Herbert Masslau

Alg II und Schulkosten – ein fortgesetzter Verfassungsverstoß

(14. Januar 2007)

 

 

Zunächst sei ausdrücklich darauf hingewiesen, daß es im Rahmen des SGB II keinen kindspezifischen Bedarf in der Regelleistung gibt, sondern es sich ausschließlich um eine prozentuale Bemessung anhand der Eckregelleistung (bis 14 Jahre: 60 Prozent, ab 14 Jahre: 80 Prozent) handelt. Insofern kann auch nicht die Rede davon sein, eine § 21 Abs. 1a Nr. 3 BSHG entsprechende Regelung zum Schulbedarf sei in der SGB II-Regelleistung enthalten. Auch den noch in § 12 Abs. 2 BSHG geregelten besonderen, „vor allem den durch ihre Entwicklung und ihr Heranwachsen bedingten Bedarf“ gibt es nicht mehr. Für die Kinder im schulpflichtigen Alter ist es nicht nur zu einer Reduzierung der Bedarfssätze von 65 % auf 60 % (unter 14 Jahre) und von 90 % auf 80 % (über 14 Jahre), sondern auch zu einer Reduzierung der Einmaligen Leistungen von 20 Prozent des Eckregelsatzes auf jetzt eingerechnete 16 Prozent gekommen.

Alg II-Empfängerinnen und -empfänger, insbesondere aber deren Sozialgeld beziehende Kinder, stehen heute nicht nur schlechter da als zu Zeiten der alten Sozialhilfe (BSHG) noch 2004, sondern sogar in vielen Bereichen schlechter da als heutige Empfängerinnen und Empfänger der neuen Sozialhilfe SGB XII.

Zum Weiteren muß der Zeitraum vor dem 1. August 2006, dem In-Kraft-Treten des sog. „Fortentwicklungsgesetzes“ [1], und die Zeit ab dem 1. August 2006 rechtlich unterschieden werden, denn mit der zusätzlichen Erläuterung § 3 Abs. 3 Satz 1 2. Halbsatz und Satz 2, die da lauten

„die nach diesem Buch vorgesehenen Leistungen decken den Bedarf der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen und der mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen. Eine davon abweichende Festlegung der Bedarfe ist ausgeschlossen“ [2]

hat der Gesetzgeber unmißverständlich zum Ausdruck gebracht, daß er keine Aufweitung einzelner Leistungen durch gerichtliche Entscheidungen will.

Oder um es unmißverständlich mit dem Sozialgericht Schleswig zu formulieren [3]:

„Das SGB II stellt keine entsprechenden Leistungen zur Verfügung. § 20 SGB II erlaubt ebenso wenig wie § 28 SGB II eine von den Regelsätzen abweichende Zumessung der laufenden Leistungen nach der Besonderheit des Einzelfalles, wie es früher nach § 22 Abs. 1 Satz 2 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) möglich war. Eine Öffnungsklausel im Bezug auf die individuelle Bedarfssituation des Antragstellers sieht das Gesetz nicht vor.“

Spezifisch wurde dies dann auch nochmal aufgrund der bis dahin erfolgten Rechtsprechung [4] einiger Landessozialgerichte in § 23 Abs. 1 Satz 4 ergänzt, der da lautet

„Weitergehende Leistungen sind ausgeschlossen“ [5].

Auch wenn die Eröffnung des Darlehensweges wegen der Rückzahlbarkeit für die Betroffenen ohnehin eine absurde Rechtsprechung darstellte, da es ja in der Regel nicht um einmalig oder selten auftretende übermäßige Kosten für Regelleistungsanteile ging und geht, sondern um von der Regelleistung nicht erfaßte Bedarfe, wie eben der Schulbedarf oder (bis 1. August 2006) die Babyerstausstattung usw., so ist nunmehr endgültig klargestellt, daß der Gesetzgeber in Verweigerung einer Öffnungsklausel wie bei § 28 Abs. 1 S. 2 SGB XII das verfassungswidrige Ausbluten der Alg II-Bezieher will, insbesondere durch eklatante Verletzung der mit den Grundgesetzartikeln 6 (Schutz der Familie) und 7 (allgemeine Schulpflicht) verbundenen Pflichten des Gesetzgebers – von der an der Menschenwürde orientierten letzten Sicherung des Existenzminimums hin zum Zwang zur Arbeit um jeden Preis und zu jedem Preis.

 

Aufweitung analog § 28 SGB XII

Diese Lösung ist verfassungsrechtlich die gebotene, wurde aber vom Gesetzgeber zumindest für die Zeit nach dem 1. August 2006 einfachgesetzlich („Fortentwicklungsgesetz“) ausgeschlossen. Damit können die Fachgerichte nicht mehr eine verfassungskonforme Auslegung vornehmen, sondern müßten gemäß § 100 GG einen Vorlagebeschluß an das BVerfG machen.

 

Erweiternde Auslegung § 23 Abs. 1 SGB II

Diese Lösung scheidet zum Beispiel bei vorhersehbar jahrelangen Sonderbedarfen wegen der mit der Schulpflicht verbundenen Kosten schon per se aus, ist aber durch die Einfügung von Satz 4 in § 23 Abs. 1 SGB II einfachgesetzlich (spätestens seit dem 1. August 2006) verbaut.

Auch die ergänzende Regelung Nullermessen nach § 44 SGB II, die hinsichtlich der Schulkosten das Sozialgericht Berlin [6] bevorzugt hatte, wäre zwar bei Schulbedarf, wenn sofort und auf Dauer auf die Aufrechnung des Darlehens verzichtet würde, eine Möglichkeit gewesen, ist aber aufgrund der Rechtsänderung seit 1. August 2006 und dem klar bekundeten Willen des Gesetzgebers nicht mehr möglich.

 

§ 73 SGB XII

Dies ist der Weg, den das Bundessozialgericht in seiner Entscheidung vom 7. November 2006 im Verfahren B 7b AS 14/06 R anhand des Beispiels Umgangskosten eines Elternteils mit dem beim anderen Elternteil lebenden Kind getroffen hat, und welcher insofern auch für die Schulkosten maßgeblich wäre.

Aber, obwohl § 73 SGB XII besondere Leistungen an SGB II-Empfänger nicht grundsätzlich ausschließt, ist dieser vom BSG befürwortete Weg wegen seiner systemwidrigen und gegen § 5 Abs. 2 SGB II und § 21 SGB XII verstoßenden Vermengung der beiden Sozialhilfeleistungen abzulehnen. Oder wie es das Sozialgericht Berlin formulierte [6]:

„Ein Verweis auf die nicht vom Leistungsausschluss des § 5 Abs. 2 SGB II betroffenen ‚Hilfen in besonderen Lebenslagen’, insbesondere die dort angesiedelte Auffangvorschrift des § 73 SGB XII, kommt nicht in Betracht, da § 73 SGB XII nicht dazu dient, unzureichend ausgestalteten Regelsätze aufzustocken (vgl. Berlit, LPK-SGB XII, § 73 Rdnr. 6). Überdies ist § 73 SGB XII als bloße Ermessenvorschrift ausgestalten, was den hier in Streit stehenden Sonderbedarfen nicht gerecht wird.“

 

Zumindest für die Zeit ab dem 1. August 2006 hat der Gesetzgeber klar zu erkennen gegeben, daß er eine Aufweitung einzelner SGB II-Regelungen nicht will. Damit bleibt als einzig gangbarer Weg für die Zeit ab 1. August 2006 die Übernahme solcher Leistungen wie der Schulkosten durch einen entsprechenden Antrag beim Sozialhilfeträger gemäß § 73 SGB XII.

Dies gilt aber nur für Bedarfsgemeinschaften, d.h. wo entweder die Kinder mit ihren Eltern/Elternteilen zusammen oder alleine eine Bedarfsgemeinschaft bilden.

Im Falle des § 9 Abs. 5 SGB II, wo nicht hilfebedürftige Minderjährige mit hilfebedürftigen Erwachsenen/Eltern/Elternteilen zusammenleben, und den Kindern entsprechend der Rechtsprechung des LSG Niedersachsen gleichzeitig nicht die Freibeträge zugestanden werden, ergibt sich das Problem, daß für die Kinder, weil nicht bedürftig, auch nach § 73 SGB XII die Übernahme der Schulkosten nicht beantragt werden können, so daß dies zu Lasten der Regelleistung der Alg II beziehenden Eltern/Elternteils geht, die aber keinen mit der allgemeinen Schulpflicht verbundenen Bedarf für sich selber geltend machen können.

Soviel zum Thema Familie und Bildung in Deutschland.

Eltern sollten dennoch bis zum Bundesverfassungsgericht klagen, denn, daß das Bundessozialgericht zu feige war sowohl durchzuentscheiden als auch für einen Vorlagebeschluß an das Bundesverfassungsgericht sollte nicht entmutigen.

 

 

[Quellen;Links:]

[1] BGBl. I, 2006, Nr. 36, S. 1706 ff.

[2] BGBl. I, a.a.O., Artikel 1 Nr. 1a

[3] SG Schleswig, Beschluß vom 14. August 2006, Az.: S 3 AS 663/06 ER – zit.n. Rechtsprechungsdatenbank auf www.tacheles-sozialhilfe.de

[4] Beispiele: Herbert Masslau, Alg II-Optimierung: Gesetz gegen Gerichtsentscheidungen, http://www.HerbertMasslau.de/

[5] BGBl. I, a.a.O., Artikel 1, Nr. 22

[6] SG Berlin, Urteil vom 13. Oktober 2006, Az.: S 37 AS 12025/05 – hier sprach das Gericht dennoch nach dem 1. August 2006  der Klägerin für ihre schulpflichtigen Kinder 51,13 Euro pro Kind und Schuljahr für Schulmaterialien (ohne Schulbücher) in Anwendung der Darlehensregelung § 23 Abs. 1 SGB II bei gleichzeitigem Nullermessen wegen verfassungskonformer Auslegung zu – zit.n. Rechtsprechungsdatenbank auf www.tacheles-sozialhilfe.de 

 

 

 

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http://www.labournet.de/news/2007/donnerstag1801.html (am 18. Januar 2007)

 

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