Wer in der Sozialberatung tätig ist, hört immer wieder von Anträgen, die schon seit Monaten trotz Nachfragens und Hinweis auf die Bedürftigkeit nicht beschieden wurden, von Widersprüchen, die trotz mehrmaligen Nachhakens auch nach einem Jahr noch nicht beschieden sind.
Wenn die Betroffenen sich dann mehr oder weniger verzweifelt nach vielen Monaten an Dritte um Rat wenden, stehen Sieger und Verlierer meistens eindeutig fest: Sieger sind die Behörden, die nicht gezahlt haben für Zeiten des Anspruchs, Verlierer sind die betroffenen bedürftigen Menschen, die ihren Anspruch nicht nur rückwirkend oft nicht mehr geltend machen können, sondern sich auch bei Anderen verschuldet haben, weil sie sich das zur Bedarfsdeckung notwendige Geld in Unkenntnis der brutalen rechtlichen Regelungen geliehen haben.
Aber das muß nicht so sein. Auch im Falle behördlicher Untätigkeit gibt es Rechtsansprüche.
Die seit dem 1. Januar 2005 geltende neue Rechtslage, wie sie sich in der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, der Einführung des Arbeitslosengeldes II und der Neugestaltung der Sozialhilfe darstellt, machte es notwendig, den vorliegenden Artikel entsprechend zu überarbeiten. Dabei wurde die Reihenfolge, erst Verwaltungsgerichtsverfahren, dann Sozialgerichtsverfahren, der Einfachheit halber beibehalten, auch wenn mit der Zuordnung der neuen Sozialhilfe zum sozialgerichtlichen Verfahren sich der Schwerpunkt weg von der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) hin zum Sozialgerichtsgesetz (SGG) verlagert hat.
Der verwaltungsgerichtliche Teil ist gleichwohl für Personen, die Arbeitslosengeld II (SGB II) oder Sozialhilfe (SGB XII) beziehen, hinsichtlich etwaiger Verfahren im Rahmen etwa der Wirtschaftlichen Jugendhilfe (§ 90 SGB VIII: Kostenübernahme Kita-Beiträge) dennoch durchaus von Belang; insbesondere auch für sogenannte Mischhaushalte (z.B. anspruchsberechtigte Familienmitglieder nach SGB II in Haushaltsgemeinschaft mit BAföG-Leistungen beziehenden Familienmitgliedern).
In die überarbeitete Fassung sind die entsprechenden Regelungen, soweit hier von Interesse, eingearbeitet, wie sie sich anhand der nachfolgend genannten Rechtsnormen ergeben:
– Viertes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24. Dezember 2003 [BGBl. I, 2003, Nr. 66, S. 2954 ff.]
– Gesetz zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch vom 27. Dezember 2003 [BGBl. I, 2003, Nr. 67, S. 3022 ff.]
– Gesetz zur optionalen Trägerschaft von Kommunen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (Kommunales Optionsgesetz) vom 30. Juli 2004 [BGBl. I, 2004, Nr. 41, S. 2014 ff.]
– Siebtes Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes (7.SGGÄndG) vom 9. Dezember 2004 [BGBl. I, 2004, Nr. 66, S. 3302 ff.]
Allgemeines
Für gewöhnlich muß vor Erhebung einer Klage vor den Verwaltungsgerichten, zu denen die Sozialgerichtsbarkeit als spezielle Verwaltungsgerichtsbarkeit gehört, ein Vorverfahren mit Widerspruch und Widerspruchsbescheid durchlaufen werden.
Diese Regelung, die eigentlich der Verwaltung die Gelegenheit geben soll, eigene Entscheidungen zu korrigieren, um damit die Gerichte zu entlasten, wird schon immer von der staatlichen Verwaltung dazu benutzt, die betroffenen Bürgerinnen und Bürger im Verfahren hängen zu lassen. Dies verstieße ohne gesetzliche Gegenmaßnahme gegen den grundgesetzlich garantierten Anspruch auf den gesetzlichen Richter (Art. 19 Abs. 4 GG). Und darum hat der Gesetzgeber sowohl in der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit (Verwaltungsgerichtsordnung=VwGO) als auch in der speziellen Verwaltungsgerichtsbarkeit (Sozialgerichtsgesetz=SGG) in den Paragraphen 75 VwGO und 88 SGG die Möglichkeit der Klageerhebung v o r Abschluß des sonst verbindlichen Vorverfahrens vorgesehen.
Vor den Verwaltungsgerichten und vor den Sozialgerichten ist die hier maßgebliche erste Instanz ohne Anwaltszwang.
Hinsichtlich Jugendhilfe (SGB VIII) und BAföG werden gemäß § 188 VwGO [gilt nicht für Wohngeld] und hinsichtlich aller Leistungsempfängerinnen und -empfänger, also auch derjenigen des Arbeitslosengeldes I (SGB III), Arbeitslosengeldes II (SGB II) und der Sozialhilfe (SGB XII), gemäß § 183 SGG keine Gerichtskosten erhoben [bei Letzterem gibt es Bestrebungen, die Gerichtskostenfreiheit noch in 2005 aufzuheben]. Die Behörden vertreten sich, sofern kein komplizierter Fall vorliegt, in der Regel selber, so daß auch hier nicht mit Kosten für den Gegenanwalt gerechnet werden muß.
Formal-juristische Finessen sollen und können in diesem Artikel nicht behandelt werden. Diese Abhandlung soll vielmehr eine erste Handreichung sein.
Untätigkeit im Verwaltungsgerichtsverfahren
§ 75 VwGO (Klage bei Untätigkeit der Verwaltung)
Ist über einen Widerspruch oder über einen Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsaktes ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht entschieden worden, so ist die Klage abweichend von § 68 [=Vorverfahren,H.M.] zulässig. Die Klage kann nicht vor Ablauf von drei Monaten seit der Einlegung des Widerspruchs oder seit dem Antrag auf Vornahme des Verwaltungsaktes erhoben werden, außer wenn wegen besonderer Umstände des Falles eine kürzere Frist geboten ist. Liegt ein zureichender Grund dafür vor, daß über den Widerspruch noch nicht entschieden oder der beantragte Verwaltungsakt noch nicht erlassen ist, so setzt das Gericht das Verfahren bis zum Ablauf einer von ihm bestimmten Frist, die verlängert werden kann, aus. Wird dem Widerspruch innerhalb der vom Gericht gesetzten Frist stattgegeben oder der Verwaltungsakt innerhalb dieser Frist erlassen, so ist die Hauptsache für erledigt zu erklären.
Soweit der immer noch aktuelle Wortlaut des § 75 VwGO.
Untätigkeit
Wegen des verfassungsmäßig verbrieften Rechtes auf den gesetzlichen Richter (Artikel 19 Absatz 4 Grundgesetz), der die Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes zu überprüfen hat, erlaubt § 75 VwGO die Klageerhebung gegen die zuständige Behörde auch ohne Abschluß des ansonsten vorgeschriebenen Vorverfahrens. Die Betroffenen müssen also nicht jahrelang warten, sondern in der Regel drei Monate. Nach Ablauf dieser Drei-Monats-Frist ist die Klage in jedem Fall formal zulässig, kann also nicht wegen Nichteinhaltens von irgendwelchen Fristen als unzulässig abgeschmettert werden. Insofern bindet § 75 VwGO die Verwaltungsgerichte. Die Betroffenen sollten allerdings zumindest, wenn sie sich schon im Widerspruchsverfahren befinden, also bereits Widerspruch gegen einen Bescheid eingelegt haben, keine reine Untätigkeitsklage erheben (siehe unten „Hauptsache erledigt“). Im Falle des Antragsverfahrens, wenn also ein Antrag auf eine bestimmte Leistung gestellt worden ist, kann eine reine Untätigkeitsklage dann sinnvoll sein, wenn man/frau bisher noch keine Probleme mit der Behörde hatte oder noch nicht aufgrund gehäufter Erfahrung mit einer rechtswidrigen Ablehnung des Antrages rechnen muß.
Fristen
Eine beliebte Ausrede der Ämter für ihre Untätigkeit lautet, wegen Urlaubs sei nicht ausreichend Personal vorhanden gewesen. Dies gilt nicht. Laut Rechtsprechung muß eine staatliche Verwaltung funktionsfähig sein auch während und trotz Urlaubs. Auch die beliebte Ausrede, ein zu beteiligender Widerspruchsausschuß sogenannter sozial-erfahrener Personen habe noch nicht Stellung genommen, gilt nicht, zumal diese Widerspruchsausschüsse in der Regel mindestens einmal im Monat tagen. Eine Fristverlängerung (streng formal-juristisch: eine zusätzliche Frist unter Aussetzung des Klageverfahrens), die dann vom zuständigen Gericht festzusetzen ist, ist dort möglich, wo wegen der Kompelxität des Sachverhalts eine schnelle Sachaufklärung nicht möglich ist.
In der Regel können die Betroffenen wohl davon ausgehen, daß die behördlichen Argumente, sofern solche überhaupt vorgetragen werden, nicht zu denen gehören, die zu einer Fristsetzung seitens des Gerichtes führen, mithin also keine berechtigten Argumente für die verzögerte Bearbeitung sind.
Hauptsache erledigt
Dies Problem taucht hier außer bei voller Erfüllung der beantragten Leistung im Laufe der Klage nur bei einer sogenannten r e i n e n Untätigkeitsklage auf.
Dahinter verbirgt sich Folgendes: Wenn jemand eine reine Untätigkeitsklage führt, also die Klage auf Verurteilung der Behörde zum Erlaß des begehrten Widerspruchsbescheides oder des Bescheides über den Antrag, dann reagieren in der Regel die Behörden bei Bekanntwerden der Klageerhebung sofort mit Erlaß des Verwaltungsaktes (=Bescheid, Widerspruchsbescheid). Dadurch fällt der Klagegrund (Untätigkeit) weg, weil die Behörde ja jetzt tätig geworden ist. Der Kläger oder die Klägerin muß nun die Hauptsache für erledigt erklären, was einer Klagerücknahme gleich kommt, weil sonst das Gericht die Klage wegen des nun fehlenden Grundes abweisen muß.
Damit das Ganze nicht zu zusätzlichem monatelangen Leerlauf für die Betroffenen wird, besteht nun die Möglichkeit, mit der Erledigungserklärung die Klage als Verpflichtungsklage gegen den Bescheid/Widerspruchsbescheid weiterzuführen. Oder gleich mit Erhebung der Untätigkeitsklage die Verpflichtungsklage zu verbinden. Verpflichtungsklage meint, im Klageantrag reinzuschreiben, das Gericht möge die Behörde zum Erlaß eines rechtmäßigen Bescheides mit Leistung in rechtmäßiger Höhe verpflichten.
Im Falle der Untätigkeit bei Widersprüchen sollte bereits mit Klageerhebung nach § 75 VwGO die Verpflichtungsklage verbunden werden, um keine Zeit zu verlieren, weil wegen § 75 VwGO nach Ablauf der Drei-Monats-Frist die Klage in jedem Fall zulässig ist, also nicht wegen Nichteinhaltens von Fristen vom Gericht als unzulässig abgewiesen werden kann. Voraussetzung ist allerdings, daß der ursprüngliche Antrag entweder abgewiesen wurde oder aber die Höhe der gewährten Leistung nicht dem Rechtsanspruch entspricht (und man/frau aufgrund von Erfahrungen davon ausgehen kann, daß dem im Widerspruchsverfahren nicht abgeholfen wird, weil eine Krähe der anderen kein Auge aushackt, was fast immer der Fall ist, zumal die Ämter dadurch Geld sparen, weil noch weniger Leute klagen als Widerspruch erheben).
Untätigkeit im Sozialgerichtsverfahren
Wie das allgemeine Verwaltungsrecht (§ 75 VwGO) so kennt auch das spezielle Sozialrecht (§ 88 SGG) eine Regelung zum Schutze der betroffenen Bürgerinnen und Bürger. Die Regelung des § 88 SGG wurde nicht durch das 7.SGGÄndG [BGBl. I, 2004, Nr. 66, S. 3302 ff.] geändert.
§ 88 SGG (Untätigkeitsklage)
(1) Ist ein Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsaktes ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht beschieden worden, so ist die Klage nicht vor Ablauf von sechs Monaten seit dem Antrag auf Vornahme des Verwaltungsaktes zulässig. Liegt ein zureichender Grund dafür vor, daß der beantragte Verwaltungsakt noch nicht erlassen ist, so setzt das Gericht das Verfahren bis zum Ablauf einer von ihm bestimmten Frist aus, die verlängert werden kann. Wird innerhalb dieser Frist dem Antrag stattgegeben, so ist die Hauptsache für erledigt zu erklären.
(2) Das gleiche gilt, wenn über einen Widerspruch nicht entschieden worden ist, mit der Maßgabe, daß als angemessene Frist eine solche von drei Monaten gilt.
Untätigkeit
Diese Regelung ermöglicht es ohne abgeschlossenes Vorverfahren (=Antragsverfahren/ Widerspruchsverfahren) bei Überschreitung einer gewissenen Frist durch die Verwaltung trotzdem Klage vor dem Sozialgericht erheben zu können. Ansonsten gilt das Gleiche wie schon zu § 75 VwGO dargestellt.
Fristen
Dabei sah bis 2002 die Regelung des § 88 Abs. 2 SGG – entgegen der sonst üblichen Drei-Monats-Frist – in Widerspruchsverfahren „in Angelegenheiten der Krankenversicherung und der Bundesanstalt für Arbeit eine Frist von einem Monat“ vor. Diese Passage wurde durch das 6.SGGÄndG [BGBl I, 2001, Nr. 43, S.2144 ff.] mit Wirkung ab 2. Januar 2002 gestrichen, womit jetzt auch in Angelegenheiten der Krankenversicherung (SGB V) und in Angelegenheiten des SGB III, und seit dem 1. Januar 2005 auch des SGB II und SGB XII im Widerspruchsverfahren die Drei-Monats-Frist gilt.
Im Antragsverfahren (§ 88 Abs. 1 SGG) bleibt es bei einer Frist von sechs Monaten bevor Klage erhoben werden kann. Diese Regelung wurde nicht an das allgemeine Verwaltungsgerichtsverfahren angepaßt, wo laut § 75 VwGO auch für nicht bearbeitete Anträge die Drei-Monats-Frist gilt genau wie für nicht beschiedene Widersprüche.
Zwar könnte durchaus berechtigt die Ansicht vertreten werden, zwecks Vereinheitlichung von allgemeiner und spezieller Verwaltungsgerichtsbarkeit die Drei-Monats-Frist generell einzuführen, daß dies aber nicht von den regierenden Sozialraubrittern so gewollt ist, belegt eben die Beibehaltung der Einhaltung einer sechsmonatigen Frist bezogen auf Anträge, bevor der Gerichtsweg beschritten werden kann.
Und gerade dies hat Auswirkung auf etwas ganz Anderes, nämlich auf die Verzinsung nicht gezahlter Sozialleistungen gemäß § 44 SGB I. Dort heißt es in § 44 Abs. 2 SGB I: „Die Verzinsung beginnt frühestens nach Ablauf von sechs Kalendermonaten nach Eingang des vollständigen Leistungsantrags...“. Diese Frist müßte dann ebenfalls auf drei Monate verkürzt werden, was unter Umständen beim beliebten Hängenlassen der Antragsteller gerade seitens der staatlichen Sozialbürokratie zu höheren Zinszahlungen führen könnte.
Hauptsache erledigt
Im sozialgerichtlichen Verfahren gibt es Unterschiede zum meiner Meinung nach präziseren verwaltungsgerichtlichen Verfahren nach VwGO. So gilt im sozialgerichtlichen Verfahren die Untätigkeitsklage nach h.M. (=herrschende Meinung) als „echte“ (=reine) Untätigkeitsklage, die folglich mit Erlaß des Verwaltungsaktes, also dem Tätigwerden der Verwaltung, die Klage in Gänze erledigt. Gleichwohl kann die als Untätigkeitsklage begonnene Klage nach Erlaß des Verwaltungsaktes (Bescheid/Widerspruchsbescheid) im Falle einer negativen Entscheidung etwa als Verpflichtungsklage durch Klageänderungsantrag, dem das Gericht in der Regel wegen Sachdienlichkeit stattgeben wird, fortgesetzt werden. [Ich kenne allerdings aus eigener Anschauung ein Sozialgericht, dem man/frau schon mal die einschlägige Gesetzeskommentierung um die Ohren hauen muß. Nur Mut!]