Herbert Masslau

Entschädigungsrecht oder eine zunehmend durchgeknallte Rechtsprechung

(16. September 2017)


Aktualisierung: Hinsichtlich der hier behandelten Rechtsprechung des 15. Senats des LSG Niedersachsen-Bremen (zweite Artikelhälfte) hat sich etwas geändert. Mit dem Geschäftsverteilungsplan des LSG Niedersachsen-Bremen vom 1. Mai 2019 ist der 15. Senat nicht mehr für Entschädigungsklagen zuständig, sondern nunmehr an dessen Stelle der 13. LSG-Senat, neben dem 10. Senat, welcher die Rechtsauffassung des 15. Senats mehrfach kritisiert hatte. Damit dürfte die bundesweit einmalige "durchgeknallte Rechtsprechung" des 15. Senats des LSG Niedersachsen-Bremen ihr Ende gefunden haben. (Herbert Masslau, 28. Mai 2019)

 

Es gibt keine einheitliche Rechtsprechung hinsichtlich des Entschädigungsrechtes wegen überlanger Gerichtsverfahrensdauer (§§ 198 ff. GVG).

Selbst die höchstrichterliche fachgerichtliche Rechtsprechung ist nicht einheitlich:

So kennt das Entschädigungsgesetz (§ 198 ff. GVG) weder die „Zwölf-Monate-Regel“ des BSG noch irgendeine andere vergleichbare Regelung. Hier hat sich insbesondere das BSG die Rolle des Gesetzgebers angemaßt.

Die anderen höchsten Bundesgerichte vertreten auch keine einheitliche Rechtsauffassung hierzu:

Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) vertritt – wie das Gesetz – ausschließlich die Position der Einzelfallbetrachtung anhand der Kriterien des § 198 Abs. 1 GVG (Schwierigkeit des Verfahrens, Verhalten der Verfahrensbeteiligten, Bedeutung der Sache für den Kläger/die Klägerin). Eine Regelung, wonach zusätzlich zu den Zeiten der Verfahrensförderung dem Gericht je Instanz eine starre Zeitvorgabe für Untätigkeit zugestanden wird, vertritt das BVerwG nicht: „Ein entsprechender Rechtssatz lässt sich aus § 198 Abs. 1 GVG nicht ableiten. Mit dieser Bestimmung ist weder die Zugrundelegung fester Zeitvorgaben vereinbar ((1)), noch lässt es die Vorschrift grundsätzlich zu, für die Beurteilung der Angemessenheit von bestimmten Orientierungswerten oder Regelfristen für die Laufzeit verwaltungsgerichtlicher Verfahren auszugehen ((2)). Dies gilt gerade auch für die vom Oberverwaltungsgericht angenommene Zwei-Jahresfrist ab Entscheidungsreife ((3)).“ [1]. „Mit der gesetzlichen Festlegung, dass sich die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen des Einzelfalles richtet (§ 198 Abs. 1 Satz 2 GVG), hat der Gesetzgeber bewusst von der Einführung bestimmter Grenzwerte für die Dauer unterschiedlicher Verfahrenstypen abgesehen. Die Ausrichtung auf den Einzelfall folgt nicht nur in deutlicher Form aus dem Wortlaut des Gesetzes (‚Umstände des Einzelfalles’), sondern wird durch seine Entstehungsgeschichte bestätigt und entspricht dem in den Gesetzesmaterialien klar zum Ausdruck gebrachten Willen des Gesetzgebers (vgl. BTDrucks 17/3802 S. 18).“ [2] Das BVerwG hat daher in einem Verfahren festgelegt: „Dem Verwaltungsgericht ist im konkreten Fall für seine Entscheidung mit Rücksicht auf den gerichtlichen Spielraum bei der Verfahrensgestaltung ein Zeitraum von acht Monaten ab Entscheidungsreife zuzugestehen. Bei der Bemessung dieses Zeitraums ist in Anwendung des dar-gelegten rechtlichen Maßstabes zunächst zu berücksichtigen, dass es sich bei dem erstinstanzlichen Verfahren um ein Hauptsacheverfahren gehandelt hat. Zudem ist über die Klage aufgrund mündlicher Verhandlung zu entscheiden gewesen (vgl. § 101 Abs. 1 VwGO).“ [3] Und: „Im vorliegenden Einzelfall erscheint es angemessen, dem Oberverwaltungsgericht für das konkrete Berufungszulassungsverfahren ab Entscheidungsreife einen Zeitraum von fünf Monaten für seine Entscheidung über den Zulassungsantrag zuzugestehen ... .“ [4] Damit wird deutlich, daß es dem BVerwG nicht wie dem BSG um starre Pauschalzeiträume gerichtlichen Untätigseins geht, sondern ausschließlich, wie es auch im Gesetz formuliert ist, um die Entscheidung anhand des Einzelfalles.

Der Bundesgerichtshof (BGH) geht auch von der Einzelfallbetrachtung aus. Eine Bearbeitungs- und Vorbereitungszeit sei dem Gericht zwar zuzugestehen, diese richte sich aber ebenfalls am Einzelfall aus; es gäbe keine starren Fristen [5]. „Es ist unabdingbar, die einzelfallbezogenen Gründe zu untersuchen, auf denen die Dauer des Verfahrens beruht, und diese im Rahmen einer abschließenden Gesamtabwägung umfassend zu würdigen und zu gewichten (Senatsurteil vom 5. Dezember 2013 - III ZR 73/13, NJW 2014, 789 Rn. 40 f).“ [6]

Die Arbeitsgerichtsbarkeit bleibt bei dieser Betrachtung außen vor, da das ArbGG selbst beschleunigende Rechtsbehelfe vorsieht: „Das Arbeitsgerichtsgesetz hält zahlreiche Bestimmungen vor, die einen effektiven und zeitnahen Rechtsschutz sicherstellen sollen (z. B. das allgemeine Beschleunigungsgebot des § 9 Absatz 1 ArbGG und die besondere Prozessförderung in Kündigungsverfahren nach § 61 a ArbGG).“ [7].

Der Bundesfinanzhof (BFH) geht zunächst generell von einer Vorbereitungszeit von zwei Jahren aus, in denen das Gericht nicht tätig sein muß [8], was offensichtlich seinen Hintergrund darin hat, daß die Finanzgerichtsbarkeit gleich mit dem Obergericht auf Bundeslandebene als 1. Instanz anfängt, also eine Instanz wegfällt. Allerdings schränkt der BFH diese „Zwei-Jahre-Regel“ ein: sie gilt nicht im Einzelfall und schon gar nicht in Verfahren, wo es um der Existenzsicherung dienende Leistungen geht [9]. „Zudem hat der erkennende Senat ebenfalls immer betont, dass die Vermutungsregel von zwei Jahren nicht gilt, wenn der Verfahrensbeteiligte rechtzeitig und in nachvollziehbarer Weise auf Umstände hinweist, aus denen eine besondere Eilbedürftigkeit des Verfahrens folgt.“ [10].

Das Bundessozialgericht (BSG) geht generell von einer Vorbereitungs- und Bedenkzeit von 12 Monaten je Instanz aus [11].

Diese Auffassung widerspricht nicht nur der Auffassung des BVerwG und des BGH, sondern in seiner starren Anwendung auch und gerade bei „Hartz IV“-Verfahren, wo es um existenzsichernde Leistungen geht, dem BFH. Zwar kennt auch das BSG den Fall der Reduzierung der „Zwölf-Monate-Regel“ – „Eine Vorbereitungs- und Überlegungsfrist von vollen 12 Monaten je Instanz hat der Senat lediglich für den Regelfall sozialgerichtlicher Verfahren angenommen, wenn nicht besondere Umstände des Einzelfalls, vor allem mit Blick auf die Kriterien des § 198 Abs 1 S 2 GVG, für eine kürzere Frist sprechen (vgl Senat Urteil vom 3.9.2014 – B 10 ÜG 2/13 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 3 RdNr 45 ff). Aufgrund solcher von ihm festgestellten besonderen Einzelfallumstände hat das LSG die Zwölfmonatsfrist daher im Ergebnis zu Recht nur zu einem Viertel ausgeschöpft.“ [12] –, das BSG schließt es nicht einmal aus, daß „gar keine Vorbereitungs- und Bedenkzeit anzusetzen ist“ [13], wenn das zweitinstanzliche Verfahren im Hinblick auf die bereits erstinstanzlich eingetretene Verfahrensverzögerung besonders zu fördern ist; gleichwohl hat das BSG – soweit dem Autor bekannt – bisher nur diesbezügliche obergerichtliche Entscheidungen akzeptiert, selbst aber bisher in keinem Verfahren dieses aktiv ausgeurteilt, sondern weiterhin an seiner starren „Zwölf-Monate-Regel“ festgehalten.

Hinzu kommt beim BSG die insbesondere von ihm entwickelte Rechtsprechung, das Einreichen von Schriftsätzen je mit einem Monat der Verfahrensförderung durch das Gericht gleichzusetzen. So entschied das BSG: „Sofern der Kläger also während Phasen der Inaktivität des SG selbst durch das Einreichen von Schriftsätzen eine Bearbeitung des Vorganges durch das Gericht bewirkt hat, liegt keine inaktive Zeit der Verfahrensführung durch das SG vor und damit keine überlange Verfahrensdauer. Insoweit geht der Senat davon aus, dass eingereichte Schriftsätze, die einen gewissen Umfang haben und sich inhaltlich mit Fragen des Verfahrens befassen, generell eine Überlegungs- und Bearbeitungszeit beim Gericht bewirken, die mit einem Monat zu Buche schlägt.“ [14] Was ist „ein gewisser Umfang“ bei Schriftsätzen? Und heißt das, daß mit jedem Schriftsatz außer der Klageschrift und einem ersten Antwortschriftsatz auf die Replik des Beklagten dem SG, LSG ein weiterer Monat Verfahrensdauer zuzugestehen ist? Und welche Art von Schriftsätzen zählen dazu? Durch dieses völlig diffuse Konstrukt gibt das BSG den in EK-Verfahren zuständigen LSG ein Instrument purer Willkür an die Hand.


Innerhalb der obergerichtlichen Rechtsprechung zeichnet sich eine Tendenz ab, die der Autor schon hier beschrieben hat, nämlich die, daß Ärzte Entschädigung zugesprochen bekommen, während „Hartz IV“-Empfängerinnen und -Empfängern selbige verweigert wird.

Den Vogel abgeschossen hat aber der 15. Senat des LSG Niedersachsen-Bremen [15] [16]. Laut diesem steht „Hartz IV“-Empfängerinnen und -Empfängern eine Entschädigung wegen überlanger Gerichtsverfahren nicht zu, weil diese keine Aktivlegitimation für die Entschädigungsklagen besäßen, weil nämlich der Entschädigungsanspruch gemäß § 33 SGB II auf die Grundsicherungsträger überginge. – Pause und sacken lassen –

Im Raume steht nicht weniger als die Frage der Aktivlegitimation eines Klägers bzw. einer Klägerin:

„Gleichwohl stellt sich zur Überzeugung des Senats die Klage als unbegründet dar, weil davon auszugehen ist, dass der Kläger nicht mehr selbst der Inhaber eines etwaigen, auf § 198 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 S. 1 und 3 GVG beruhenden Anspruchs auf pauschalierte Entschädigung der von einer überlangen Verfahrensdauer in ihrer Person verursachten immateriellen Nachteile ist. Ein solcher Anspruch ist für den Fall seines Bestehens nach § 33 Abs. 1 S. 1 SGB II auf das Jobcenter X. übergegangen, weil dieses als zuständiger Träger von SGB II-Leistungen dem Kläger in dem o.g. Entschädigungszeitraum laufende unterhaltssichernde Leistungen in erheblichem Umfang gewährt hat.“ [17]

Würde der Rechtsauffassung des 15. LSG-Senats gefolgt, dann würde jedwede Geldentschädigung für immateriellen Schaden nicht unter § 11a Abs. 2 SGB II i.V.m. § 253 Abs. 2 BGB fallen, sondern gemäß §§ 11, 33 SGB II als Einkommen qua lege, d.h. automatisch, auf den Grundsicherungsträger übergeleitet werden. Der 15. LSG-Senat übersieht dabei, daß zumindest im Strafrecht seelische Grausamkeit unter dem Oberbegriff Körperverletzung (§ 223 StGB) fällt und damit das Kriterium Körperverletzung i.S.v. § 253 Abs. 2 BGB erfüllt wäre.

Um § 33 SGB II ins Spiel bringen zu können, definiert der 15. LSG-Senat [17] die der Existenzsicherung dienende Sozialhilfe gleiche Leistung nach SGB II in eine „unterhaltssichernde Leistung[en]“ um, ohne dabei sich mit dem Unterhaltsbegriff aus dem Unterhaltsrecht vergleichend auseinanderzusetzen. Dabei ist schon allein wegen der Übernahme der „angemessenen“ Unterkunftskosten gemäß § 22 SGB II eine Gleichsetzung nicht erlaubt.

Ganz absurd wird es, wenn der 15. LSG-Senat argumentiert, eine rechtzeitige Erbringung der Entschädigungsleistung hätte die Erbringung von unterhaltssichernden Leistungen des Grundsicherungsträgers erübrigt:

„Auf dieser Grundlage ist im vorliegenden Verfahren auch in tatsächlicher Hinsicht davon auszugehen, dass die rechtzeitige Erfüllung eines hypothetischen Anspruchs des Klägers auf Geldentschädigung die Erbringung unterhaltssichernder Leistungen durch das Jobcenter X. in den einzelnen Entschädigungsmonaten erübrigt hätte (§ 33 Abs. 1 S. 1 SGB II). Soweit dies die Gleichzeitigkeit des Entschädigungsanspruchs und der vom Jobcenter erbrachten Leistungen voraussetzt (…) , ist ein Anspruch auf Entschädigung in Geld (…) bereits jeweils mit der Erfüllung der gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen entstanden und fällig geworden (…)… . Jeweils mit der Entstehung ist der Entschädigungsanspruch sogleich auf das Jobcenter übergegangen (…). Ansprüche für die Vergangenheit sind dabei wegen der Zeitgleichheit von Anspruchsentstehung und -übergang nicht betroffen gewesen, so dass es für den Eintritt der Legalzession einer vorherigen Mitteilung über die Leistungserbringung durch das Jobcenter, von der nach § 33 Abs. 3 S. 1 SGB II lediglich der Übergang von Ansprüchen für die Vergangenheit abhängt, nicht bedurft hat.“ [18].

Dies ist schon deswegen schlicht Unsinn, weil eine überlange Verfahrensdauer nicht von Anfang an feststeht, sondern sich erst über die Zeitschiene entwickelt, woraus sich ja der schmerzensgeldrelevante Leidensdruck beim Hilfebedürftigen erst ergibt. Weder handelt es sich bei den Entschädigungsansprüchen um unterhaltsrechtliche Leistungen i.S.v. § 33 Abs. 2 ff. SGB II noch um Leistungen Dritter, wobei Schmerzensgeld schon aufgrund seines Charakters keine einkommensgleiche Leistung sein kann, denn sonst wären § 11a Abs. 2 SGB II und § 83 Abs. 2 SGB XII unsinnig. Beide Paragraphen sind aber vom Gesetzgeber nicht einschränkend formuliert.

Dann definiert der 15. LSG-Senat das Schmerzensgeld als nicht höchstpersönliche Leistung:

„Soweit nach § 33 Abs. 1 S. 1 SGB II Ansprüche, die Bezieher von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit des Leistungsbezuges gegen einen Anderen haben, der nicht Leistungsträger ist, auf die Träger der Leistungen nach dem SGB II übergehen, wenn bei rechtzeitiger Leistung des Anderen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nicht erbracht worden wären, schränkt die Gesetzesfassung die hiervon erfassten Ansprüche ihrer Art nach nicht ein. … Soweit gleichwohl angenommen wird (…), dass ein Schmerzensgeldanspruch nicht übergehen könne und dies als Hinweis darauf zu verstehen sein mag, dass alle höchstpersönlichen Ansprüche von der Anwendung des § 33 Abs. 1 S. 1 SGB II ausgenommen sind (…), spielt dieser Gesichtspunkt für die Übergangsfähigkeit eines Entschädigungsanspruchs nach § 198 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 S. 1 und 3 GVG keine Rolle, weil es sich bei ihm nicht um einen höchstpersönlichen Anspruch handelt. Unbeschadet der gesetzlichen Beschränkungen in § 198 Abs. 5 S. 3 GVG ist nämlich der Entschädigungsanspruch jederzeit vererblich und nach einer gerichtlichen Zuerkennung auch sonst unbeschränkt übertragbar, d.h. auch einer entgeltlichen Veräußerung zugänglich (…). Der nur zeitweilige gesetzliche Ausschluss seiner Übertragbarkeit bis zur gerichtlichen Zuerkennung schließt die Übergangsfähigkeit schon deshalb nicht aus, weil nach ausdrücklicher Bestimmung in § 33 Abs. 1 S. 3 SGB II der Übergang eines Anspruchs gerade nicht dadurch ausgeschlossen wird, dass er nicht übertragen, verpfändet oder gepfändet werden kann.“ [19]

Nur weil es möglich ist, Schmerzensgeld zu vererben oder damit frei verfügbar umzugehen, ist es nicht nicht höchstpersönlich. Zunächst ist der immaterielle Schaden – im „Hartz IV“-Bezug resultierend aus der Existenzgefährdung bei längerem Vorenthalten der Leistung – selbstredend gegeben. Entgangene Lebensfreude kann nur etwas Höchstpersönliches sein. Dies kann auch nicht negiert werden, indem – wie es der 15. LSG-Senat tut und sich damit mit dem Charakter von Schmerzensgeld gar nicht auseinandersetzt – das „Pferd von hinten aufgezäumt wird“. Es gehört gerade zum Ausgleich für entgangene Lebensfreude, daß Empfänger von Schmerzensgeld hierüber frei verfügen können und sei es, daß die betreffende Person ihr Leiden durch einen „Komsumkoller“ ausgleichend befriedigt.

Offensichtlich selbst ahnend, auf welch wackeligen Füßen die Rechtsargumentation des 15. LSG-Senats steht, greift dieser dann zur „Keule“: der Entschädigungsanspruch nach § 198 GVG sei kein Schmerzensgeld i.S.v. § 253 Abs. 2 BGB, sondern Entschädigung für die Verletzung des Justizgewährleistungsanspruchs (§ 19 Abs. 4 GG, Art. 6 Abs. 1 EMRK):

„Bei dem vorliegend streitbefangenen Entschädigungsanspruch nach § 198 Abs. 1 GVG handelt es sich demgegenüber auch insoweit, als er der Entschädigung des durch eine überlange Verfahrensdauer verursachten immateriellen Schadens gilt, nicht um einen seiner Art nach von § 253 Abs. 2 BGB bzw. § 847 Abs. 1 BGB a.F. erfassten Anspruch; der Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer liegt weder eine Verletzung der nunmehr in § 253 Abs. 2 BGB abschließend aufgeführten Rechtsgüter Körper, Gesundheit, Freiheit und sexuelle Selbstbestimmung noch eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zugrunde (…). Ihre Grundlage ist vielmehr eine Verletzung des Justizgewährleistungsanspruchs aus Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 GG bzw. aus Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 EMRK.“ [20].

Wollte man so argumentieren, dann wäre die BSG-Entscheidung, welche selbst einer juristischen Person immatieriellen Schaden zugesteht [21], schlicht nicht möglich.

Mit einer weiteren Entscheidung [16] untermauert der 15. LSG-Senat seine ständige Rechtsprechung nur. Die Aussagen zum Entschädigungsrecht sind die gleichen [22]. Lediglich Randnummer 29 ist neu und setzt sich scheinbar mit der entgegengesetzten Position des ebenfalls für das Entschädigungsrecht zuständigen 10. Senats des LSG Niedersachsen-Bremen auseinander:

„Dem diesbezüglich eine andere Ansicht zumindest in Erwägung ziehenden 10. Senat des LSG Niedersachsen-Bremen (Beschluss vom 28. April 2016 - L 10 SF 22/15 EK AS …), der den Zweck der Geldentschädigung nach § 198 GVG auf eine vom Gesetzgeber beabsichtigte Wiederherstellung der durch das überlange Verfahren beeinträchtigten Lebensqualität reduziert, daher eine zweckbestimmte Leistung i.S. von § 11 a Abs. 3 S. 1 SGB II bejaht und im Weiteren eine Zweckidentität der Entschädigung mit unterhaltssichernden Leistungen nach dem SGB II ‚eher’ verneint, folgt der erkennende Senat nicht.“ [23].

Da sich der 15. LSG-Senat nicht mit dem eigentlichen Kernproblem auseinandersetzt, lohnt auch an dieser Stelle kein weiteres Eingehen auf die nur noch als abstrus zu bezeichnende Rechtsprechung des 15. LSG-Senats. Daß der 15. LSG-Senat dabei Verfassungsrecht mißachtet [24] und trotz widerstreitender obergerichtlicher Rechtsprechung die Revision zum BSG nicht zuläßt [25] [26], erscheint nur logisch im Angesicht der Perfidie seiner Rechtsprechung. Es sei noch erwähnt, daß dieser 15. LSG-Senat für Entschädigungsklagen bezüglich überlanger Verfahren vor dem LSG Niedersachsen-Bremen und für SGB II-Verfahren betreffend das SG Bremen und SG Osnabrück zuständig ist [27]. Da erscheint die Schlußbemerkung

„Der Senat sieht im Übrigen Veranlassung zu der Bemerkung, dass er es durchaus für sachgerecht hält, den Anspruch auf Geldentschädigung nach § 198 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 S. 1 und 3 GVG von der Anrechnung als Einkommen im Sinne des § 11 Abs. 1 SGB II auszunehmen. … Um den Anspruch auf Entschädigung immaterieller Nachteile einer überlangen Dauer von Gerichtsverfahren von der Einkommensanrechnung auszunehmen, bedarf es indessen eines konstitutiven Tätigwerdens des Gesetz- oder Verordnungsgebers.“ [28]

lediglich als zynische Zugabe.

 


Fußnoten:

  [1] BVerwG, Urteil vom 11. Juli 2013, Az.: BVerwG 5 C 23.12 D, Rdnr. 27

  [2] = [1], Rdnr. 28

  [3] BVerwG, Urteil vom 27. Februar 2014, Az.: BVerwG 5 C 1.13 D, Rdnr. 31

  [4] = [3], Rdnr. 27

  [5] BGH, Urteile vom 13. März 2014, Az.: III ZR 91/13, Rdnrn. 25-35; vom 23. Januar 2014, Az.: III ZR 37/13, Rdnr. 39

  [6] BGH, Urteil vom 10. April 2014, Az.: III ZR 335/13, Rdnr. 38

  [7] BTDrs. 18/2950, S. 34, Punkt 15

  [8] BFH, Urteile vom 19. März 2014, Az.: X K 3/13, Rdnrn. 17, 25, 27 und Az.: X K 8/13, Rdnrn. 17, 32

  [9] BFH, Urteile vom 19. März 2014, Az.: X K 3/13, Rdnr. 30 und Az.: X K 8/13, Rdnr. 18

[10] BFH, Urteil vom 2. Dezember 2015, Az.: X K 7/14, Rdnr. 25

[11] BSG, Urteile vom 3. September 2014, Az.: B 10 ÜG 12/13 R, Rdnr. 54 und Az.: B 10 ÜG 2/13 R, Rdnr. 46

[12] BSG, Urteil vom 12. Februar 2015, Az.: B 10 ÜG 7/14 R, Rdnr. 38

[13] BSG, Urteil vom 12. Februar 2015, Az.: B 10 ÜG 1/13 R, Rdnr. 32

[14] BSG, Urteil vom 3. September 2014, Az.: B 10 ÜG 12/13 R, Rdnr. 57

[15] LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 22. September 2016, Az.: L 15 SF 21/15 EK AS

[16] LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 27. April 2017, Az.: L 15 SF 18/16 EK AS

[17] = [15], Rdnr. 18

[18] = [15], Rdnr. 27

[19] = [15], Rdnr. 19

[20] = [15], Rdnr. 24

[21] BSG, Urteil vom 12. Februar 2015, Az.: B 10 ÜG 1/13 R, Rdnrn. 35-37

[22] Es entsprechen die Rdnrn. 19-26 aus [16] den Rdnrn. 18-25 aus [15], die Rdnrn. 27 u. 28 entsprechen der Rdnr. 26, die Rdnrn. 30 u. 31 entsprechen den Rdnrn. 27 u. 28, Rdnr. 34 entspricht Rdnr. 33 und Rdnr. 36 entspricht Rdnr. 35.

[23] = [16], Rdnr. 29

[24] BVerfG, Kammerbeschluß vom 4. Juli 2017, Az.: 2 BvR 2157/15, Rdnr. 16: „Grundsätzliche Bedeutung … kommt einer Sache zu, wenn sie eine entscheidungserhebliche, klärungsbedürftige und klärungsfähige Rechtsfrage aufwirft, die sich in einer unbestimmten Vielzahl weiterer Fälle stellen kann und deshalb das abstrakte Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Fortentwicklung und Handhabung des Rechts berührt. Klärungsbedürftig sind solche Rechtsfragen, deren Beantwortung zweifelhaft ist oder zu denen unterschiedliche Auffassungen vertreten werden oder die noch nicht oder nicht hinreichend höchstrichterlich geklärt sind (…).“ – Zur Revisionszulassungspflicht bei unterschiedlichen obergerichtlichen Entscheidungen zum selben Sachverhalt: BVerfG, Kammerbeschluß vom 7. September 2015, Az.: 1 BvR 1863/12 (Verletzung des Rechts aus Art. 101 Abs. 1 GG).

[25] = [15], Rdnr. 35

[26] = [16], Rdnr. 36

[27] http://www.landessozialgericht.niedersachsen.de/landessozialgericht/geschaeftsverteilungsplan_lsg/geschaeftsverteilungsplan-des-lsg-65311.html

[28] = [15], Rdnr. 33

 

 

 

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