Alg II : „angemessene KdU“ – Betroffene in Niedersachsen werden ausgebootet
(2. März 2006)
Aktualisierung:
Das Bundessozialgericht (BSG) hat am 18. Juni 2008 zum zweiten Mal die KdU-Rechtsprechung des LSG Niedersachsen-Bremen gekippt. Das LSG darf nicht schon deswegen auf die Tabelle § 8 WoGG zurückgreifen, wenn ein wenn auch nicht nach § 558d BGB qualifizierter Mietpreisspiegel vorliegt, und, es muß in jedem Falle auch geprüft werden, ob für den ermittelten "angemessenen" KdU-Preis auch ausreichend Wohnraum zur Verfügung steht (Az.: B 14/7b AS 44/06 R). Das BSG betonte dabei in der mündlichen Verhandlung, daß es eigentlich davon ausgehe, daß seine einschlägige Entscheidung vom 7. November 2006 klar gewesen sei.
Damit hat das BSG seine diesbezügliche Rechtsprechung fortgesetzt. Auch schon in seiner Entscheidung B 14/7b AS 70/06 R vom 27. Februar 2008 (Rdnr. 17) hat es (erneut) bemerkt, daß grundsätzlich bei den KdU "ein konkret-individueller Maßstab anzulegen" sei.
Damit dürfte auch der neuen, nach der BSG-Entscheidung vom 7. November 2006 vom LSG Niedersachsen-Bremen praktizierten Rechtsprechung (Tabellenwert § 8 WoGG plus 10 %) endgültig ein Riegel vorgeschoben sein.
(28. Juni 2008)
Aktualisierung:
Das Bundessozialgericht (BSG) hat am 7. November 2006 entgegen der Rechtsauffassung des LSG Niedersachsen-Bremen entschieden, daß eine pauschale Bestimmung der "Angemessenheit" der Unterkunftskosten anhand der Tabelle § 8 Wohngeldgesetz (WoGG) rechtswidrig ist; es hat eine Einzelfallprüfung bezogen auf den Wohnort und die personalen Verhältnisse stattzufinden (Az.: B 7b AS 10/06 R und B 7b AS 18/06 R [Zum Thema siehe meinen Artikel hier]).
Speziell zum LSG Niedersachsen-Bremen entschied das BSG:
„Das LSG hat hinsichtlich der Bestimmung der angemessenen Unterkunftskosten einen rechtlich unzutreffenden Maßstab gewählt, weil es – ohne weiteres – von den Werten in der Tabelle zu § 8 WoGG als fixen – quasi normativen Größen ausgegangen ist. … Ein solches Vorgehen entspricht jedoch nicht der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) sowie dem Sinn und Zweck des § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II.“ [BSG, Urteil vom 7. November 2006, Az.: B 7b AS 18/06 R, Rdnr. 17]
„Zwar ist dem LSG zuzugeben, dass die Rechtsprechung einzelner Oberverwaltungsgerichte – und insbesondere auch des OVG Lüneburg (… 12 LB 454/02 - …) – dem BVerwG in seiner Rechtsprechung zur Unanwendbarkeit der Tabelle nach § 8 WoGG teilweise nicht gefolgt ist. Ein solches Vorgehen kommt aber allenfalls dann in Betracht, wenn alle anderen Erkenntnismöglichkeiten und -mittel zur Ermittlung der Angemessenheit des Wohnraums iS des § 22 Abs 1 SGB II ausgeschöpft sind.“ [BSG, a.a.O., Rdnr. 18]
(11. Februar 2007)
Zu diesem Artikel veranlaßt hat mich die Tatsache, daß die Entscheidungen des 12. Senats und (weniger) des 4. Senats des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichtes (im Weiteren: OVG Lüneburg) zur Frage der „Angemessenheit“ der Unterkunftskosten bei der alten Sozialhilfe (BSHG) nicht nur in meinem eigenen Fall, sondern immer öfter auch beim Arbeitslosengeld II zur Bestimmung der „Angemessenheit“ der Kosten der Unterkunft (KdU) herangezogen werden.
Dabei werden die für die Betroffenen günstigen Entscheidungen des 4. OVG-Senats mehr oder weniger totgeschwiegen, hingegen die reaktionären Entscheidungen des 12. OVG-Senats, insbesondere dessen Entscheidung 12 LB 454/02, nicht nur in Göttingen, weil sich diese Entscheidung speziell auf den Göttinger Wohnungsmarkt bezieht, herangezogen.
Aktuell ist in Niedersachsen die Position der Betroffenen dadurch erschwert, daß es mittlerweile Entscheidungen des Landessozialgerichtes Niedersachsen-Bremen (im Weiteren: LSG Celle) gibt, die die Rechtsauffassung des 12. OVG-Senats übernommen haben (z.B. L 8 AS 36/05 ER; L 8 AS 138/05 ER; L 8 AS 181/05 ER).
Diese vom 8. LSG-Senat gefärbte Rechtsprechung zementiert zusehends die Auffassung, die rechte Spalte der Tabelle zu § 8 Wohngeldgesetz (WoGG) sei das non plus ultra für die Beurteilung der „Angemessenheit“ der Unterkunftskosten. Insofern käme es dann auch auf die Entcheidung des 12. OVG-Senats auf Dauer nicht mehr an. Gleichwohl hat sich das LSG Celle immer nur ansatzweise zur Frage der „Angemessenheit“ anhand der Wohngeldtabelle geäußert; es fehlt an einer fundierten Begründung, wie sie der 12. OVG-Senat zumindest, wenn auch falsch, versucht hat.
Damit sich Betroffene in Niedersachsen, selbstverständlich insbesondere im Raum Göttingen, ein eigenes Bild von dem machen können, was sich in amtlichen Bescheiden immer nur als Aktenzeichen darstellt, gebe ich nachfolgend die Links zu der Online-Datenbank des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichtes wieder, ferner einen Ausschnitt aus meinem Artikel „Zwangsumzug…“, der Auszüge aus Entscheidungen des 4. OVG-Senats enthält und die Übernahme dieser Rechtsposition durch das SG Osnabrück für das SGB II, sowie anschließend meine Kritik an der maßgeblichen Entscheidung des 12. OVG-Senats in meinen eigenen sozialgerichtlichen Verfahren wegen Umzugszwangs.
„… plädiert das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht für einen 10-prozentigen Aufschlag auf die Beträge der Tabelle § 8 WoGG, weil diese Beträge gegenüber den tatsächlichen Verhältnissen zu niedrig [!] seien:
„Der sich aus der Anwendung der Tabelle zu § 8 Abs. 1 WoGG ergebende Wert ist jedoch in gewissem Umfang anzupassen, weil er als solcher die jeweiligen Verhältnisse des örtlichen Wohnungsmarktes noch nicht realitätsnah abbildet. Es ist nämlich zu bedenken, dass ... die seit 1990 eingetretene Mietenentwicklung durch die Änderung der Tabelle nicht vollständig ausgeglichen worden ist, sondern im Durchschnitt nur etwa zur Hälfte. Um insoweit einen Ausgleich zu erreichen, müssen nach Auffassung des Senats die in der Tabelle aufgeführten Werte erhöht werden ... . Der Senat hält einen einheitlichen Zuschlag von 10 Prozent auf die jeweiligen Werte der zum 1. Januar 2001 geänderten Tabelle für angemessen.“ [OVG Lüneburg, Beschluß vom 25.10.2001, Az.: 4 MB 1798/01, zit.n. Version der Online-Datenbank]
Der 4. Senat des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichtes hat sogar noch einen draufgesetzt:
"Nach Auffassung des Senats spricht manches dafür, auch in Zukunft bei Neuvermietung ab dem 1. Januar 2001 den bereits erhöhten Tabellenwert nochmals um etwa 10 Prozent des Ausgangswertes anzuheben, denn auch die 'neuen' Tabellenwerte gründen auf Bestandsmieten und vernachlässigen die bei Wohnungswechseln bedeutsamen Zugangsmieten." [OVG Lüneburg, Urteil vom 28.7.2004, Az.: 4 LC 386/03, zit.n. Version der Online-Datenbank www.dbovg.niedersachsen.de]
Dem hat sich inzwischen das Sozialgericht Osnabrück für das SGB II angeschlossen:
"... dieser Wert [=Tabellenwert § 8 WoGG, H.M.] um einen Zuschlag von 10% zur Berücksichtigung der insgesamt eingetretenen Mietenentwicklung und um einen weiteren Zuschlag von 10% zur Berücksichtigung der üblichen Aufschläge bei Neuvermietung ab dem 1. Januar 2001 zu erhöhen ist." [SG Osnabrück, Beschluß vom 23.6.2005, Az.: S 22 AS 204/05 ER, zit.n. der Rechtsdatenbank auf www.tacheles-sozialhilfe.de]“
Kritik am 12. OVG-Senat:
Der nachfolgende Text stellt meine Kritik dar an der Entscheidung des 12. OVG-Senats des OVG Lüneburg im Verfahren 12 LB 454/02. Es handelt sich um eine Wiedergabe gleichlautender Passagen aus Schriftsätzen in meinen eigenen Verfahren S 35 AS 349/05 (SG Hildesheim), S 43 AS 764/05 ER (SG Hildesheim) und L 7 AS 267/05 ER (LSG Celle):
1. Die OVG Lüneburg-Entscheidung 12 LB 454/02 gibt entgegen der Behauptung des Ag. nichts her bezüglich 4- und Mehrpersonenhaushalte. Im Gegenteil, es ist immer wieder dort die Rede von „kleinen Wohnungen“; maximal hält der 12. OVG-Senat anhand der berücksichtigten Gutachten die Versorgung mit Wohnungen für 2- und 3-Personenhaushalten für ausreichend, was aber nicht Entscheidungsgegenstand war.
2. Es bleibt bisher unberücksichtigt, daß der Göttinger Wohnungsmarkt von studentischem Wohnraum geprägt ist. Gerade wegen des fehlenden Wohnraum-angebotes für Familien hat das Studentenwerk in Göttingen hier eine Vielzahl von Familienwohnungen errichten lassen, die aber nur zugänglich sind, wenn mindestens ein Mitglied der Familie studiert.
Das Göttinger Studentenwerk bietet mit 5.000 Wohnplätzen bei 15.000 in Göttingen wohnenden Studenten einem Drittel einen Wohnplatz. Damit ist ein Großteil des Göttinger Wohnungsmarktes Nichtstudentenhaushalten gar nicht zugänglich. Dies wird an keiner Stelle vom 12. OVG-Senat berücksichtigt.
Zwar betont die Entscheidung des 12. OVG-Senats immer wieder die angebliche Entspannung auf dem Göttinger Wohnungsmarkt durch die sinkenden Studenten-zahlen, nirgends wird aber dargelegt, wie groß der Anteil der Wohnungen, die nur für Studenten vorgehalten werden, am Gesamtwohungsangebot ist. Dabei zählen hierzu nicht nur die Wohnungen des Studentenwerks, sondern auch die Wohnungen, die privat für Studenten vorgehalten werden (z.B. Neubauten Zimmermannstraße).
Auch läßt der 12. OVG-Senat den Anteil an Altenwohnungen („betreutes Wohnen“) und an Eigentumswohnungen und Eigenheimen für Besserverdienende außer Acht; dies ist für die Zugänglichkeit auf dem Wohnungsmarkt von Bedeutung und nicht die nackte Zahl.
Im Übrigen ist die Zahl der in Göttingen wohnenden Studenten in den letzten 5 Jahren konstant bei 15.000 geblieben, ebenso die Zahl der Einwohner mit 129.000 (Anlagen …). Die Anzahl der Studenten insgesamt ist in den letzten 5 Jahren leicht gestiegen (Anlage …); wie der 12. OVG-Senat zu sinkenden Studentenzahlen kommt, ist mir nicht klar.
Der 12. OVG-Senat macht seine Entscheidung in der Begründung sogar derart abhängig von den sinkenden Studentenzahlen, daß ein Ansteigen derselben die ganze Gerichtsentscheidung sofort als obsolet erledigt.
Auch macht sich der 12. OVG-Senat nicht die Mühe, abstrakte Statistik und reale Entwicklung auseinanderzuhalten: Während in den letzten 5 Jahren die „amtliche Statistik“ – was auch immer das bedeutet – ein Sinken der Einwohner mit Haupt-wohnsitz von 125.000 auf 123.000 verzeichnet, bleibt die Einwohnerschaft mit 129.000 im selben Zeitraum konstant (Anlagen…). Hätte sich das Gericht nur ein bißchen im Denken gemüht, wäre es darauf gekommen, daß reale Wohnungen nicht an abstrakte Statistikmodell-Bewohner, sondern an reale Menschen vermietet werden; es hätte die Differenz aufklären müssen.
3,8% angeblichen Wohnungsleerstandes sind dem 12. OVG-Senat so bedeutend, daß er seine Entscheidung damit begründet. Die 5.000 Studentenwerks-Wohnplätze, die an einer Gesamteinwohnerschaft von 129.000 ebenfalls 3,8% ausmachen, bringen den 12. OVG-Senat nicht dazu, darüber nachzudenken, welcher Wohnraum Nichtstudenten überhaupt zugänglich ist. Auch wird gar nicht gefragt, um welchen Wohnraum es sich handelt; darunter dürfte durchaus auch Wohnraum gewesen sein, der vom Bauzustand her unzumutbar ist. Ebenso werden soziale Aspekte völlig ausgeblendet, so, als gäbe es nicht die berüchtigten Straßenzüge und Wohn-gegenden.
Daß die Entscheidung des 12. OVG-Senats durch Urteil des BVerwG vom 31. August 2004 (Az.: BVerwG 5 C 8.04) revisionsrechtlich bestätigt wurde, macht die hier von mir vorgetragene Kritik an der OVG-Entscheidung nicht obsolet, da das BVerwG in seiner Entscheidung selber betonte, daß es bei der Revision an die Sachermittlung des OVG gebunden sei.
3. Der Versuch des Ag., die von mir angesprochene OVG Lüneburg-Entscheidung 4 LC 382/03 mit der schon erwähnten Entscheidung 12 LB 454/02 zu kontern, schlägt fehl, weil in der Entscheidung 4 LC 382/03 selber auf die Entscheidung 12 LB 454/02 Bezug genommen und diese vom 4. Senat als nicht im Widerspruch stehend benannt wird; der Grund dafür liegt darin, daß es in beiden Entscheidungen um Wohnraum von vor dem 1. Januar 1966 ging, also eben nicht um Wohnraum, für den die Zuschläge auf die neuen Tabellenwerte ab dem 1. Januar 2001 von Bedeutung sind.