerbeschluß vom 21. Juli 2009, Az.: 1 BvR 1358/09, Rdnr. 14
[6]
Schleswig-Holsteinisches LSG, Beschluß vom 11. Januar 2019, Az.: L 6 AS 238/18
B ER
[7] BSG, Urteil vom
8. Mai 2019, Az.: B 14 AS 13/18 R, Rdnr. 29
[8] BSG, Urteil vom
12. Mai 2021, Az.: B 4 AS 88/20 R, Rdnr. 25
[9] BSG, Urteil vom
12. Mai 2021, Az.: B 4 AS 88/20 R, Rdnr. 24
[10] BSG, Urteil vom 8. Mai 2019, Az.: B 14 AS 13/18 R,
Rdnr. 25
[11] BSG, Urteil vom 12. Mai 2021, Az.: B 4 AS 88/20 R,
Rdnr. 28
[12] BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010, Az.: 1 BvL 1/09
u.a., Rdnr. 192
[13] ... und den anderen noch ausstehenden Revisionsfällen,
die alle ihre Ursache in Entscheidungen des 7. Senats des LSG
Niedersachsen-Bremen haben; siehe dazu auch
http://www.herbertmasslau.de/sgb-ii-schul-pc.html