Herbert Masslau

Die Verwillkürlichung des Rechts oder die Verrechtlichung der Willkür

(4. Mai 2015)

 

 

Wer wie der Autor dieses Artikels aus eigener Betroffenheit („Hartz IV“) feiner Beobachter der Rechtsentwicklung in dieser Republik ist, den oder die beschleicht zunehmend das Gefühl, daß der Rechtsstaat an sich gefährdet ist. Gefährdet ausgerechnet durch die, die ihn im Rahmen der bürgerlichen Gewaltenteilung gegenüber Exekutive und Legislative schützen sollen.

Spätestens mit der Erklärung der seit 2011 geltenden Regelleistung SGB II/SGB XII für verfassungskonform durch den neubesetzten 1. BVerfG-Senat (3 von 8 Richterinnen und Richtern samt Vorsitzwechsel) im Juli 2014 wurde unübersehbar deutlich, wie weit der Abbau des Rechtsstaats vorangeschritten ist. Das BVerfG hat sehr deutlich gemacht, indem es die von ihm selbst als unzureichend dargelegte Regelleistung für verfassungskonform erklärte, wo der Hase langläuft.

Nachfolgend soll nun anhand zweier Entscheidungen, einer des Bundesverfassungsgerichtes und einer des Bundessozialgerichtes die Gefahr aufgezeigt werden, die schon ab jetzt sehr konkret werden kann – und, so befürchtet der Autor dieses Artikels, auch wird.

 

Verfahrensfreiheiten kippen Grundrechte: Beispiel BSG

Das Bundessozialgericht (BSG) hatte im November 2006 die ersten grundlegenden Entscheidungen zu den Unterkunftskosten im SGB II („Hartz IV“) getroffen (stellvertretend: BSG, Az.: B 7b AS 18/06 R). Es hat dann mit Entscheidungen aus 2009 sein sogenanntes schlüssiges Konzept aufgestellt (stellvertretend: BSG, Az.: B 4 AS 50/09 R). Gleichwohl kam es nicht zur umfassenden Angleichung der Rechtsprechung vor den deutschen Sozialgerichten.

Daß die Unterkunftskosten (KdU) immer noch Gegenstand von Verfahren vor dem BSG sind, macht für sich schon deutlich, daß das BSG zu keiner Zeit gewillt war, den Sack zuzumachen. Es sei dabei unbenommen, daß ein Einzelfall so kompliziert sein kann, so atypisch, daß es auch heute noch einer höchstrichterlichen Entscheidung bedarf. Gemeint sind hier aber die Regelfälle, welche viele betreffen, die immer noch nicht abschließend geklärt sind.

Aber es kommt noch schlimmer.

Nachdem das BSG mit seinem sogenannten schlüssigen Konzept beinahe den Sack zugemacht hatte, und zwar derart, daß mittlerweile Behörden und Gerichte darüber klagen, daß eine Bewertung kaum möglich sei, beginnt dasselbe BSG neuerdings damit, den Sack wieder weiter aufzuschnüren: Stichwort Vergleichsraum.

Es sei dabei dem BSG, und den Sozialgerichten überhaupt, durchaus zugestanden, daß das Sozialgerichtsgesetz (SGG) nicht wirklich Zwangsmittel kennt. Zwar gibt es mit § 106a SGG eine Präklusionsklausel, mit § 201 SGG eine Vollstreckungsklausel mit Ordnungsgeld gegen eine unwillige verurteilte Behörde, aber damit ist die Rechtsdurchsetzung noch nicht garantiert. Allein daß nach § 172 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ein Zwangsgeld in Höhe von zehntausend Euro gegen die betreffende unwillige Behörde verhängt werden kann, während es – immerhin geht es bei „Hartz IV“ um der Existenzsicherung dienende Leistungen ! – nach § 201 Abs. 1 SGG nur eintausend Euro sind, macht schon die vom Gesetzgeber gewollte Wertung deutlich. Ein von einer baubehördlichen Maßnahme betroffener Eigentümer ist eben Mensch 1. Klasse, während ein „Hartz IV“-Empfänger lediglich Mensch 2. Klasse ist.

Kann trotz Ermittlungsgrundsatz (Untersuchungsmaxime) im sozialgerichtlichen Verfahren die beklagte Behörde durch Ermittlungsverweigerung die zustehenden existenzsichernden Unterkunftskosten vorenthalten, ohne daß das Sozialgericht eine Möglichkeit hätte, die beklagte Behörde zur Mitarbeit zu zwingen, so haben Klägerinnen und Kläger andererseits nicht die Möglichkeit einer umfassenden Akteneinsicht (z.B. in KdU-Rohdatensätze beauftragter Gutachter). In einem solchen Weigerungsfalle käme eigentlich nur die gerichtlich ausgeurteilte Übernahme der tatsächlichen Unterkunftskosten in Frage, hier hat aber das BSG mit seiner verfassungswidrigen ersatzgesetzgeberischen Rechtsprechung (Tabelle § 12 Wohngeldgesetz plus Sicherheitsaufschlag) Recht zulasten der betroffenen Bürgerinnen und Bürger (und Kinder) gesprochen.

Grundlage der nachfolgenden kritischen Betrachtung ist folgende Entscheidung: BSG, Urteil vom 18. November 2014, Az.: B 4 AS 9/14 R, mit welcher das BSG das vom „Institut Wohnen und Umwelt GmbH (IWU)“ erstellte KdU-Konzept für Dresden billigte.

Obwohl das BSG unter anderem in seiner Entscheidung B 4 AS 50/09 R, Rdnr. 23 festgelegt hatte, daß es „einer nachvollziehbaren Definition des Gegenstandes der Beobachtung, zB welche Art von Wohnungen - Differenzierung nach Standard der Wohnungen, Brutto- und Nettomiete (Vergleichbarkeit), Differenzierung nach Wohnungsgröße“ bedarf, heißt es nun, daß es kein verfahrensrechtliches Erfordernis gäbe, „sämtliche Wohnwertmerkmale … abschließend zu definieren“ und daß „[j]e nach der Art der von den SGB II-Trägern im Rahmen ihrer Methodenfreiheit entwickelten Konzepte […] es jedoch ausreichend [ist], wenn die dem Ausschluss von Wohnungen des untersten Standards dienenden Vorgaben (‚Ausstattung, Lage und Bausubstanz’) im Ergebnis beachtet worden sind.“ [BSG, Az.: B 4 AS 9/14 R, Rdnr. 19]

Hier stellt das BSG grundsätzlich die Methodenfreiheit des Grundsicherungsträgers, also ein formales Recht, über das Grundrecht auf Wohnen, mithin ein Verfassungsrecht, welches der Existenzsicherung dient. Warum wird dem Grundsicherungsträger ein enormer Gestaltungsspielraum eingeräumt, wenn unter Umständen bei der gerichtlichen Überprüfung das KdU-Konzept für nicht tragfähig erachtet werden könnte? Wieso – jenseits der vom Autor selbst beachteten Diskussion über die verfassungswidrige Aneignung gesetzgeberischer Kompetenzen durch das BSG – werden hier nicht derart klare Vorgaben gemacht, daß die Handlungsmöglichkeiten der Verwaltung eingeschränkt sind, zumal deren Handlungen ohnehin primär an Kosteneinsparungsgründen orientiert sind? Wenn sich schon das BSG mit dem sogenannten schlüssigen Konzept und mit der Ersatzregelung Tabellenwerte Wohngeldgesetz selbst zum Gesetzgeber aufgeschwungen hat, warum dann jetzt dieser Rückzug auf eine noch weniger rechtsstaatliche Ebene: der Handlungsfreiheit der Exekutive?

Dadurch, daß der untere Standard nicht definiert ist, ist auch der unterste Standard nicht definiert. Hier gibt es lediglich die Vorgaben des BSG: keine Ofenheizung [BSG, Az.: B 14 AS 2/10 R, Rdnr. 24] und keine Souterrain-Wohnungen [BSG, Az.: B 4 AS 77/12 R, Rdnr. 21], auch ein Bad muß vorhanden sein.

Wird aber berücksichtigt, daß – so jedenfalls die rechtliche Argumentation im Zusammenhang mit der Regelleistung – der Sozialhilfeempfänger nicht in seiner Umgebung als solcher erkennbar sein soll, dann gehört dazu auch ein Mindestmaß an Wohnungsstandard. Und der muß positiv definiert sein. Was das BSG macht, ist eine lediglich Negativ-Definition, indem es über Jahre der Rechtsprechung immer wieder einzelne Merkmale für nicht ausreichend erklärt. Damit ist aber noch kein Mindeststandard festgelegt.

Und dann kommt eine Sache, die – auf die Zeitenfolge ist zu achten: Juli 2014 BVerfG-Entscheidung zur Regelleistung 2011, November 2014 BSG-Entscheidung – den eigentlich verbotenen Zirkelschluß hinterrücks wieder einführt:

„Soweit die Daten der Bestandsmieten der Leistungsempfänger nach dem SGB II und SGB XII als nachfrage- und preisrelevanter Faktor in die Ermittlung der abstrakt noch angemessenen Quadratmetermiete für das einfache Segment einbezogen werden, finden weitere Modifizierungen, insbesondere die Einbeziehung der Nachfragekonkurrenz nach preiswertem Wohnraum durch andere Niedrigeinkommensbezieher, statt. … Ein - vom BSG nicht gebilligter – ‚Zirkelschluss’ findet daher nicht statt. Die Referenzmiete ist nicht allein aufgrund der Daten der Leistungsbezieher nach dem SGB II und dem SGB XII ermittelt worden.“ [BSG, Az.: B 4 AS 9/14 R, Rdnr. 23]

Das heißt, werden die abstrakt ermittelten KdU-Werte mit den Werten für die Neuvertragsmieten verglichen und notfalls nachgebessert, dann liegt kein sogenannter Zirkelschluß vor, wenn nicht die Datenbasis zu 100 % auf Daten aus dem SGB II- und SGB XII-Leistungsbezug gründet.

Um einen echten Zirkelschluß auszuschließen, dürften gar keine Daten von Bezieherinnen und Beziehern nach dem SGB II/SGB XII einfließen. Denn auch ein Abgleich mit Neuvertragsmieten macht die Sache nicht besser, wenn auch dort Daten von SGB II- und SGB XII-Leistungsbezieherinnen und -beziehern enthalten sind.

Aber diesen Freischuß haben wir dem Bundesverfassungsgericht zu verdanken:

„Aus der Berechnung der Höhe der Leistungen für den Regelbedarf sind Haushalte, soweit erhebungstechnisch möglich, ausgenommen, deren Nettoeinkommen nicht das Niveau der Leistungen nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch einschließlich der Leistungen für Unterkunft und Heizung überschreitet (…). Es werden keine Haushalte berücksichtigt, in denen Leistungsberechtigte lebten, die im Erhebungszeitraum ausschließlich Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 RBEG), Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 RBEG) und Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld nach dem SGB II (§ 3 Abs. 1 Nr. 3 RBEG) bezogen haben, also über kein weiteres Einkommen verfügten.“ [BVerfG, Beschluß vom 23. Juli 2014, Az.: 1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/13, Rdnr. 103]

Ausgenommen waren z.B. SGB II-Haushalte nur insoweit, als sie in dem Vierteljahr ihrer Statistikteilnahme nicht hilfebedürftig waren. Voherige und nachfolgende Hilfebedürftigkeit spielte keine Rolle, auch wenn jemand das Verhalten nicht sofort ändert. Außerdem sind zunehmend ehemals Hilfebedürftige durch die permanenten Verschlechterungen beim SGB II (Stichwort: „faktische“ Stiefkinder) herausgeflogen, die eigentlich dazugehörten. Und dann die große Gruppe der sogenannten Aufstocker, seien es Minijobber und Minijoberinnen gemäß § 11b Abs. 2 SGB II n.F. oder Geringverdiener, Geringverdienerinnen gemäß § 11b Abs. 3 SGB II n.F. (§ 30 SGB II a.F.); hier, im Minijobfall 100 Euro monatlich, als ausreichende Differenz zu „Hartz IV“ vollbeziehende Haushalte zu betrachten, ist schon eine Frechheit und nicht nur statistischer Humbug, also fehlende statistische Sicherheit im Grenzbereich/Abgrenzungsbereich.

„Soweit es das Berufungsgericht unbeanstandet gelassen hat, dass … auch Wohnungen mit einer geringen Quadratmeterzahl in die Festlegung der Referenzmiete eingeflossen sind, ist dies von seiner tatrichterlichen freien Beweiswürdigung bei der Bestimmung des einfachen Wohnstandards umfasst. … Die Frage, welche Wohnungen wegen einer unzumutbaren Wohnungsgröße bei der Ermittlung der Referenzmiete nach der Produkttheorie ausgeklammert werden, kann regelmäßig nicht generell beantwortet werden, sondern ist von den Tatsacheninstanzen unter Beachtung der regionalen Verhältnisse im Vergleichsraum zu bestimmen. Diese Tatsachenfeststellungen sind der revisionsgerichtlichen Überprüfung weitgehend entzogen.“ [BSG, Az.: B 4 AS 9/14 R, Rdnr. 25]

Hierin sind gleich zwei Probleme enthalten. Zum Einen wird auch hier einer formalen Gestaltungsfreiheit, diesmal der des Tatrichters, das Wort geredet. Das heißt, daß nicht nur das BSG sich selbst zum Gesetzgeber hinsichtlich der KdU-Kriterien aufgeschwungen hat, sondern dies bereits den obergerichtlichen Richtern zugesteht. Zum Anderen wird hier einem gefährlichen Regionalismus das Wort geredet. Während nämlich insbesondere in den 1980er und 1990er Jahren in Westdeutschland die Quadratmeterzahlen pro Bewohner und pro Wohnung zunahmen, sollen in der ehemaligen DDR andere Quadratmeterzahlen als üblich und damit hinnehmbar gelten: „Die faktische Berücksichtigung von Wohnungen mit geringer Größe ist nach den Ausführungen des LSG dem regional besonderen Umstand geschuldet, dass auf der Angebotsseite im Vergleichsraum der Stadt Dresden eine nicht unerhebliche Anzahl von Ein-Raum-Wohnungen vorhanden sind, die eine Wohnungsgröße ab 26 qm aufweisen. Die tatrichterliche Wertung, dass dieser Wohnungstyp schon durch seine Häufigkeit als prägend für einfache und bescheidene, aber gleichwohl zumutbare Wohnbedürfnisse im Vergleichsraum angesehen werden könne, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.“ [BSG, Az.: B 4 AS 9/14 R, Rdnr. 26]

Daß auch hilfebedürftige Menschen ein Recht auf ausreichend große Wohnungen haben, dem hat das BSG mit seiner aktuellen Entscheidungen widersprochen. Zwar fließen auch in Westdeutschland ältere Wohnungen (der 1950er und 1960er Jahre) in den zu betrachtenden Wohnungsbestand mit ein, was zwar dem DDR-Wohnungsbau nach Altersklassen entspricht, nicht jedoch nach Quadratmeterzahl pro Person betrachtet. Und es werden die Durchschnittswerte in Westdeutschland auch durch den Einfluß größerer Wohnungen mitbestimmt, was in der ehemaligen DDR nicht der Fall gewesen sein dürfte, da vergleichbare Wohnungen erst in den 1990er Jahren entstanden sein dürften und dann als teure Wohnungen im Rahmen der statistischen Bereinigung nach der 95 %-Methode herausfallen dürften.

Hier wird der obergerichtliche „Gestaltungsspielraum“ als rein formales Recht über das materielle Recht der Existenzsicherung in Form des Menschenrechts auf Wohnen gestellt, und dieses Menschenrecht meint nicht nur einfach „Dach überm Kopf“.

Eine Aufweichung findet auch beim Vergleichsraum statt, dessen „Datenerhebung … ausschließlich in dem genau eingegrenzten und … über den gesamten Vergleichsraum erfolgen (keine Ghettobildung)“ darf und muß [BSG, Az.: B 4 AS 50/09 R, Rdnr. 23].

„Das vom BSG aufgestellte Verbot der Einbeziehung vergleichsraumübergreifender Daten gilt zwar für die Häufigkeitsverteilung der Grundmieten, nicht aber für Hilfsgrößen, die in empirischer, nicht normativer Sicht herangezogen werden, um die ermittelten Werte plausibel zu machen.“ [BSG, Az.: B 4 AS 9/14 R, Rdnr. 30]

Was heißt das? Rein linguistisch semantisch heißt das, daß die grundlegenden KdU-Daten nur innerhalb des Vergleichsraums zu ermitteln sind, also nicht Daten aus verschiendenen Vergleichsräumen zusammengeschustert werden dürfen.

Bei der Plausibilitätsprüfung, was die Überprüfung der ermittelten Bestandsmieten-KdU-Werte anhand der sogenannten Neuvertragsmieten meint, dürfen diese dann aber aus benachbarten Vergleichsräumen herangezogen werden. Was aber, wenn die höhere Referenzmiete bei den Bestandsmieten mit den niedrigeren Referenzmieten für Neuvertragsmieten in benachbarten Vergleichsräumen verglichen wird statt mit den Neuvertragsmieten im relevanten Vergleichsraum um die Plausibilität der KdU-Werte aus den Bestandsmieten für den relevanten Vergleichsraum zu vergleichen? Dann wird ein niedriger Bestandsmieten-Wert mit einem zu niedrigen Neuvertragsmieten-Wert verglichen, so daß die KdU-Anhebung geringer ausfällt als sie müßte, würden nur die Neuvertragsmieten-Werte aus dem relevanten Vergleichsraum genommen.

Hier macht das BSG den Sack wieder weiter auf, den es 2009 mit dem „schlüssigen Konzept“ weiter zugemacht hatte. Warum? Und vorallem werden hierdurch die Grundsicherungsträger und die Sozialgerichte ermutigt, bis zur möglicherweise nächsten klarstellenden BSG-Entscheidung die absurdesten Konstruktionen anzuwenden und für rechtens zu erklären, so daß die davon betroffenen Menschen wieder jahrelang auf eine abschließende Rechtsprechung warten müssen, währenddessen die Grundsicherungsträger vorallem an den nicht klagenden „Hartz IV“-Empfängerinnen und -empfängern Kosten sparen.

 

Formalrechtsspekulationen kippen Grundrechte: Beispiel BVerfG

Der nachfolgenden Betrachtung zugrunde liegt die Entscheidung BVerfG, Beschluß vom 17. April 2015, Az.: 1 BvR 3276/08, mit welcher das BVerfG den von ihm selbst entwickelten Subsidiaritätsgrundsatz bis ins Willkürliche hinein erweitert hat.

§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG verlangt lediglich die Ausschöpfung des gegebenen Rechtsweges, d.h. die Ausschöpfung aller Rechtsmittel. Ein darüber hinausgehendes Subsidiaritätserfordernis ist dem Gesetz nicht zu entnehmen.

Das BVerfG ist auch nicht wirklich konsequent in seinen Entscheidungen. Obwohl schon seit Jahren nicht nur bei der direkten Gehörsverletzung Art. 103 GG die jeweilige Anhörungsrüge (im Sozialrecht: § 178a SGG) als Voraussetzung für eine Verfassungsbeschwerde gilt, sondern auch, wenn in der geltend gemachten Grundrechtsverletzung gleichzeitig eine Gehörsverletzung liegt, wie dies insbesondere im Hinblick auf das Willkürverbot Art. 3 GG angenommen wird, so offenbart doch die Entscheidung BVerfG, Beschluß vom 16. Juli 2013, Az.: 1 BvR 3057/11, wie das Bundesverfassungsgericht rumeiert, um eine Verfassungsbeschwerde annehmen zu können, die es eigentlich wegen der fehlenden Anhörungsrüge nicht hätte annehmen dürfen. Aber in dem genannten Verfahren ging es um eine Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) und des Eigentumsrechts (Art. 14 GG) von Grundbesitzern, also Menschen 1. Klasse. Dabei ist schon von der Sache her – das BVerfG gab der Verfassungsbeschwerde statt wegen Verletzung des Zugangs zum Instanzenweg – die geschehene Grundrechtsverletzung nicht ohne Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör gegeben. Was für Art. 101 Abs. 1 GG (Recht auf den gesetzlichen Richter) gilt, gilt auch für Art. 19 Abs. 4 GG (Zugang zur Instanz und damit dem gesetzlichen Richter).

Bei der hier zu besprechenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes ging es um eine sitzungspolizeiliche Auflage des LG Oldenburg gegen einen deutschen Pressekonzern, vertreten durch eine renommierte Anwaltskanzlei. Es darf unterstellt werden, daß eine bundesweit bekannte Anwaltskanzlei, die Konzerne vertritt, über genügend Kompetenz verfügt, um sich eine Verfassungsbeschwerde nicht durch grobe Formfehler um die Ohren hauen zu lassen.

Dies vorausgeschickt, offenbart die Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde eine Verwillkürlichung des Rechts durch die Verrechtlichung der Willkür, wie sie ein für einen Rechtsstaat gefährliches Maß erreicht hat. Nebenbei bemerkt: der 1. BVerfG-Senat (und dessen Kammern) entscheidet auch über SGB II-/SGB XII-Verfassungsbeschwerden.

Wie schon erwähnt, ist die Verfassungsbeschwerde subsidiär.

„Es ist daher geboten und einem Beschwerdeführer auch zumutbar, vor der Einlegung einer Verfassungsbeschwerde die Statthaftigkeit weiterer einfachrechtlicher Rechtsbehelfe sorgfältig zu prüfen und von ihnen auch Gebrauch zu machen, wenn sie nicht offensichtlich unzulässig sind (…). Offensichtlich unzulässig ist ein Rechtsmittel nur dann, wenn der Rechtsmittelführer nach dem Stand der Rechtsprechung und Lehre zum maßgebenden Zeitpunkt über dessen Unzulässigkeit nicht im Ungewissen sein konnte (…).“ [BVerfG, Az.: 1 BvR 3276/08, Rdnr. 10]

Interessant ist der letzte Satz, da er eine gefährliche Qualität enthält, die die Regelung § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG bei Weitem übersteigt.

Zunächst einmal enthält dieser Richterspruch (3. Kammer 1. Senat: Kirchhof, Masing, Baer) die über die Ausschöpfung der Rechtsmittel (Berufung, Revision; Beschwerde, Nichtzulassungsbeschwerde) und Rechtsbehelfe (Widerspruch, Klage, Wiederaufnahmeklage, Wiedereinsetzungsantrag, Antrag auf mündliche Verhandlung bei Gerichtsbescheid, Anhörungsrüge) hinausgehende Ergänzung um den Stand der Lehre.

Zur Verdeutlichung: Rechtsmittel haben sowohl einen Devolutionseffekt (Zugang zur nächsthöheren Instanz) als auch einen Suspensiveffekt (Hemmung der Wirkung der gerichtlichen Entscheidung). Rechtsbehelf ist der umfassendere Begriff. Die Rechtsbehelfe unterscheiden sich noch in ordentliche Rechtsbehelfe (Widerspruch, Klage und die Rechtsmittel) und außerordentliche Rechtsbehelfe. Die hier interessierende Anhörungsrüge ist ein außerordentlicher Rechtsbehelf, welcher die Rechtskraft der angegangenen gerichtlichen Entscheidung nicht tangiert. Dabei ist die Anhörungsrüge selbst subsidiär, also nur gegen Endentscheidungen zulässig. Auch die Verfassungsbeschwerde ist ein außerordentlicher Rechtsbehelf.

Wenn sich also – um zur hier behandelten Verfassungsbeschwerde zurückzukommen – der Beschwerdeführer bzw. die Beschwerdeführerin irrt und doch kein Rechtsbehelf gegen eine gerichtliche Entscheidung gegeben ist, dann hat er bzw. sie sich wegen Fristablaufs um die Verfassungsbeschwerde gebracht. Schon hier wird deutlich, daß es auch dem BVerfG nicht um die Durchsetzung des Rechts, hier: der Menschenrechte und den ihnen gleichgelagerten Rechten der Art. 101, 103 GG geht, sondern um die Entlastung des Gerichts.

Der Einzug der Willkürlichkeit in die Rechtsprechung – auch eine verfassungsgerichtliche Entscheidung ist Rechtsprechung – entsteht dort, wo der Beschwerdeführer bzw. die Beschwerdeführerin nicht mehr erkennen kann, ob noch ein Rechtsbehelf gegeben ist oder nicht, weil die dazu notwendige Eindeutigkeit fehlt, erst recht, wenn nun neben gerichtlichen Entscheidungen und den Standardkommentaren auch noch weitere Literatur oder Rechtslehre einzubeziehen sind, deren Umfang nun wirklich niemand abschließend beurteilen kann.

„Zwar lehnte insbesondere die ältere fachgerichtliche Rechtsprechung eine Beschwerde … ab ([es folgen 6 OLG-Entscheidungen der Jahre 1963 bis 1992; H.M.]) und folgt ein Teil der Literatur bis heute dieser Auffassung ([es folgen 4 Kommentare der Jahre 1998 bis 2012; H.M.]). Der Bundesgerichtshof hat die Frage einer Beschwerde … ausdrücklich offengelassen (…). Doch sprach sich ein nicht unerheblicher Teil der neueren fachgerichtlichen Rechtsprechung bereits im Zeitpunkt der Einlegung der Verfassungsbeschwerde für die Statthaftigkeit der Beschwerde aus ([es folgen 4 gerichtliche Entscheidungen, davon 3 obergerichtliche der Jahre 1976 bis 2008; H.M.]). Auch die Kommentarliteratur hatte sich - bezogen auf den Zeitpunkt der Einlegung der Verfassungsbeschwerde - bereits dieser neuen obergerichtlichen Rechtsprechungslinie angeschlossen ([es folgen 3 Kommentare der Jahre 2008 und 2013; H.M.]. Dieser Ansicht folgen mittlerweile weitere Gerichte ([es folgen weitere 4 Entscheidungen, davon 2 obergerichtliche der Jahre 2009 bis 2011; H.M.]).“ [BVerfG, a.a.O., Rdnr. 12]

Also, zusammengefaßt: das BVerfG führt selbst 10 Gerichtsentscheidungen und Kommentare der Jahre 1963 bis 2012 an, die einen weiteren Rechtsbehelf abstreiten, und 11 Gerichtsentscheidungen und Kommentare der Jahre 1976 bis 2013 an, die einen weiteren Rechtsbehelf als gegeben ansehen. Es muß niemand mathematisch vorgebildet sein, um hier eine Pari-Situation zu erkennen. Aber genau diese Zweifelhaftigkeit macht sich das BVerfG zu eigen und erklärt dies für ausreichend, um einen entsprechenden Rechtsbehelf einlegen zu müssen.

Bereits an dieser Stelle besteht die Gefahr, daß nicht klar ist, ab wann eine bestimmte Zahl an Gerichtsentscheidungen oder an Kommentarliteratur ausreicht, damit dieses Mittel nicht „offensichtlich ausgeschlossen“ ist.

Und es kommt noch schwerwiegender, denn:

„Dass auch das Bundesverfassungsgericht in der Vergangenheit und zuletzt im Jahr 2007 angenommen hat, ein Rechtsweg … sei nicht eröffnet (…), steht dem nicht entgegen. Denn im Zeitpunkt der Einlegung der Verfassungsbeschwerde war nach der weitgehenden Änderung der Auffassung in fachgerichtlicher Rechtsprechung und Literatur ein Rechtsmittel … nicht mehr offensichtlich unzulässig.“ [BVerfG, a.a.O., Rdnr. 13]

Soll das heißen, eine Entscheidung des höchsten deutschen Gerichts wird allein dadurch unbeachtlich, daß irgendwo ein untergeordnetes Gericht, also kein Bundesgericht, oder irgendwelche Kommentare eine andere Rechtsauffassung vertreten?! Der 1. BVerfG-Senat hat schon mit seiner Regelleistungsentscheidung vom Juli 2014 unter Beweis gestellt, daß rechtliche Qualität nicht seine Sache ist, und nun desavouiert er sich gar selbst.

Zwar ist dem BVerfG zuzugeben, daß die Fachgerichte die einfachgesetzlichen Normen im Zweifelsfall verfassungskonform, so denn möglich, zu interpretieren haben. Dies ist eine Form, die dem Vorlagebeschluß gemäß Art. 100 GG, welcher dann zutrifft, wenn das Fachgericht eine Rechtsnorm für verfassungswidrig hält, vorgelagert ist, denn Verfassungswidrigkeit schließt eine verfassungskonforme Interpretation einer Rechtsnorm aus. Aber diese verfassungskonforme Interpretation hatte das BVerfG ja selbst bezüglich der auch im hier behandelten Fall zugrunde liegenden Rechtsnorm noch 2007 abgestritten (s.o.).

Dann von der Beschwerdeführerin zu verlangen, hinsichtlich möglicher einfachgesetzlicher Beschränkungen trotzdem potentielle Rechtsmittel in Anspruch zu nehmen, weil „hier […] im Übrigen eine Auslegung nicht ausgeschlossen [ist], wonach die Aufzählung … grundrechtskonform … zu erweitern ist, die … [die] Grundrechte des Betreffenden beeinträchtigen“ [BVerfG, a.a.O., Rdnr. 15], ist die Erhebung individueller Spekulation in den Rang eines Rechtsmittels/Rechtsbehelfs.

Sollen also jetzt Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer, bevor sie Verfassungsbeschwerde erheben, einfachgesetzliche Normen, wie sie sich aus den Gesetzbüchern ergeben, selber um Möglichkeiten erweitern? Was, wenn daß BVerfG dann eine Aufzählung innerhalb einer Rechtsnorm für enumerativ erklärt und damit den Rechtsbehelf für von vorneherein ausgeschlossen? Ist dann die Frist für die Verfassungsbeschwerde verstrichen, weil sich der Beschwerdeführer bzw. die Beschwerdeführerin geirrt haben, obwohl sie erst durch die Rechtsprechung des BVerfG sich gezwungen sahen, einen Rechtsbehelf zu versuchen? Arbeitsentlastet sich das BVerfG dann mithilfe einer Zwickmühle, weil Beschwerdeführer bzw. Beschwerdeführerin gar nicht erkennen können, wie weit die „verfassungskonforme Interpretation“ reicht? Ist es nicht selbst ein Verstoß gegen Menschenrechte, wie sie sich aus Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 6 Abs. 1 EMRK ergeben, wenn jetzt vom Bürger nicht nur die Einlegung aller Rechtsmittel – nichts anderes meint der Begriff der Ausschöpfung des Rechtsweges in § 90 Abs. 2 Satz BVerfGG – abverlangt wird, auch außerordentlicher Rechtsbehelfe, wo ein Zusammenhang klar gegeben ist von der Sache her, sondern auch noch spekulative Textexegese betrieben werden soll, ergänzt um eine diffuse Kommentarliste?

Damit hat nun wirklich die Verwillkürlichung des Rechts als Verrechtlichung der Willkür Einzug gehalten ins deutsche Recht.

 

 

 

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