Zur Anwendbarkeit des § 66 SGB I im SGB II (und SGB XII)
(3. Dezember 2014)
Seit ein, zwei Jahren hat es den Anschein, daß die Anwendung der gesetzlichen Norm § 66 SGB I – Leistungsverweigerung aufgrund mangelnder Mitwirkung – nicht mehr nur den „klassischen“ Fall ungeklärter Einkommens- und Vermögensverhältnisse und damit die Frage der Leistungsberechtigung an sich betrifft, sondern bei allem Möglichen – sprich: Unmöglichen – angewendet wird, um die Betroffenen berechtigte SGB II-Leistungen zu verweigern.
SGB I
Das SGB I enthält die allgemeinen Vorschriften für das Sozialgesetzbuch und seine Einzelnormen und gilt folglich auch für das SGB II („Hartz IV“).
Die §§ 60 bis 67 enthalten die Mitwirkungspflichten – juristisch: Obliegenheiten – derjenigen Personen, die Sozialleistungen beantragen und leistungsberechtigt sind.
Damit diese Leistungsberechtigung festgestellt werden kann, müssen bestimmte Vorschriften eingehalten werden, damit nicht jemand Sozialleistungen bezieht, der oder die nicht dazu berechtigt, d.h. in diesem Fall bedürftig ist.
So legt § 60 SGB I die Obliegenheit – es ist keine bindende Pflicht, denn wer ihr nicht nachkommt hat „lediglich“ keinen Anspruch auf die beantragte Sozialleistung – zur Benennung aller entscheidungserheblichen Tatsachen fest. Dies gilt auch für Änderungen bei laufender Leistungsbewilligung. Beweismittel müssen benannt werden. Hier greift der klassische Fall, daß jemand, der oder die Sozialleistungen beantragt, Mitteilungen über das eigene Einkommen und Vermögen zu machen hat, damit die Leistungsberechtigung für die begehrte Sozialleistung festgestellt werden kann.
§ 61 SGB I beinhaltet die Obliegenheit zum persönlichen Erscheinen, um den Antrag erörtern zu können. Dieser Paragraph findet insbesondere seine Konkretisierung in den folgenden §§ 62 bis 64 hinsichtlich ärztlicher Untersuchungen bezüglich entsprechender Behandlungen oder der Feststellung von Arbeitsunfähigkeit und Erwerbsminderung. § 65a SGB I regelt den Aufwendungsersatz von Kosten, die dem oder der Leistungsberechtigten im Rahmen der §§ 61 und 62 SGB I entstehen.
§ 65 SGB I befaßt sich mit den Grenzen der Mitwirkung die §§ 60 bis 64 SGB I betreffend. Lassen wir die Fälle der Gefährdung körperlicher Unversehrtheit (bei medizinischen Eingriffen) und der Offenbarung von Tatsachen, die zu einer Strafverfolgung oder Ordnungsstrafe führen können, beiseite, dann ist gemäß § 65 Abs. 1 SGB I die Mitwirkung Leistungsberechtigter dort nicht geboten, wo erstens die Mitwirkungsobliegenheit in keinem angemessenen Verhältnis zur begehrten Leistung steht, zweitens die Erfüllung einer Obliegenheit dem oder der Leistungsberechtigten nicht zugemutet werden kann und drittens der Leistungsträger sich die Kenntnis selber einfacher beschaffen kann. Letzeres bezieht sich insbesondere auf Dokumente, die sich der Leistungsträger innerhalb der eigenen Verwaltung – z.B. die SGB II-Behörde vom Jugendamt oder dem Wohngeldamt – mit leichterem Aufwand selber beschaffen kann.
§ 66 SGB I enthält nun Regelungen für den Fall, daß der oder die Leistungsberechtigte den berechtigten Anforderungen nicht nachkommt. So kann der Leistungsträger bis zum Nachholen – Absatz 2 regelt dies gesondert für den Fall der Pflegebedürftigkeit, Arbeitsunfähigkeit u.ä. – die Leistung ganz oder teilweise versagen, wenn dieAufklärung des Sachverhalts durch die Obliegenheitsverletzung erheblich (!) erschwert wird.
Wird die Mitwirkung nachgeholt, so kann gemäß § 67 SGB I der Leistungsträger die begehrte Leistung ganz oder teilweise nachträglich erbringen.
Allgemeines I
Zunächst ist darauf zu achten, daß der SGB II-Leistungsträger die existenznotwendige Leistung nicht vollständig versagt wegen angeblicher Verletzung der Mitwirkungsobliegenheit, wenn er sich die Informationen selber beschaffen kann. Bezieht ein aufgrund von Unterhaltsleistungen, Kindergeld und Wohngeld gemäß § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II als nicht leistungsberechtigt einzustufendes Haushaltsmitglied die vorgenannten Leistungen, so ist zwar der alleinerziehende Elternteil in der Pflicht, der Behörde den Bezug und die Höhe des Unterhalts, den Bezug und die Höhe des Wohngeldes mitzuteilen, aufgrund des mittlerweile – nicht nur im Rahmen des § 52 SGB II praktizierten – möglichen Datenaustausches kann sich der SGB II-Leistungsträger aber den Wohngeldbewilligungsbescheid als Computerdatei vom zuständigen Amt holen statt daß die Leistungsberechtigten ihren Bescheid erst kopieren müssen und dann mit der Kostenerstattung zu kämpfen haben.
Mit Ausnahme des Falles, in welchem wegen der Nichtvorlage von Belegen über die Einkommens- und Vermögensverhältnisse gar keine Aussage über die Leistungsberechtigung möglich ist, darf nicht die komplette Leistung verweigert werden. Hat jemand kein Einkommen und Vermögen und legt keinen Mietvertrag vor, so kann ihm bzw. ihr nicht die Regelleistung verweigert werden, sondern maximal nur die Unterkunftskosten (KdU), weil sich diese nicht feststellen lassen.
Allgemeines II
Beliebt ist bei SGB II-Behörden auch das Abverlangen von Mitwirkungsobliegenheiten bezüglich Tatsachen, die nicht der persönlichen Sphäre des bzw. der Leistungsberechtigten zugehörig sind.
Die Auskunftspflichten – hierbei handelt es sich nicht mehr um Obliegenheiten, sondern um Pflichten, weil die Verletzung derselben gemäß § 63 SGB II mit Bußgeld belegt werden kann – der Arbeitsgeber (§§ 57, 58 SGB II), der Maßnahmeträger (§ 61 SGB II) und sogenannter Dritter (§ 60 SGB II) sind ausdrücklich im SGB II geregelt und gehen als spezialgesetzliche Regelung der allgemeinen Regelung des SGB I vor. Mit „Dritten“ sind dabei insbesondere Unterhaltsverpflichtete (Absatz 2), Ehepartner oder Partner in eheähnlicher Gemeinschaft oder nach dem Partnerschaftsgesetz (Absatz 4) und wiederum Arbeitgeber (Absätze 3 u. 5) gemeint. Arbeitgeber, Unterhaltspflichtige, Partner können also gesondert durch Gesetz herangezogen werden. Es wäre also eine Überschreitung der Anwendungsbefugnis der §§ 60, 66 SGB I, wenn die SGB II-Behörde vom Leistungsberechtigten, von der Leistungsbrechtigten die Darlegung der Einkommensverhältnisse z.B. des geschiedenen Ehepartners abverlangen würde, zumal der oder die Leistungsbrechtigte hinsichtlich Kontoauskünften jenseits einer Unterhaltsklage kein juristisches Mittel gegen den geschiedenen Eheoartner hätte. Hier muß sich die SGB II-Behörde an die betreffende Person unter Hinweis auf die gesetzliche Lage und die Bußgeldbewehrung selber wenden.
Zwangsverrentung
Ein bei „Hartz IV“-Behörden mittlerweile beliebtes Vorgehen ist die Androhung der Leistungseinstellung gemäß § 66 SGB I, wenn nicht die betreffende Person gemäß § 12a SGB II beim zuständigen Rentenversicherungsträger den Antrag auf vorzeitige Rente mit 63 Jahren stellt. Dies ist nicht zulässig.
So urteilte etwa das LSG Berlin-Brandenburg [Beschluß vom 31. März 2010, Az.: L 19 AS 829/09 B PKH] im Rahmen einer streitigen Prozeßkostenhilfe-Gewährung, daß § 66 SGB I nur im Verhältnis SGB II-Empfänger zur Rentenversicherung, nicht aber hinsichtlich der vorzeitigen Verrentung durch den SGB II-Leistungsträger anwendbar wäre. Und, § 66 SGB I sei nicht anwendbar, weil der SGB II-Leistungsträger bei erfolgloser Aufforderung an den SGB II-Leistungsempfänger diesen Antrag gegenüber der Rentenkasse selber stellen könne.
Das LSG Sachsen-Anhalt [Beschluß vom 12. Januar 2009, Az.: L 5 B 284/08 AS ER] urteilte, daß dem Leistungsberechtigten nach § 66 SGB I zwar die Angabe von lesitungserheblichen Tatsachen, der Zustimmung zur Erteilung von Auskünften durch Dritte, der Vorlage von Beweisurkunden obliegt, nicht jedoch die Meldung – hier: Arbeitssuchendmeldung beim Arbeitsamt.
In diesem Zusammenhang ist klar darauf hinzuweisen, daß, kommt der oder die Leistungsberechtigte der Obliegenheit nach § 12a SGB II nicht nach, der SGB II-Leistungsträger die Möglichkeit hat, gemäß § 5 Abs. 3 SGB II den entsprechenden Antrag selber beim anderen Sozialleistungsträger zu stellen. Daraus ergibt sich schon, daß eine Leistungsverweigerung unter Bezugnahme auf § 66 SGB I, gerade weil es sich um existenzsichernde Leistungen handelt, gegen das Übermaßverbot als Ausdruck des in Art. 3 GG festgelegten Willkürverbots verstößt.
Umzugskosten
Aufgrund gekürzter Unterkunftskosten (KdU) und eines Räumungsurteils mußte der Autor mit seinen Kindern die Wohnung wechseln. Damit war klar, daß der SGB II-Leistungsträger die „angemessenen“ Kosten des Umzuges zu tragen hatte. Der Autor wurde nun vom Leistungsträger aufgefordert, drei Kostenvoranschläge für die Anmietung eines Umzugswagens vorzulegen, andernfalls würde die entsprechende Leistung wegen fehlender Mitwirkung gemäß § 66 SGB I versagt. Schließlich hat der Grundsicherungsträger dies nicht vollzogen, was auch rechtswidrig gewesen wäre. Denn, ein Leistungsempfänger bzw. eine Leistungsempfängerin darf gemäß §§ 60 ff. SGB I nur aufgefordert werden, wenn dies der persönlichen Sphäre der betreffenden Person zuzuordnen ist – Ausnahme: Eltern für ihre minderjährigen Kinder.
Da aber die Erstellung von Kostenvoranschlägen im Ermessen und damit der Sphäre des jeweiligen Wagenvermieters liegt, sind die §§ 60, 66 SGB I gar nicht anwendbar. Für den Fall eines kostenpflichtigen Kostenvoranschlags – 20 Euro sind nicht unüblich –, wäre die Aufforderung des Grundsicherungsträgers ohne vorherige Zusicherung der Kostentragung erst recht rechtswidrig. Hinzu kommt, daß SGB II-Leistungsträger häufig ganz genau wissen, welches Vermietungsunternehmen das günstige ist. Hiernach dürfte der Grundsicherungsträger die Kosten für einen Umzugswagen allenfalls begrenzen, jedoch nicht komplett verweigern.
Fazit:
Sich durch den autoritären Ton und die rechtswidrige Drohung mit Leistungsentzug nicht kirre machen lassen, sondern erst immer prüfen, ob die vom Leistungsträger aufgestellte Forderung zur Mitwirkung überhaupt in der ganz persönlichen eigenen Sphäre liegt – Ausnahme, wie gesagt: Eltern für ihre minderjährigen Kinder –, und/oder ob nicht gesetzliche Überleitungsvorschriften für den Leistungsträger bestehen (z.B. § 33 SGB II; §§ 102, 103, 104, 107 SGB X), die dieser vorrangig wahrzunehmen hat. Und vor allem: den Mut haben, den Leistungsträger auf die Fehlanwendung der §§ 60, 66 SGB I hinzuweisen und notfalls Klage und Antrag auf Einstweilige Anordnung vor dem zuständigen Sozialgericht zu erheben.
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