Herbert Masslau

„Hartz IV“ – Vernichtung durch Rechtsprechung (I)

(30. November 2008)

 

 

 

 

Vorbemerkung

Dieser Artikel beschäftigt sich mit der neuen sozialrassistischen Stimmung im Lande. Gemeint ist damit, daß es zunehmend nicht mehr wie noch unter der alten Sozialhilfe einzelne sadistisch motivierte Sachbearbeiter sind, die Hilfeempfängerinnen und -empfänger wie Menschen zweiter Klasse behandeln, sondern daß dies zunehmend zu einem gesellschaftlichen Phänomen wird. Parallel dazu wird das egoistische Abzocken immer mehr gesellschaftsfähig, immer weniger ethisch sanktioniert.

In einem solchen sozialpolitischen Klima, angeheizt von der Politik im Interesse der kapitalistischen Wirtschaft, gibt es keinen sozialen Aufstand mehr, wenn gleichsam von einem Tag auf den anderen allein in Deutschland mal so eben 500 Milliarden Euro zur Stützung derjenigen Zocker locker gemacht werden, die die derzeitige Finanzkrise, die sich in eine Wirtschaftskrise (Deflation) umwandelt, zu verantworten haben. Zockern, die sich auf Kosten der Allgemeinheit ihren Schwanz vergoldet haben, wird noch weiteres Gold aus dem Säckel der Steuerzahler hinterhergeschmissen. Gleichzeitig aber müssen sich „Hartz IV“-Empfängerinnen und -empfänger von den Sozialgerichten erzählen lassen, die Regelleistung sei trotz der ganzen Preissteigerungen ausreichend, es gäbe keinen Anspruch auf eine bestimmte Höhe und im Übrigen ginge es immer mehr Menschen immer schlechter.

Wenn sich in einer solchen Situation dann noch das Bundessozialgericht, wie es das am 13. November 2008 getan hat, hinstellt und erklärt, daß in dem betreffenden Fall sich zwar das betroffene Kind Einkommen einer Person ‚entgegenhalten’ lassen muss, gegen die es letztlich keinen Rechtsanspruch auf Unterhalt hat, andererseits aber der Mutter mit Sorgerechtsentzug droht, falls diese das ihr zum Lebensunterhalt Zugewendete nicht an ihre Tochter durchreicht, und das Ganze dann noch im Zusammenhang mit einer eheähnlichen Gemeinschaft als durch den grundgesetzlich festgelegten ‚Schutz der Ehe’ (Art. 6 GG) verkaufen will, ohne sich auch nur der Frage des ebenfalls grundgesetzlichen ‚Schutzes der Familie’ (Art. 6 GG) zu stellen oder auch der Problematik der Krankenversicherung bei nicht-ehelichen Bedarfsgemeinschaften, dann dürften sich noch einige mehr, die sich bisher zurückgehalten haben, in sozialrassistischer Eiferei ergehen.

Das Hallali-Geblase zum sozialrassistischen Sturm auf die nicht durch Parteibücher und Abzockerei zu Geld Gekommenen hat bereits begonnen. Nachfolgend seien einige Beispiele dargelegt, wohin diese Treibjagd führen kann und schon heute führt. Es darf nicht vergessen werden, daß gerade in Deutschland gerade Richter immer schon unrühmliche Wegbereiter einer menschenverachtenden gesellschaftlichen Wirklichkeit waren. Und genau dieser historische Kontext sollte alle Alarmglocken schrillen lassen, wenn zunehmend auch die Sozialgerichte ins Horn der Armenhatz blasen. Die hier an dieser Stelle positiv zu erwähnenden obergerichtlichen Entscheidungen, welche im konkreten Einzelfall die menschenverachtenden behördlichen und erstinstanzlichen Entscheidungen korrigierten, dürfen dabei über jene zunehmende Tendenz sozialer Kälte nicht hinwegtäuschen.

 

 

Zunehmende Vernichtungstendenz solzialgerichtlicher Rechtsprechung

Beispiel Androhung Ordnungsgeld/Ordnungshaft

Das SG Berlin (99. Kammer) hatte eine Klägerin wegen unentschuldigten Nichterscheinens vor Gericht trotz richterlicher Ladung (§ 202 SGG i.V.m. § 141 ZPO) zu einem Ordnungsgeld verurteilt und Ordnungshaft im Falle der Nichtzahlung angedroht (§ 380 ZPO).

Die Klägerin gab an, sie habe einen neuen Bevollmächtigten, der ihren Antrag, sie vom persönlichen Erscheinen zu entbinden, in den Gerichtsbriefkasten geworfen hätte. Weil sie eine neue Arbeitsstelle gefunden habe, in der Probezeit sei und die Arbeitsstelle nicht durch Abwesenheit gefährden wollte, hätte sie um die Entbindung vom Erscheinen vor Gericht gebeten. Zum Gerichtstermin war zwar der frühere Bevollmächtigte der Klägerin erschienen, den das Gericht aber nicht mehr als solchen akzeptierte, obwohl andererseits dieses Schreiben der Klägerin im Original nicht oder nicht rechtzeitig beim erstinstanzlichen Gericht, was allerdings nicht geklärt war, eingegangen war.

Das LSG Berlin-Brandenburg hob diese Entscheidung auf, „…denn das erstinstanzliche Gericht hätte kein Ordnungsgeld festsetzen und erst recht keine Ordnungshaft androhen dürfen.“ [1]

Es gehe heute, so das LSG Berlin, im neuen Verständnis des Verhältnisses Bürger/Staat nicht mehr um Bestrafung, sondern darum durch das Wissen der Partei um den Sachverhalt das gerichtliche Verfahren zu fördern. „Daraus folgt, dass vor Verhängung eines Ordnungsgeldes abzuwägen ist, ob das Nichterscheinen der Partei zu einem im Sinne des Förderungszwecks ungünstigeren Verlauf des Verfahrens geführt, das Verfahren behindert oder verzögert und insbesondere eine Entscheidung im Termin verhindert hat (…).“ „Der angefochtene Beschluss lässt keinerlei sachliche Auseinandersetzung mit dem die Ermessensausübung leitenden Gesetzeszweck erkennen.“ [1]

Das LSG Berlin sah die Klägerin durch ihren vormals Bevollmächtigten als vertreten an, zumindest habe das erstinstanzliche Gericht nicht festgestellt, daß dieser zur Aufklärung des Tatbestands nicht habe beitragen können, was aber Voraussetzung für die Verhängung eines Ordnungsgeldes gewesen wäre (§ 141 Abs. 3 ZPO).

Abschließend stellte das LSG Berlin zur angedrohten Ordnungshaft noch fest: „Soweit das Sozialgericht der Klägerin – ersatzweise – Ordnungshaft angedroht hat, war der Beschluss schon deshalb aufzuheben, weil § 141 Abs. 3 ZPO im Gegensatz zu § 380 Abs. 1 Satz 2 ZPO dieses nicht vorsieht, die Partei bzw. der Beteiligte also insoweit gegenüber einem nicht erschienenen Zeugen privilegiert ist (…).“ [1]

Und in der Tat ist in § 380 ZPO – der übrigens bei unentschuldigtem Ausbleiben des Zeugen sowohl Ordnungsgeld als auch Ordnungshaft betrifft – nur von ‚Zeugen’ die Rede, hingegen in § 141 ZPO – der nur das Ordnungsgeld regelt – nur von ‚Partei’, womit letzteres eindeutig Kläger und Beklagter gemeint sind. Die erstinstanzliche Entscheidung des SG Berlin leidet also schon daran, daß die am hier besprochenen Verfahren beteiligten Richter nicht einmal des einfachen Lesens von Gesetzestexten mächtig zu sein scheinen, denn der gesetzliche Wortlaut ist so eindeutig, daß es hier keiner Interpretation, die richtig oder falsch sein könnte, bedarf.

 

 

Beispiel Leistungsentzug bei Herzkrankem wegen Verweigerung schädlicher Arbeit

Der Kläger/Antragsteller leidet unter einer Herzkranzgefäßverengung mit Durchblutungsstörung des Herzens. Das von der Agentur für Arbeit eingeholte amtsärztliche Gutachten sieht den Kläger als arbeitsfähig an „unter Vermeidung von ständig vermehrtem Zeitdruck, Nässe, Kälte, Zugluft, Temperaturschwankungen und häufigem Heben von Lasten ohne mechanische Hilfsmittel“ [2].

Trotzdem wollte die Agentur für Arbeit den herzkranken Kläger als Hausmeistergehilfen in einer Kindertagesstätte im Rahmen eines sog. Ein-Euro-Jobs vermitteln. Nach Anhörung durch die Agentur für Arbeit teilte der Kläger mit, die vorgesehene Beschäftigung sei ihm aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich. Daraufhin senkte die Agentur für Arbeit mit einem ersten Bescheid das Alg II um 30 Prozent ab. Der Widerspruch hiergegen wurde abgewiesen, ebenso der vor dem SG Frankfurt/Oder (17. Kammer) erhobene Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz. Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Klägers/Antragstellers vor dem LSG Berlin.

Wegen wiederholten Pflichtverstoßes wurde dem Kläger/Antragsteller mit einem zweiten Bescheid das Alg II um 60 Prozent gekürzt und mit einem dritten Bescheid gänzlich entzogen. An dieser Stelle sollen weitere Details und auch der formaljuristische Umgang innerhalb des Verfahrens außen vor bleiben.

Das LSG Berlin gab der Beschwerde des herzkranken Klägers/Antragstellers statt, „(d)enn im vorliegenden Verfahren bestehen aus zwei Gründen, nämlich im Hinblick auf Bestimmtheit und gesundheitliche Zumutbarkeit, ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der von der Antragsgegnerin getroffenen Entscheidung über die Absenkung des Arbeitslosengeldes II und die teilweise Aufhebung der Leistungsbewilligung …“. [3]

Zum einen stellt das LSG Berlin dann fest, daß die von der Agentur für Arbeit behauptete Stelle als Hausmeistergehilfe in einer Kita von dem an den Maßnahmeträger gerichteten Vermittlungsvorschlag, der eine Tätigkeit als Haus- und Gewerbediener angibt, abweicht und auch Ort, Art und zeitlicher Umfang der Tätigkeit nicht eindeutig bestimmt seien. Dies, so das LSG weiter, sei rechtlich nicht zulässig, da maßgebliche Entscheidungen von der Agentur für Arbeit selber zu treffen seien, da für eine Übertragung von Entscheidungsbefugnissen [z.B. über Ort, Art und zeitlichem Umfang, H.M.] keine gesetzliche Grundlage vorhanden sei.

„Weiter muss die Arbeitsgelegenheit zumutbar iSd § 10 SGB II sein. … Voraussetzung für die Verhängung einer Sanktion ist demnach in einem ersten Schritt der Abgleich des zuvor festgestellten Leistungsvermögens des Hilfeempfängers mit dem Anforderungsprofil der angebotenen Arbeit nach § 16 Abs. 3 Satz 2 SGB II. … Die Arbeitsbedingungen eines Hausmeisters beinhalten regelmäßig Arbeiten bei Kälte, Hitze, Nässe, Feuchtigkeit und Zugluft…“ [3], die ja laut medizinischem Gutachten eben zu den Ausschlußkriterien für den herzkranken Kläger/Antragsteller gehören.

Da diese Eilrechtsbeschwerde noch vor dem 1. April 2008, also der Änderung des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) stattfand, wurde an dieser Stelle nicht geklärt, ob das LSG Berlin-Brandenburg sich der Rechtsprechung des 6. Senats des LSG Niedersachsen-Bremen angeschlossen und die Beschwerdegrenze von 750 Euro nicht zur Verweigerung einer Zulassung gemacht hätte.

Das, was sich da aber die Agentur für Arbeit, und – noch schlimmer – das SG Frankfurt/Oder geleistet haben, ist menschenverachtend, weil es mit dem Tod eines Herzkranken hätte enden können.

 

 

Beispiel Sperrzeit für Kriegsdienstverweigerer wegen Verweigerung einer Arbeit in einem Rüstungsbetrieb

Das hier abgehandelte Beispiel betrifft zwar den Bereich des SGB III (Arbeitslosengeld I), ist so oder ähnlich aber auch auf den Bereich des SGB II (Arbeitslosengeld II) übertragbar – an die Stelle der Sperrzeit nach § 144 SGB III träte lediglich die Bestrafung nach § 31 SGB II.

Ein anerkannter Kriegsdienstverweigerer, erfolgreich von der Agentur für Arbeit zum Photographen umgeschult und seinerzeit Bezieher von Arbeitslosenhilfe, sollte einem Arbeitsangebot als Industriephotograph bei einer Rüstungsfirma für Sprengstoffe und Gefechtsköpfe Folge leisten, was dieser als mit seinem Gewissen begründet ablehnte. Daraufhin verhängte die Agentur für Arbeit gemäß § 144 SGB III eine Sperrzeit. Nach Ablehnung seines Widerspruchs reichte der Betroffene Klage vor dem SG Dortmund ein.

„Mit Urteil vom 22.06.2005 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und hierbei der Funktionsfähigkeit der Arbeitslosenversicherung vor der Gewissensbeeinträchtigung des Klägers (Artikel 4 Abs. 1 Grundgesetz/GG) den Vorrang gegeben. Die Berufung hat es nicht zugelassen.“ [4]

Auf die daraufhin erfolgte Nichtzulassungsbeschwerde hat das LSG die Berufung zugelassen, ohne aber letztendlich dem Kläger abzuhelfen.

„Auf Anfrage des Senats hat E O unter Beifügung von Unterlagen mitgeteilt, der Inhaber der fraglichen Stelle sei nicht in die Produktion eingebunden, müsse jedoch mit auf Schießplätze der Bundeswehr und auch Testschüsse fotografisch dokumentieren, weshalb eine Berührung mit Waffen nicht ausgeschlossen sei.“ [5]

„Der Kläger meint, er habe die Kriegswaffen von E O fotografisch in Szene setzen sollen, damit sich diese besser verkaufen ließen. Damit habe er die Kriegswaffenproduktion aktiv unterstützen sollen, was ihm nicht zumutbar sei.“ [6]

Die Entscheidungsgründe des LSG NRW lauten:

„Das versicherungswidrige Verhalten des Klägers liegt also darin, dass er sich bei E O nicht beworben bzw. vorgestellt hat.“ [7] „Dem Kläger oblag es vielmehr, sich zumindest zu bewerben und zu einem Vorstellungsgespräch zu erscheinen. Dafür, bereits dies zu verweigern, hatte der Kläger besonders auch vor dem Hintergrund seiner langjährigen Arbeitslosigkeit keinen wichtigen Grund.“ [8]

Das LSG NRW erkennt durchaus an, daß eine Gewissensentscheidung im Sinne des Art. 4 GG einen wichtigen Grund darstellen kann, der der Verhängung einer Sperrzeit entgegensteht. Aber: „Für seine Haltung kann sich der Kläger nicht auf Artikel 4 Abs. 3 GG berufen, weil dieses Grundrecht nicht vor einem Einsatz in der Rüstungswirtschaft schützt (…).“ [9] Auch Artikel 4 Abs. 1 GG, welcher die allgemeine Gewissensfreiheit aus weltanschaulichen, religiösen etc. Gesichtspunkten behandelt, könne nur dann eine Bedeutung zukommen, „wenn bei der gebotenen Rechtsgüterabwägung  der Gewissensposition des Klägers ein höheres Gewicht zukommt als der Funktionsfähigkeit der Systeme, in der Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe gewährt werden. Wegen der Hochwertigkeit des letztgenannten, über das Sozialstaatsprinzip des Artikel 20 Abs. 1 GG ebenfalls mit Verfassungsrang ausgestatteten Rechtsgutes ist dem Arbeitslosen im Regelfall unter wenigstens zeitweiser Zurückstellung seiner eigenen Belange ein anderes Verhalten zumutbar, was dazu führt, dass im Allgemeinen das Grundrecht aus Artikel 4 Abs. 1 GG hinter die dem Arbeitslosen im Gemeinschaftsinteresse abzufordernde Pflicht zur Entlastung der Solidargemeinschaft zurücktritt (BSG, Urteil vom 28.10.1987, Az.: 7 Rar 8/86, Rn. 25,26 u. 28).“ [10]

An dieser Stelle muß angemerkt werden, daß der Kläger zum Zeitpunkt des Arbeitsangebots Arbeitslosenhilfe empfing, mithin eben nicht eine Leistung der Solidargemeinschaft, was im Juristendeutsch die Beitragszahler in der Arbeitslosenversicherung meint, bezog, sondern die steuerfinanzierte Arbeitslosenhilfe, was zu erwähnen die Sozialgerichte nicht müde wurden, wenn es darum ging, die vom Bundesverfassungsgericht aus Gründen des Eigentumsschutzes der Versicherungsbeiträge erzwungene Erhöhung des Arbeitslosengeldes den Arbeitslosenhilfe-Empfängerinnen und -empfängern zu verweigern. Genauso unsauber ging das LSG NRW mit den Verweisen auf alte Entscheidungen des BSG um, wie Dieter Deiseroth, Richter am Bundesverwaltungsgericht in einem Artikel zu eben dieser hier behandelten Entscheidung des LSG NRW darstellte [11]. Aber diese Details sollen hier nicht zu stark gewichtet werden, weil es eigentlich darauf ankommt, daß hier die grundgesetzlich geschützte Gewissensfreiheit einer einfachgesetzlichen Regelung, nämlich der des § 144 SGB III unterstellt wird. Der Versuch des LSG NRW diese einfachgesetzliche Regelung gleichsam über das Sozialstaatsgebot des Artikel 20 GG in Verfassungsrang zu erheben, was es muß, denn ein Grundrecht kann letztlich nur mit einem anderen Grundrecht ausgehebelt werden (siehe Elternrecht Artikel 6 GG mit Schulrecht Artikel 7 GG) [Zur Klarstellung: Damit ist nicht die Einschränkung von Grundrechten durch Gesetze gemeint, die aber, so die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, den Kernbereich des Grundrechts nicht antasten darf.], ist erbärmlich. Denn es sind immer wieder gerade die Sozialgerichte, die hervorheben, daß aus dem Sozialstaatsgebot des Artikel 20 GG nur die grundsätzliche Sicherung des Existenzminimums folgt, nicht aber deren konkrete Ausgestaltung, insbesondere nicht deren geldliche Höhe.

Und es darf angesichts der Argumentation des LSG NRW die Frage erlaubt sein, wie klein oder wie groß noch der Schritt vom Schädling an der Solidargemeinschaft hin zum „Volksschädling“ der Nazi-Zeit ist.

Aus der Entscheidung des LSG NRW folgt also, daß das Gewissen des Einzelnen gemeinschaftsschädlich ist. Dummerweise für das LSG NRW gibt es aber noch diese Verfassung, Grundgesetz genannt, die als Grund-Gesetz alle staatliche Gewalt, auch die Rechtsprechung bindet, und zwar unmittelbar (!), wie es Art. 1 Abs. 3 GG bestimmt.

Wie also windet sich das LSG NRW aus dieser Lage? Nun, in zweierlei Weise:

„Einen wichtigen Grund kann der Arbeitslose vielmehr allenfalls dann für sich beanspruchen, wenn er Arbeiten auszuführen hätte, die unmittelbar die Herstellung von Waffen oder Munition betreffen (BSG, Urteil vom 23.06.1982, [Az.: 7 Rar 89/81], rn. 23).“ [12] Das aber sei nicht der Fall gewesen, da der Kläger Waffen nur photographieren, nicht herstellen sollte.

Zum Zweiten ließ das LSG NRW die Revision vor das Bundessozialgericht nicht zu [13].

Damit sollte die Zulassung der Berufung wohl einzig dem Zweck dienen, eine entsprechende Rechtsprechung für ganz NRW zu zementieren, denn sonst hätte es auch einfach die Nichtzulassungsbeschwerde ablehnen und es beim Spruch des SG Dortmund belassen können. Zumindest wäre dem Kläger so ein schnellerer Weg vors Bundesverfassungsgericht ermöglicht worden.

 

 

Beispiel Zwangsvollstreckung Ordnungsgeld wegen Auskunftsverweigerung

In diesem Beispiel geht es um eine Hilfebedürftige und deren angeblich mit ihr in eheähnlicher Gemeinschaft lebenden Antragsteller. Die Optionskommune, die mit einem ersten Versuch kein Arbeitslosengeld II an die Hilfebedürftige zu gewähren scheiterte, weil die Hilfebedürftige hinsichtlich der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Antragstellers nicht auskunftspflichtig ist, wendete sich in einem zweiten Versuch direkt an den Antragsteller um Auskunft über dessen finanzielle Verhältnisse. Die Optionskommune ordnete die sofortige Vollziehung an, begründet mit öffentlichem Interesse.

Auf den dagegen eingereichten Widerspruch des Antragstellers setzte die Optionskommune das angedrohte Zwangsgeld in Höhe von 300 Euro fest, gewährte eine Nachfrist zur Antwort und drohte ein weiteres Zwangsgeld in Höhe von 600 Euro an. Auch hiergegen erhob der Antragsteller Widerspruch.

Daraufhin setzte die Optionskommune das weitere Zwangsgeld von 600 Euro fest, gewährte wieder eine Nachfrist zur Antwort und drohte ein weiteres Ordnungsgeld in Höhe von 900 Euro an. Dagegen legte der Antragsteller ebenfalls Widerspruch ein. Über alle Widersprüche war noch nicht entschieden.

Der Antragsteller ersuchte dann vorläufigen Rechtsschutz vor dem SG Hildesheim (23. Kammer), welchen das SG Hildesheim ablehnte mit der Begründung, es sei von einer Einstandsgemeinschaft zwischen der Hilfebedürftigen und dem Antragsteller auszugehen und der Antragsteller unterliege der Auskunftspflicht nach § 60 SGB II, die Anordnung der sofortigen Vollziehung seiner Auskunftspflicht sei rechtens, ebenso sei das Zwangsgeld rechtmäßig. Gegen den Beschluß des SG Hildesheim legte der Antragsteller keine Beschwerde vor dem LSG ein.

Die Optionskommune setzte das Zwangsgeld in Höhe von 900 Euro fest, gewährte eine weitere Nachfrist zur Antwort und drohte ein weiteres Zwangsgeld in Höhe von 1800 Euro an. Dagegen legte der Antragsteller ebenfalls Widerspruch ein, reichte dann allerdings den Fragebogen ausgefüllt und mit Belegen versehen an die Optionskommune zurück (in 2006), woraufhin ihn die Optionskommune aufforderte, weitere Auskünfte zu erteilen und Belege vorzulegen, und zwar für die Jahre 2003 bis 2005. Für den Fall der Zuwiderhandlung drohte die Optionskommune die Festsetzung des angedrohten Zwangsgeldes in Höhe von 1800 Euro an.

Hiergegen ersuchte der Antragsteller erneut vorläufigen Rechtsschutz vor dem SG Hildesheim. Im Laufe des Verfahrens hat der Antragsteller weitere Auskünfte zu den Jahren 2004 und 2005 erteilt und belegt.

Wegen der Nichteinbringlichkeit des vorher festgesetzen Zwangsgeldes in Höhe von 900 Euro (s.o.) hatte das zuständige Amtsgericht auf Antrag der Optionskommune eine Ersatzhaft von 5 Tagen angeordnet. Gleichzeitig hat der Antragsteller vor dem SG Hildesheim den Antrag eingereicht, die Optionskommune zu verpflichten, den Haftbefehl nicht vollstrecken zu lassen, was das SG Hildesheim (33. Kammer) ablehnte, mit der Begründung, der Antragsteller sei auskunftspflichtig.

Hiergegen richtet sich die Beschwerde vor dem LSG Niedersachsen-Bremen.

Aufgrund von Fehlern des Antragstellers – hier belegt sich erneut, daß solch menschenverachtende Behördenbescheide und Gerichtsentscheidungen sofort mit einer juristischen Breitseitenkanonade zu begegnen ist – sind nicht Gegenstand des Verfahrens vor dem LSG der Grundbescheid und damit die Frage des Bestehens einer sogenannten Einstandsgemeinschaft sowie die Vollstreckungsbescheide bis auf jenen über 900 Euro, welcher zur Ersatzhaft führte. Dies zum Einen, weil dies der Antragsteller nicht beantragt hat, zum Anderen, weil das SG Hildesheim (23. Kammer) eine Vollzugsaussetzung rechtskräftig abgelehnt hat, woran das LSG gebunden ist. Ebenfalls nicht Gegenstand ist die amtsgerichtliche Anordnung der Ersatzhaft, weil hiergegen Beschwerde vor dem Landgericht eingereicht wurde. Gegenstand des LSG-Verfahrens war damit einzig die sofortige Vollziehung des festgesetzten Zwangsgeldes in Höhe von 900 Euro, welches zur Ersatzhaft führte.

Das LSG Niedersachen gab dem Antragsteller recht. Zunächst machte es einige formaljuristische Ausführungen, die darin kulminierten, daß die aufschiebende Wirkung von Widersprüchen nur in Ausnahmefällen entfalle und diese seien in § 86a Abs. 2 SGG abschließend aufgelistet und träfen im vorliegenden Fall nicht zu. Und weiter heißt es:

„Bei ihren Erwägungen muss sie [die Behörde, H.M.] in Ansehung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG eine sorgfältige Interessenabwägung durchführen. … Bei allem muss die Behörde schließlich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren. § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG bestimmt ausdrücklich, dass die Anordnung der sofortigen Vollziehung schriftlich zu begründen ist. … Die schriftliche Begründung muss nicht nur sämtliche Gesichtspunkte enthalten, die die Behörde in ihre Entscheidung einbezogen hat. Sie muss außerdem erkennen lassen, warum im konkreten Einzelfall das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung das Interesse des Betroffenen überwiegt. Schließlich muss die Behörde darlegen, inwieweit die Anordnung der sofortigen Vollziehung dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit entspricht.

Diesen Grundsätzen entspricht die Anordnung der sofortigen Vollziehung durch den Antragsgegner nicht. Die schriftliche Begründung lässt nicht erkennen, dass der Antragsgegner eine rechtsfehlerfreie Interessenabwägung vorgenommen hat. … So ist nicht nachvollziehbar, welche Gründe in der konkreten Situation dafür sprachen, ein Zwangsgeld in Höhe von 900,00 EUR festzusetzen und ein weiteres in doppelter Höhe anzudrohen. … Darüber hinaus lässt die Begründung insgesamt nicht erkennen, dass sämtliche Interessen des Antragstellers berücksichtigt wurden. So ist nicht erkennbar, dass sich der Antragsgegner damit auseinandergesetzt hat, dass durch die sofortige Vollziehbarkeit möglicherweise auch geschäftliche Interessen des Antragstellers als selbstständiger Handelsvertreter betroffen sein können (vgl. Art. 2, 12, 14 GG). Diesbezüglich ist von einem Ermessensdefizit auszugehen. … Ferner ist zu beachten, dass der Antragsgegner die sofortige Vollziehung ohne vorherige Anhörung des Antragstellers angeordnet hat. Zwar ist die Notwendigkeit einer solchen streitig…, weil die Verwaltungsaktsqualität der Vollziehungsanordnung umstritten ist. Da die vorherige Anhörung jedoch rechtsstaatlichen Grundsätzen entspricht, da zwischen dem Erlass des angegriffenen Bescheides und der Vollzugsanordnung über 10 Monate liegen und da weder vorgetragen noch ersichtlich ist, dass durch eine vorherige Anhörung das Vollzugsinteresse hätte gefährdet sein können, war im vorliegenden Einzelfall eine vorherige Anhörung geboten …. Auch aus diesem Grund ist von einer Rechtswidrigkeit der getroffenen Anordnung auszugehen. Auch daher war die aufschiebende Wirkung anzuordnen.“ [14]

 

 

Nachbemerkung

Soweit zur in letzter Zeit (2007/2008) verstärkt feststellbaren sozialgerichtlichen Tendenz der Existenzvernichtung jenseits des rein finanziellen Existenzminimums durch Ordnungshaft, Gewissensvergewaltigung bis zur Inkaufnahme des Todes.

Es wird sich zeigen, wie sich die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 13. November 2008 (B 14 AS 2/08 R) auswirken wird, in sogenannten Patchwork-Familien denjenigen Partner, der nicht Elternteil ist, moralisch gegen das Gesetz zum Unterhalt nicht eigener Kinder zu zwingen, bzw. denjenigen Partner, der Elternteil ist, unter Androhung des Sorgerechtsentzugs zur Durchreichung des eigenen Lebensunterhalts an sein Kind zu zwingen. Offensichtlich neigt auch das Bundessozialgericht immer mehr zu der Tendenz das einfache Recht über die grundgesetzlich garantierten Menschenrechte zu stellen. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels lag die schriftliche Urteilsbegründung des BSG noch nicht vor.

 

[Quellen;Links]

  [1] LSG Berlin-Brandenburg, Beschluß vom 27. Oktober 2008, Az.: L 5 B 1180/08 AS, zit.n. Rechtsdatenbank auf www.sozialgerichtsbarkeit.de

  [2] so die Tatbestandsermittlung laut LSG Berlin-Brandenburg, Beschluß vom 14. März 2008, Az.: L 10 B 445/08 AS ER , zit.n. Rechtsprechungsdatenbank auf www.sozialgerichtsbarkeit.de]

  [3] LSG Berlin-Brandenburg, Beschluß vom 14. März 2008, Az.: L 10 B 445/08 AS ER , zit.n. Rechtsprechungsdatenbank auf www.sozialgerichtsbarkeit.de]

  [4] aus Tatbestand des LSG NRW, Urteil vom 13. Dezember 2007, Az.: L 9 AL 86/06, Rdnr. 6 – http://www.justiz.nrw.de/nrwe/sgs/lsg_nrw/j2007/L_9_AL_86_06urteil20071213.html

  [5] a.a.O., Rdnr. 10

  [6] a.a.O., Rdnr. 11

  [7] LSG NRW, Urteil vom 13. Dezember 2007, Az.: L 9 AL 86/06, Rdnr. 20 – http://www.justiz.nrw.de/nrwe/sgs/lsg_nrw/j2007/L_9_AL_86_06urteil20071213.html

  [8] a.a.O., Rdnr. 28

  [9] a.a.O., Rdnr. 23

[10] a.a.O., Rdnr. 26

[11] Dieter Deiseroth, Sperrzeit und Gewissensfreiheit, in: info also, Nr. 5/2008, 26. Jg., Nomos Verlag, Baden-Baden, S. 195-203

[12] LSG NRW, Urteil vom 13. Dezember 2007, Az.: L 9 AL 86/06, Rdnr. 27 – http://www.justiz.nrw.de/nrwe/sgs/lsg_nrw/j2007/L_9_AL_86_06urteil20071213.html

[13] a.a.O., Rdnr. 31

[14] LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluß vom 21. September 2007, Az.: L 7 AS 183/07 ER, zit.n. Rechtsdatenbank auf www.sozialgerichtsbarkeit.de

 

 

 

 

 

 

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