Entschädigungsrecht oder eine zunehmend durchgeknallte
Rechtsprechung
(16. September 2017)
Aktualisierung: Hinsichtlich der hier behandelten Rechtsprechung des 15. Senats des LSG Niedersachsen-Bremen (zweite Artikelhälfte) hat sich etwas geändert. Mit dem Geschäftsverteilungsplan des LSG Niedersachsen-Bremen vom 1. Mai 2019 ist der 15. Senat nicht mehr für Entschädigungsklagen zuständig, sondern nunmehr an dessen Stelle der 13. LSG-Senat, neben dem 10. Senat, welcher die Rechtsauffassung des 15. Senats mehrfach kritisiert hatte. Damit dürfte die bundesweit einmalige "durchgeknallte Rechtsprechung" des 15. Senats des LSG Niedersachsen-Bremen ihr Ende gefunden haben. (Herbert Masslau, 28. Mai 2019)
Es gibt keine einheitliche Rechtsprechung hinsichtlich des
Entschädigungsrechtes wegen überlanger Gerichtsverfahrensdauer (§§ 198 ff. GVG).
Selbst die höchstrichterliche fachgerichtliche Rechtsprechung
ist nicht einheitlich:
So kennt das Entschädigungsgesetz (§ 198 ff. GVG) weder die
„Zwölf-Monate-Regel“ des BSG noch irgendeine andere vergleichbare Regelung.
Hier hat sich insbesondere das BSG die Rolle des Gesetzgebers angemaßt.
Die anderen höchsten Bundesgerichte vertreten auch keine
einheitliche Rechtsauffassung hierzu:
Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) vertritt
– wie das Gesetz – ausschließlich die Position der Einzelfallbetrachtung
anhand der Kriterien des § 198 Abs. 1 GVG (Schwierigkeit des Verfahrens,
Verhalten der Verfahrensbeteiligten, Bedeutung der Sache für den Kläger/die
Klägerin). Eine Regelung, wonach zusätzlich zu den Zeiten der
Verfahrensförderung dem Gericht je Instanz eine starre Zeitvorgabe für
Untätigkeit zugestanden wird, vertritt das BVerwG nicht: „Ein entsprechender
Rechtssatz lässt sich aus § 198 Abs. 1 GVG nicht ableiten. Mit dieser
Bestimmung ist weder die Zugrundelegung fester Zeitvorgaben vereinbar ((1)),
noch lässt es die Vorschrift grundsätzlich zu, für die Beurteilung der Angemessenheit
von bestimmten Orientierungswerten oder Regelfristen für die Laufzeit
verwaltungsgerichtlicher Verfahren auszugehen ((2)). Dies gilt gerade auch für
die vom Oberverwaltungsgericht angenommene Zwei-Jahresfrist ab Entscheidungsreife
((3)).“ [1]. „Mit der gesetzlichen Festlegung, dass sich die
Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen des Einzelfalles richtet
(§ 198 Abs. 1 Satz 2 GVG), hat der Gesetzgeber bewusst von der Einführung
bestimmter Grenzwerte für die Dauer unterschiedlicher Verfahrenstypen
abgesehen. Die Ausrichtung auf den Einzelfall folgt nicht nur in deutlicher
Form aus dem Wortlaut des Gesetzes (‚Umstände des Einzelfalles’), sondern wird
durch seine Entstehungsgeschichte bestätigt und entspricht dem in den
Gesetzesmaterialien klar zum Ausdruck gebrachten Willen des Gesetzgebers (vgl.
BTDrucks 17/3802 S. 18).“ [2] Das BVerwG hat daher in einem Verfahren
festgelegt: „Dem Verwaltungsgericht ist im konkreten Fall für seine
Entscheidung mit Rücksicht auf den gerichtlichen Spielraum bei der
Verfahrensgestaltung ein Zeitraum von acht Monaten ab Entscheidungsreife
zuzugestehen. Bei der Bemessung dieses Zeitraums ist in Anwendung des dar-gelegten
rechtlichen Maßstabes zunächst zu berücksichtigen, dass es sich bei dem
erstinstanzlichen Verfahren um ein Hauptsacheverfahren gehandelt hat. Zudem ist
über die Klage aufgrund mündlicher Verhandlung zu entscheiden gewesen (vgl. §
101 Abs. 1 VwGO).“ [3] Und: „Im vorliegenden Einzelfall erscheint es
angemessen, dem Oberverwaltungsgericht für das konkrete
Berufungszulassungsverfahren ab Entscheidungsreife einen Zeitraum von fünf
Monaten für seine Entscheidung über den Zulassungsantrag zuzugestehen ... .“ [4]
Damit wird deutlich, daß es dem BVerwG nicht wie dem BSG um starre Pauschalzeiträume
gerichtlichen Untätigseins geht, sondern ausschließlich, wie es auch im Gesetz
formuliert ist, um die Entscheidung anhand des Einzelfalles.
Der Bundesgerichtshof (BGH) geht auch von der Einzelfallbetrachtung
aus. Eine Bearbeitungs- und Vorbereitungszeit sei dem Gericht zwar
zuzugestehen, diese richte sich aber ebenfalls am Einzelfall aus; es gäbe keine
starren Fristen [5]. „Es ist unabdingbar, die einzelfallbezogenen Gründe zu
untersuchen, auf denen die Dauer des Verfahrens beruht, und diese im Rahmen
einer abschließenden Gesamtabwägung umfassend zu würdigen und zu gewichten
(Senatsurteil vom 5. Dezember 2013 - III ZR 73/13, NJW 2014, 789 Rn. 40 f).“ [6]
Die Arbeitsgerichtsbarkeit bleibt bei dieser
Betrachtung außen vor, da das ArbGG selbst beschleunigende Rechtsbehelfe
vorsieht: „Das Arbeitsgerichtsgesetz hält zahlreiche Bestimmungen vor, die
einen effektiven und zeitnahen Rechtsschutz sicherstellen sollen (z. B. das
allgemeine Beschleunigungsgebot des § 9 Absatz 1 ArbGG und die besondere
Prozessförderung in Kündigungsverfahren nach § 61 a ArbGG).“ [7].
Der Bundesfinanzhof (BFH) geht zunächst generell von
einer Vorbereitungszeit von zwei Jahren aus, in denen das Gericht nicht
tätig sein muß [8], was offensichtlich seinen Hintergrund darin hat, daß die
Finanzgerichtsbarkeit gleich mit dem Obergericht auf Bundeslandebene als 1.
Instanz anfängt, also eine Instanz wegfällt. Allerdings schränkt der BFH diese
„Zwei-Jahre-Regel“ ein: sie gilt nicht im Einzelfall und schon gar nicht in
Verfahren, wo es um der Existenzsicherung dienende Leistungen geht [9]. „Zudem
hat der erkennende Senat ebenfalls immer betont, dass die Vermutungsregel von
zwei Jahren nicht gilt, wenn der Verfahrensbeteiligte rechtzeitig und in
nachvollziehbarer Weise auf Umstände hinweist, aus denen eine besondere
Eilbedürftigkeit des Verfahrens folgt.“ [10].
Das Bundessozialgericht (BSG) geht generell von einer
Vorbereitungs- und Bedenkzeit von 12 Monaten je Instanz aus [11].
Diese Auffassung widerspricht nicht nur der Auffassung des
BVerwG und des BGH, sondern in seiner starren Anwendung auch und gerade bei
„Hartz IV“-Verfahren, wo es um existenzsichernde Leistungen geht, dem BFH. Zwar
kennt auch das BSG den Fall der Reduzierung der „Zwölf-Monate-Regel“ – „Eine
Vorbereitungs- und Überlegungsfrist von vollen 12 Monaten je Instanz hat der
Senat lediglich für den Regelfall sozialgerichtlicher Verfahren angenommen,
wenn nicht besondere Umstände des Einzelfalls, vor allem mit Blick auf die
Kriterien des § 198 Abs 1 S 2 GVG, für eine kürzere Frist sprechen (vgl Senat
Urteil vom 3.9.2014 – B 10 ÜG 2/13 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 3 RdNr 45 ff).
Aufgrund solcher von ihm festgestellten besonderen Einzelfallumstände hat das
LSG die Zwölfmonatsfrist daher im Ergebnis zu Recht nur zu einem Viertel
ausgeschöpft.“ [12] –, das BSG schließt es nicht einmal aus, daß „gar
keine Vorbereitungs- und Bedenkzeit anzusetzen ist“ [13], wenn das
zweitinstanzliche Verfahren im Hinblick auf die bereits erstinstanzlich
eingetretene Verfahrensverzögerung besonders zu fördern ist; gleichwohl hat das
BSG – soweit dem Autor bekannt – bisher nur diesbezügliche obergerichtliche
Entscheidungen akzeptiert, selbst aber bisher in keinem Verfahren dieses aktiv
ausgeurteilt, sondern weiterhin an seiner starren „Zwölf-Monate-Regel“
festgehalten.
Hinzu kommt beim BSG die insbesondere von ihm entwickelte
Rechtsprechung, das Einreichen von Schriftsätzen je mit einem Monat der
Verfahrensförderung durch das Gericht gleichzusetzen. So entschied das BSG: „Sofern
der Kläger also während Phasen der Inaktivität des SG selbst durch das
Einreichen von Schriftsätzen eine Bearbeitung des Vorganges durch das Gericht
bewirkt hat, liegt keine inaktive Zeit der Verfahrensführung durch das SG vor
und damit keine überlange Verfahrensdauer. Insoweit geht der Senat davon aus,
dass eingereichte Schriftsätze, die einen gewissen Umfang haben und sich
inhaltlich mit Fragen des Verfahrens befassen, generell eine Überlegungs- und
Bearbeitungszeit beim Gericht bewirken, die mit einem Monat zu Buche schlägt.“
[14] Was ist „ein gewisser Umfang“ bei Schriftsätzen? Und heißt das, daß mit
jedem Schriftsatz außer der Klageschrift und einem ersten Antwortschriftsatz
auf die Replik des Beklagten dem SG, LSG ein weiterer Monat Verfahrensdauer
zuzugestehen ist? Und welche Art von Schriftsätzen zählen dazu? Durch dieses völlig diffuse Konstrukt gibt das
BSG den in EK-Verfahren zuständigen LSG ein Instrument purer Willkür an die
Hand.
Innerhalb der obergerichtlichen Rechtsprechung zeichnet sich
eine Tendenz ab, die der Autor schon hier beschrieben hat, nämlich die,
daß Ärzte Entschädigung zugesprochen bekommen, während „Hartz
IV“-Empfängerinnen und -Empfängern selbige verweigert wird.
Den Vogel abgeschossen hat aber der 15. Senat des LSG
Niedersachsen-Bremen [15] [16]. Laut diesem steht „Hartz IV“-Empfängerinnen und
-Empfängern eine Entschädigung wegen überlanger Gerichtsverfahren nicht zu,
weil diese keine Aktivlegitimation für die Entschädigungsklagen besäßen, weil
nämlich der Entschädigungsanspruch gemäß § 33 SGB II auf die
Grundsicherungsträger überginge. – Pause und sacken lassen –
Im Raume steht nicht weniger als die Frage der
Aktivlegitimation eines Klägers bzw. einer Klägerin:
„Gleichwohl stellt sich zur Überzeugung des Senats die
Klage als unbegründet dar, weil davon auszugehen ist, dass der Kläger nicht
mehr selbst der Inhaber eines etwaigen, auf § 198 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 S. 1 und
3 GVG beruhenden Anspruchs auf pauschalierte Entschädigung der von einer
überlangen Verfahrensdauer in ihrer Person verursachten immateriellen Nachteile
ist. Ein solcher Anspruch ist für den Fall seines Bestehens nach § 33 Abs. 1 S.
1 SGB II auf das Jobcenter X. übergegangen, weil dieses als zuständiger Träger
von SGB II-Leistungen dem Kläger in dem o.g. Entschädigungszeitraum laufende
unterhaltssichernde Leistungen in erheblichem Umfang gewährt hat.“ [17]
Würde der Rechtsauffassung des 15. LSG-Senats gefolgt, dann
würde jedwede Geldentschädigung für immateriellen Schaden nicht unter § 11a
Abs. 2 SGB II i.V.m. § 253 Abs. 2 BGB fallen, sondern gemäß §§ 11, 33 SGB II
als Einkommen qua lege, d.h. automatisch, auf den Grundsicherungsträger
übergeleitet werden. Der 15. LSG-Senat übersieht dabei, daß zumindest im
Strafrecht seelische Grausamkeit unter dem Oberbegriff Körperverletzung (§ 223
StGB) fällt und damit das Kriterium Körperverletzung i.S.v. § 253 Abs. 2 BGB
erfüllt wäre.
Um § 33 SGB II ins Spiel bringen zu können, definiert der
15. LSG-Senat [17] die der Existenzsicherung dienende Sozialhilfe gleiche
Leistung nach SGB II in eine „unterhaltssichernde Leistung[en]“ um, ohne
dabei sich mit dem Unterhaltsbegriff aus dem Unterhaltsrecht vergleichend
auseinanderzusetzen. Dabei ist schon allein wegen der Übernahme der
„angemessenen“ Unterkunftskosten gemäß § 22 SGB II eine Gleichsetzung nicht
erlaubt.
Ganz absurd wird es, wenn der 15. LSG-Senat argumentiert,
eine rechtzeitige Erbringung der Entschädigungsleistung hätte die Erbringung
von unterhaltssichernden Leistungen des Grundsicherungsträgers erübrigt:
„Auf dieser Grundlage ist im vorliegenden Verfahren auch
in tatsächlicher Hinsicht davon auszugehen, dass die rechtzeitige Erfüllung
eines hypothetischen Anspruchs des Klägers auf Geldentschädigung die Erbringung
unterhaltssichernder Leistungen durch das Jobcenter X. in den einzelnen
Entschädigungsmonaten erübrigt hätte (§ 33 Abs. 1 S. 1 SGB II). Soweit dies die
Gleichzeitigkeit des Entschädigungsanspruchs und der vom Jobcenter erbrachten
Leistungen voraussetzt (…) , ist ein Anspruch auf Entschädigung in Geld (…)
bereits jeweils mit der Erfüllung der gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen
entstanden und fällig geworden (…)… . Jeweils mit der Entstehung ist der
Entschädigungsanspruch sogleich auf das Jobcenter übergegangen (…). Ansprüche
für die Vergangenheit sind dabei wegen der Zeitgleichheit von
Anspruchsentstehung und -übergang nicht betroffen gewesen, so dass es für den
Eintritt der Legalzession einer vorherigen Mitteilung über die
Leistungserbringung durch das Jobcenter, von der nach § 33 Abs. 3 S. 1 SGB II
lediglich der Übergang von Ansprüchen für die Vergangenheit abhängt, nicht
bedurft hat.“ [18].
Dies ist schon deswegen schlicht Unsinn, weil eine überlange
Verfahrensdauer nicht von Anfang an feststeht, sondern sich erst über die
Zeitschiene entwickelt, woraus sich ja der schmerzensgeldrelevante Leidensdruck
beim Hilfebedürftigen erst ergibt. Weder handelt es sich bei den
Entschädigungsansprüchen um unterhaltsrechtliche Leistungen i.S.v. § 33 Abs. 2
ff. SGB II noch um Leistungen Dritter, wobei Schmerzensgeld schon aufgrund
seines Charakters keine einkommensgleiche Leistung sein kann, denn sonst wären
§ 11a Abs. 2 SGB II und § 83 Abs. 2 SGB XII unsinnig. Beide Paragraphen sind
aber vom Gesetzgeber nicht einschränkend formuliert.
Dann definiert der 15. LSG-Senat das Schmerzensgeld als nicht
höchstpersönliche Leistung:
„Soweit nach § 33 Abs. 1 S. 1 SGB II Ansprüche, die
Bezieher von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit des
Leistungsbezuges gegen einen Anderen haben, der nicht Leistungsträger ist, auf
die Träger der Leistungen nach dem SGB II übergehen, wenn bei rechtzeitiger
Leistung des Anderen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nicht
erbracht worden wären, schränkt die Gesetzesfassung die hiervon erfassten
Ansprüche ihrer Art nach nicht ein. … Soweit gleichwohl angenommen wird (…),
dass ein Schmerzensgeldanspruch nicht übergehen könne und dies als Hinweis
darauf zu verstehen sein mag, dass alle höchstpersönlichen Ansprüche von der
Anwendung des § 33 Abs. 1 S. 1 SGB II ausgenommen sind (…), spielt dieser
Gesichtspunkt für die Übergangsfähigkeit eines Entschädigungsanspruchs nach §
198 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 S. 1 und 3 GVG keine Rolle, weil es sich bei ihm nicht
um einen höchstpersönlichen Anspruch handelt. Unbeschadet der gesetzlichen
Beschränkungen in § 198 Abs. 5 S. 3 GVG ist nämlich der Entschädigungsanspruch
jederzeit vererblich und nach einer gerichtlichen Zuerkennung auch sonst
unbeschränkt übertragbar, d.h. auch einer entgeltlichen Veräußerung zugänglich
(…). Der nur zeitweilige gesetzliche Ausschluss seiner Übertragbarkeit bis zur
gerichtlichen Zuerkennung schließt die Übergangsfähigkeit schon deshalb nicht
aus, weil nach ausdrücklicher Bestimmung in § 33 Abs. 1 S. 3 SGB II der
Übergang eines Anspruchs gerade nicht dadurch ausgeschlossen wird, dass er
nicht übertragen, verpfändet oder gepfändet werden kann.“ [19]
Nur weil es möglich ist, Schmerzensgeld zu vererben oder
damit frei verfügbar umzugehen, ist es nicht nicht höchstpersönlich. Zunächst
ist der immaterielle Schaden – im „Hartz IV“-Bezug resultierend aus der
Existenzgefährdung bei längerem Vorenthalten der Leistung – selbstredend
gegeben. Entgangene Lebensfreude kann nur etwas Höchstpersönliches sein. Dies
kann auch nicht negiert werden, indem – wie es der 15. LSG-Senat tut und sich
damit mit dem Charakter von Schmerzensgeld gar nicht auseinandersetzt – das
„Pferd von hinten aufgezäumt wird“. Es gehört gerade zum Ausgleich für
entgangene Lebensfreude, daß Empfänger von Schmerzensgeld hierüber frei
verfügen können und sei es, daß die betreffende Person ihr Leiden durch einen
„Komsumkoller“ ausgleichend befriedigt.
Offensichtlich selbst ahnend, auf welch wackeligen Füßen die
Rechtsargumentation des 15. LSG-Senats steht, greift dieser dann zur „Keule“:
der Entschädigungsanspruch nach § 198 GVG sei kein Schmerzensgeld i.S.v. § 253
Abs. 2 BGB, sondern Entschädigung für die Verletzung des
Justizgewährleistungsanspruchs (§ 19 Abs. 4 GG, Art. 6 Abs. 1 EMRK):
„Bei dem vorliegend streitbefangenen
Entschädigungsanspruch nach § 198 Abs. 1 GVG handelt es sich demgegenüber auch
insoweit, als er der Entschädigung des durch eine überlange Verfahrensdauer
verursachten immateriellen Schadens gilt, nicht um einen seiner Art nach von §
253 Abs. 2 BGB bzw. § 847 Abs. 1 BGB a.F. erfassten Anspruch; der Entschädigung
wegen überlanger Verfahrensdauer liegt weder eine Verletzung der nunmehr in §
253 Abs. 2 BGB abschließend aufgeführten Rechtsgüter Körper, Gesundheit,
Freiheit und sexuelle Selbstbestimmung noch eine Verletzung des allgemeinen
Persönlichkeitsrechts zugrunde (…). Ihre Grundlage ist vielmehr eine Verletzung
des Justizgewährleistungsanspruchs aus Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 GG
bzw. aus Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 EMRK.“ [20].
Wollte man so argumentieren, dann wäre die BSG-Entscheidung,
welche selbst einer juristischen Person immatieriellen Schaden zugesteht [21],
schlicht nicht möglich.
Mit einer weiteren Entscheidung [16] untermauert der 15.
LSG-Senat seine ständige Rechtsprechung nur. Die Aussagen zum
Entschädigungsrecht sind die gleichen [22]. Lediglich Randnummer 29 ist neu und
setzt sich scheinbar mit der entgegengesetzten Position des ebenfalls für das
Entschädigungsrecht zuständigen 10. Senats des LSG Niedersachsen-Bremen
auseinander:
„Dem diesbezüglich eine andere Ansicht zumindest in
Erwägung ziehenden 10. Senat des LSG Niedersachsen-Bremen (Beschluss vom 28.
April 2016 - L 10 SF 22/15 EK AS …), der den Zweck der Geldentschädigung nach §
198 GVG auf eine vom Gesetzgeber beabsichtigte Wiederherstellung der durch das
überlange Verfahren beeinträchtigten Lebensqualität reduziert, daher eine
zweckbestimmte Leistung i.S. von § 11 a Abs. 3 S. 1 SGB II bejaht und im
Weiteren eine Zweckidentität der Entschädigung mit unterhaltssichernden
Leistungen nach dem SGB II ‚eher’ verneint, folgt der erkennende Senat nicht.“
[23].
Da sich der 15. LSG-Senat nicht mit dem eigentlichen
Kernproblem auseinandersetzt, lohnt auch an dieser Stelle kein weiteres
Eingehen auf die nur noch als abstrus zu bezeichnende Rechtsprechung des 15.
LSG-Senats. Daß der 15. LSG-Senat dabei Verfassungsrecht mißachtet [24] und
trotz widerstreitender obergerichtlicher Rechtsprechung die Revision zum BSG
nicht zuläßt [25] [26], erscheint nur logisch im Angesicht der Perfidie seiner
Rechtsprechung. Es sei noch erwähnt, daß dieser 15. LSG-Senat für
Entschädigungsklagen bezüglich überlanger Verfahren vor dem LSG
Niedersachsen-Bremen und für SGB II-Verfahren betreffend das SG Bremen und SG
Osnabrück zuständig ist [27]. Da erscheint die Schlußbemerkung
„Der Senat sieht im Übrigen Veranlassung zu der
Bemerkung, dass er es durchaus für sachgerecht hält, den Anspruch auf
Geldentschädigung nach § 198 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 S. 1 und 3 GVG von der
Anrechnung als Einkommen im Sinne des § 11 Abs. 1 SGB II auszunehmen. … Um den
Anspruch auf Entschädigung immaterieller Nachteile einer überlangen Dauer von
Gerichtsverfahren von der Einkommensanrechnung auszunehmen, bedarf es indessen
eines konstitutiven Tätigwerdens des Gesetz- oder Verordnungsgebers.“ [28]
lediglich als zynische Zugabe.
Fußnoten:
[1] BVerwG, Urteil vom 11. Juli 2013, Az.:
BVerwG 5 C 23.12 D, Rdnr. 27
[2] = [1], Rdnr. 28
[3] BVerwG, Urteil vom 27. Februar 2014, Az.:
BVerwG 5 C 1.13 D, Rdnr. 31
[4] = [3], Rdnr. 27
[5] BGH, Urteile vom 13. März 2014, Az.: III
ZR 91/13, Rdnrn. 25-35; vom 23. Januar 2014, Az.: III ZR 37/13, Rdnr. 39
[6] BGH, Urteil vom 10. April 2014, Az.: III
ZR 335/13, Rdnr. 38
[7] BTDrs. 18/2950, S. 34, Punkt 15
[8] BFH, Urteile vom 19. März 2014, Az.: X K
3/13, Rdnrn. 17, 25, 27 und Az.: X K 8/13, Rdnrn. 17, 32
[9] BFH, Urteile vom 19. März 2014, Az.: X K 3/13,
Rdnr. 30 und Az.: X K 8/13, Rdnr. 18
[10] BFH, Urteil vom 2.
Dezember 2015, Az.: X K 7/14, Rdnr. 25
[11] BSG, Urteile vom 3.
September 2014, Az.: B 10 ÜG 12/13 R, Rdnr. 54 und Az.: B 10 ÜG 2/13 R, Rdnr.
46
[12] BSG, Urteil vom 12.
Februar 2015, Az.: B 10 ÜG 7/14 R, Rdnr. 38
[13] BSG, Urteil vom 12.
Februar 2015, Az.: B 10 ÜG 1/13 R, Rdnr. 32
[14] BSG, Urteil vom 3.
September 2014, Az.: B 10 ÜG 12/13 R, Rdnr. 57
[15] LSG
Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 22. September 2016, Az.: L 15 SF 21/15 EK AS
[16] LSG
Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 27. April 2017, Az.: L 15 SF 18/16 EK AS
[17] = [15], Rdnr. 18
[18] = [15], Rdnr. 27
[19] = [15], Rdnr. 19
[20] = [15], Rdnr. 24
[21] BSG, Urteil vom 12.
Februar 2015, Az.: B 10 ÜG 1/13 R, Rdnrn. 35-37
[22] Es entsprechen die
Rdnrn. 19-26 aus [16] den Rdnrn. 18-25 aus [15], die Rdnrn. 27 u. 28
entsprechen der Rdnr. 26, die Rdnrn. 30 u. 31 entsprechen den Rdnrn. 27 u. 28,
Rdnr. 34 entspricht Rdnr. 33 und Rdnr. 36 entspricht Rdnr. 35.
[23] = [16], Rdnr. 29
[24] BVerfG, Kammerbeschluß
vom 4. Juli 2017, Az.: 2 BvR 2157/15, Rdnr. 16: „Grundsätzliche Bedeutung …
kommt einer Sache zu, wenn sie eine entscheidungserhebliche, klärungsbedürftige
und klärungsfähige Rechtsfrage aufwirft, die sich in einer unbestimmten
Vielzahl weiterer Fälle stellen kann und deshalb das abstrakte Interesse der
Allgemeinheit an der einheitlichen Fortentwicklung und Handhabung des Rechts
berührt. Klärungsbedürftig sind solche Rechtsfragen, deren Beantwortung
zweifelhaft ist oder zu denen unterschiedliche Auffassungen vertreten werden
oder die noch nicht oder nicht hinreichend höchstrichterlich geklärt sind (…).“
– Zur Revisionszulassungspflicht bei unterschiedlichen obergerichtlichen
Entscheidungen zum selben Sachverhalt: BVerfG, Kammerbeschluß vom 7. September
2015, Az.: 1 BvR 1863/12 (Verletzung des Rechts aus Art. 101 Abs. 1 GG).